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Riesen-Chaos Juli 20, 2020, 20:23

Posted by Lila in Land und Leute.
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Was ist nur los hier? Vielleicht hat die ewiglange Hängepartie bis zur Regierungsbildung Netanyahu und seine Minster (aller Parteien) erschöpft? vielleicht haben sie alle geglaubt, die Corona-Krise ist vorbei, und sich anderen, „wichtigeren“ Dingen zugewandt? Es ist klar, daß die strikten Maßnahmen, die wir im Februar oder März hingenommen haben, weil sie Krise frisch war und alle hofften, sie ginge schnell vorbei, jetzt nicht mehr fassen können. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die versprochenen Gelder sind nur bei wenigen angekommen, und dementsprechend ist die Bereitschaft der Bevölkerung, sich wieder in einen strikten Lockdown einschließen zu lassen, sehr gering. Viele tragen Mundschutz (zumindest in meiner kleinen Welt ist die Zahl der Mundschutz-Verweigerer minimal), aber alle haben Angst, daß Geschäfte, Restaurants und Einrichtungen aller Art wieder geschlossen werden – auch pädagogische. Denn daß wir dann nicht entschädigt werden, sondern weiter hohe Abgaben zahlen müssen, während kein Geld mehr reinkommt, das haben wir jetzt begriffen.

Es ist bestimmt nicht einfach, die richtige Strategie zu fahren – aber die Regierung macht im Moment einfach alles falsch, fast wie aus Bock. Die Minister beharken sich, und absurde Vorschläge werden von Netanyahu vorgebracht, als würden sie alle Probleme lösen: alle Bürger kriegen eine einmalige Zahlung von 750 Shekel – das sind keine 200 Euro. Das Gießkannen-Prinzip, noch dazu sinnlos – das Geld soll schnell ausgegeben werden und „die Wirtschaft ankurbeln“. Inzwischen, nachdem die Kritik an der Idee einhellig war, wird die Idee ein bißchen modifiziert – wer viel verdient, soll das Geld nicht bekommen, wer sehr wenig verdient, noch ein bißchen mehr. Viel sinnvoller wäre es, an der Einkommens- oder Mehrwertsteuer zu schrauben, Strom- oder Wasserpreise zu senken o.ä., zumindest für ein paar Monate. Das würde auch viel Geld kosten, aber es wäre nicht nur ein einmaliges Bonbon.

Mir fällt dabei das Gedicht von Anna Louisa Karsch ein, die ein Geldgeschenk Friedrichs des Großen zurücksandte:

„Zwei Taler gibt kein großer König,
den sie erhöhen nicht mein Glück;
Nein, sie erniedern mich ein wenig,
Drum send‘ ich sie zurück.“

Als Beispiel für das typische Hin und Her – die Restaurants. Letzten Freitag hieß es: die Restaurants werden wieder geschlossen (obwohl keine Beweise vorliegen, daß sich dort viele Menschen angesteckt haben). Die Gastronomiebranche war entsetzt und empört – sie hatten gerade erst wieder aufgemacht, hatten schon Waren fürs Wochenende bestellt und waren überhaupt nicht auf eine so schnelle Schließung vorbereitet. Es gab spontane Demonstrationen und große Solidarität mit den Mitarbeitern. Da ruderte die Regierung schnell zurück – bis Dienstagnachmittag (also morgen) dürften die Restaurants offen bleiben, dann schließen, hieß es. Heute hat sich das wieder geändert – sie dürfen nur noch draußen bewirten. Oder drinnen. Ich weiß es nicht mehr. Die Entscheidung ist noch offen.  Aber Restaurantbesitzer sollen mit diesen sich ständig ändernden Informationen ein Geschäft führen, Angestellte entlassen oder wieder einstellen, Waren bestellen oder wegwerfen – alle hängen mit dem Ohr am Radio, um zu wissen, was erlaubt und was verboten ist. Das ist komplett verantwortungslos.

Auch die Sommer-Aktivitäten für Kinder (Sommerschulen, Sommercamps etc) stehen ständig in der Diskussion, vom anstehenden neuen Schuljahr ab 1. September ganz zu schweigen. Für die Eltern ist das eine Frage von Sein oder Nichtsein – wegen Corona fallen bekanntlich Oma und Opa aus, und wenn die Kinder in den langen Sommerferien nicht irgendwo betreut werden, können die Eltern nicht arbeiten. (Israelis haben deutlich weniger freie Tage als Deutsche, und die Sommerferien sind gefürchtet, weil sie von Ende Juni bis zum 1.9. dauern).

Für uns bedeutet das, daß die Kindergärtnerin uns jeden Morgen die neusten Anweisungen durchgibt. Noch ist klar, wir machen weiter, und ich glaube, das Letzte, woran Netanyahu sich jetzt wagen würde, wären die Sommer-Angebote für Kinder. Er weiß, daß die ohnehin schon mental und finanziell überlasteten Familien es nicht schaffen würden, wenn ein Elternteil ausfiele – von den Alleinerziehenden ganz zu schweigen.

Heute abend packten in Tel Aviv in einer Halle bekannte Künstler Pakete mit Lebensmitteln für die unbekannten Mitarbeiter der Entertainment-Industrie. Aviv Geffen erzählte, daß er täglich Anrufe von notleidenden Menschen erhält, deren Einkünfte weggebrochen sind, seitdem es keine Konzerte, Theater und andere kulturellen Angebote mehr gibt. Und staatliche Hilfe gibt es für Freelancer nicht, oder nur so gering, daß man davon nicht wirklich leben kann.

Wofür ist Geld da? Nicht nur eine abstrus aufgeblähte Regierung mit 36 Ministern samt Vize-Ministern – Netanyahu fordert alle möglichen Begünstigungen auch für die Zeit, in der Benny Gantz PM werden soll (na wenn wir das je erleben). Die Bewegung der Schwarzen Flaggen demonstiert gegen ihn, das Volk ist wütend, und unter Druck macht Netanyahu keine gute Figur.  Viele kompetente Leute hat er vergrault, viele wichtige Posten rein politisch mit Jasagern oder Opportunisten besetzt, und sein Privatkrieg gegen das Justizsystem hilft nicht. Bombastische Ankündigungen wie die „Annektion“ am 1.7. sind destruktiv und peinlich, denn am Ende wird nichts daraus (wie aus so vielen anderen Ankündigungen Netanyahus – wo ist der neue Ort auf Trumps Namen, wo die vielen neuen Siedlungen, die er angekündigt, aber nie gebaut hat? wo das Geld, das angeblich jeder kriegen sollte, der in unbezahlten Urlaub geschickt wurde?).

Wie es weitergehen wird? Hoffentlich reißen sich bald alle zusammen. Tova Lazaroff und Haviv Rettig Gur verlinke ich mal, wenn jemand aus berufenerem Munde als meinem verstehen möchte, wie Israel in dieses Chaos geraten ist. Ja, ich verstehe, daß es schwierig ist, diese Krise über Monate hinweg zu managen, während die anderen Herausforderungen ja nicht verschwinden. Aber muß es eine Kette von ad-hoc-Entscheidungen sein, die widerrufen werden, bevor sie noch bis zum letzten Radiohörer durchgedrungen sind?

So geschehen Juni 7, 2020, 19:10

Posted by Lila in Land und Leute.
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Heute nach der Arbeit, ich sitze am Busbahnhof in Nahariya, einem tristen Ort, auf einer Bank. In einiger Entfernung von mir eine junge Frau mit Mundschutz. Sie sieht aus wie ein orientalisches Schneewittchen. Sie murmelt ärgerlich vor sich hin und beschließt wohl, daß ich der richtige Mensch bin, ihren Frust rauszulassen.

Schneewittchen: Ist das zu glauben, eine ganze Stunde! Eine ganze FUCKING Stunde warte ich hier auf den Bus! Unmöglich! Kannst du dir das vorstellen?

Ich: Vermutlich fährst du sonst mit dem Auto? Habe ich mir gedacht. Leute, die immer Bus fahren, wie ich, finden eine Stunde Wartezeit nicht schlimm. Erst ab anderthalb Stunden nervt es. Aber du hättest besser in einem Cafe gewartet als hier.

Schneewittchen: So? Na, gut daß ich ein Auto habe. Bist du Kibbuznikit? Du klingst, als wärst du aus einem Kibbuz.

Ich (erfreut, daß ich endlich mal nicht wie ne Ausländerin klinge): Ja, bin ich, auch wenn wir nicht mehr im Kibbuz leben.

Schneewittchen: Und guck mal, wie wir jetzt dasitzen, mit diesen bescheuerten Masken. Als würde das was nützen.

Ich: Ja, und es sieht so aus, als würde die zweite Welle tatsächlich kommen.

Schneewittchen: Die 2. Welle, das sag ich dir, die wird schlimmer als die erste. Wir werden uns noch nach der ersten sehnen. Es gibt viel mehr Infizierte, als die Medien berichten. Es wird viele Tote geben.

Ich: Oh, das will ich doch nicht hoffen.

Schneewittchen: Und warte mal, bis die 3. Welle kommt. Dann wird es ganz schlimm. Dann kriegen wir es alle, und dann wird man es uns auch ansehen.

Ich: Wie werden wir dann aussehen?

Schneewittchen: Wie Mumien. Wie Zombies. Das Virus wird uns von innen auffressen.

Ich (taktvollerweise übergehend, daß Mumien und Zombies nicht gleich aussehen): Wirklich?

Schneewittchen: Ja, und dann hilft nur noch Chlor.

Ich: Zum Desinfizieren?

Schneewittchen: Als Behandlung. Das machen die jetzt schon. Jeder, der Corona hat, kriegt Chlor gespritzt. Unverdünnt.

Ich: [sprachlos]

Schneewittchen: Ah, da ist ja der Bus. Tschüs, und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe!

Ich: Tschüs, und nein, ich vergeß es bestimmt nicht…

 

Ich habe nicht dazugesagt: … allein schon, weil ich das alles in meinem Blog aufschreiben werde, auch wenn es mir keiner glaubt.

 

Nun doch Mai 31, 2020, 19:23

Posted by Lila in Land und Leute.
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Leider höre ich doch wieder Nachrichten – eine zweite Corona-Welle kündigt sich an, und zwar in pädagogischen Einrichtungen, also geht es mich an und ich möchte wissen, wie die Anweisungen entstehen, die wir jeden Tag umsetzen. Bisher betrifft es überwiegend Jerusalem, Tel Aviv und den Süden – aber man weiß nicht, ob nicht auch im Norden Schüler und Lehrer sich anstecken

Und leider steigt mir sofort der Blutdruck bei den politischen Nachrichten. Die gigantisch aufgeblasene Regierung mit ihren Fantasie-Ministerien hat beschlossen, das Budget besonders des Sozialministeriums zu kürzen, damit sie Geld für diese komplett überflüssigen neuen Ministerien hat. Sprich: Arbeitslose, sozial schwache Familien und Rentner bezahlen für diese komplett lächerlichen neuen Minister. Ich spüre den Zorn in Wellen. Itzik Shmuli und Miri Regev sprachen sich zwar wortreich dagegen aus – stimmten dann aber doch dafür.

Ich muß das wieder ausmachen, ich kann einfach nicht glauben, daß aus diesen endlosen Verhandlungen eine solche Albtraum-Regierung entstanden ist. Überall, nicht nur in Nahariya, gehen die kleinen Geschäfte pleite, doch kein Geld ist übrig für ihre Rettung – das muß die Ministersessel für Orly Levy und Yariv Levin zahlen. Guckt Euch die Liste selbst an. Besonders ärgerlich „Minister ohne Portfolio“ und die vielen Vize-Minister. All diese Leute verdienen für den Rest ihres Lebens gut und kriegen dicke Pensionen. An jedem Ministerium hängen Mitarbeiter, Reisebudget etc. Es kostet Millionen von Shekeln.

Nein, ich komme nicht darüber hinweg. Benny Gantz ist eine Nulpe. Wie können er und seine Leute das mitmachen? War das wirklich der einzige Weg, eine Regierung zu bilden?

Ich bin eine miserable Prophetin März 27, 2020, 3:13

Posted by Lila in Land und Leute, Uncategorized.
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Ich hätte eher geglaubt, daß Benny Gantz mit der arabischen Joint List koaliert oder daß jemand im Likud einen Aufstand macht (obwohl das in den letzten Monaten unwahrscheinlich wurde, weil Bibi alle Konkurrenten matt gesetzt hat), als daß er bei Netanyahu unterkriecht. Die letzten Wochen waren extrem unübersichtlich – nachdem wieder mal keine Partei einen echten Sieg feiern konnte (manche es aber trotzdem taten, wohl in dem Wunsch, eine so-gut-wie-Niederlage zu kaschieren), schaffte Gantz sich eine Mehrheit, und zwar durch die Unterstützung der Joint List. Diese Liste ist problematisch, nicht weil es Araber sind (die es in anderen Parteien auch gibt), sondern weil sie aus vier Mini-Parteien besteht, von denen mindestens zwei extreme anti-israelische Ansichten vertreten und keine Absicht haben, irgendwelche echte Verantwortung zu übernehmen.

Aus Knesset-technischen Gründen war Gantz´ Taktik, Bibi aus dem Sessel zu heben, davon abhängig, den geschäftsführenden (also nicht neu gewählten) Sprecher der Knesset auszutauschen und durch ein Blau-Weiß-Mitglied zu ersetzen. Der Sprecher wehrte sich dagegen und trat schließlich nach einem unwürdigen Spektakel ab. Benny Gantz hat diese Rolle jetzt übernommen, nur für kurze Zeit, bis die neue Koalition steht. Dadurch, daß Gantz jetzt auf einmal bereit ist, mit Netanyahu zusammenzuarbeiten (was er sich vor einem Jahr schon hätte überlegen können), hat dieser eine breite Koalition von rechten und ultra-orthodoxen Parteien. Gantz´ Parteienbündnis Blau-Weiß ist damit zerbrochen. Gantz und Ashkenazi gehen mit Bibi, Bogie und Yair Lapid gehen in die Opposition (sie haben beide bereits als Minister unter Bibi gedient und wissen wohl, warum ihnen die Opposition lieber ist).

Eigentlich sollte ich zufrieden sein, denn in der Albtraumsituation mit Corona-Virus, landesweitem Hausarrest und echten Ängsten braucht das Land eine Regierung, die breit aufgestellt ist, nicht bei jeder Abstimmung um ihre Mehrheit bangen muß, und die sich um die unabsehbaren sozialen, wirtschaftlichen und menschlichen Folgen dieser Pandemie kümmert. Es war auch klar, daß Gantz schon mehrmals beinahe klein beigegeben hätte, und daß nur äußerster Druck von Lapid ihn auf der Anti-Bibi-Linie hielt. Sie haben wohl vor dem Zusammenschluß, den ich grundsätzlich begrüßenswert fand, doch nicht bis zu Ende durchdiskutiert, wie weit sie bereit sind, auf Macht zu verzichten, um Bibi nicht zu stützen. Oder Gantz hat Lapid getäuscht. Oder er hat sich in sich selbst getäuscht. Auf jeden Fall enttäuschend.

Hätte Gantz seine Potemkinsche Mehrheit dazu benutzt, Bibi echte Zugeständnisse abzuringen, hätte man noch sagen können, das Wahlergebnis wird doch noch irgendwie anerkannt. Aber Gantz hat versucht, mit allen Tricks, die zwar rechtlich, aber unschön sind, Bibi zu ersetzen, um dann unvermittelt und überraschend doch bei Bibi unterzukriechen. Er kann bis morgen früh beteuern, daß er es wegen des Virus getan hat und dies eine Notstandsregierung ist, aber er hat potentielle Verbündete brüskiert – von Lieberman, der ihn unterstützt hat, bis zur Joint List. Es hat noch niemandem gutgetan, auf Liebermans schwarze Liste zu kommen, wie Bibi bezeugen kann.

Jetzt können Gantz und Ashkenazi mit den Überresten ihrer bis heute Abend starken Partei als Juniorpartner von Bibi mit Posten versorgt werden. Die Kräfteverhältnisse, die Blau-Weiß herausgefordert und in Frage gestellt haben, sind wiederhergestellt. Und wird Bibi tatsächlich den Sessel für Gantz räumen? wie wird Gantz dastehen, wenn Bibis Prozeß anfängt, nachdem er anderthalb Jahre lang beteuert hat, mit einem PM unter Anklage niemals zusammenzuarbeiten?

Wer Gantz gewählt hat, hat das nicht etwa getan, weil Blau-Weiß eine inhaltliche Alternative zu Bibi geboten hätte. In vielen Punkten sind die beiden Parteien fast deckungsgleich. Wer Gantz gewählt hat, hat das getan, um ein weiteres Mal Bibi zu verhindern. In allen drei Wahlen war die Alternative entweder „rak Bibi“ (nur Bibi) oder eben „rak lo Bibi“ (alles nur nicht Bibi). Gantz hat nicht ein einziges Mal gesagt: „unter bestimmten Umständen könnte es natürlich auch nötig sein, mit Bibi zu koalieren, um das Land regierbar zu machen“ oder so. Nein, er hat immer gesagt: alles nur nicht Bibi.

Er hat also, wie Lapid ganz richtig gesagt hat, die Stimmen der rak-lo-Bibi-Wähler genommen und sie Bibi zugeschlagen. Die Wähler werden ihm das vermutlich nicht verzeihen. Lapid selbst hat auch an Glanz verloren, er hat Zugeständnisse an Gantz gemacht, obwohl er schon länger in der Politik Erfahrung hat und eigentlich gern selbst PM-Kandidat geworden wäre. Falls Gantz nicht elend untergeht, ist durchaus möglich, daß die beiden mal gegeneinander antreten werden.

Für uns Mitte-links-Israelis ist wieder eine Hoffnung den Bach runter, Bibi ersetzt zu sehen. Nicht als würde ich Bibis Verdienste nicht anerkennen – ich bin weit davon entfernt, und so eitel auch seine Corona-Auftritte im Fernsehen sind, so vernünftig ist insgesamt die Reaktion der Regierung auf die Bedrohung, auch wenn das von Bibi brutal kurzgehaltene Gesundheitssystem jetzt, wie in anderen Ländern auch, unter der Last zusammenbrechen könnte. Die Maxime, daß sich Medizin rentieren muß, läßt sich nur aufrechterhalten, wenn möglichst viele Leute möglichst gesund sind. Aber Maßnahmen wie Schließung der Grenzen, Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Bürger etc waren gut erklärt und wurden auch zum bestmöglichen Zeitpunkt umgesetzt, zumindest aus heutiger Sicht betrachtet (später werden wir das vielleicht anders sehen). Bibi hat Israel aus vielen Konflikten rausgehalten, dem Iran gegenüber nicht schlecht gepokert, hat außenpolitisch viele Erfolge gefeiert. Ja, er hat Israels Flagge so fest an Trumps Mast genagelt, daß wir es noch bereuen werden (falls wir es nicht schon bereuen), er hat sich auch mit problematischen Herrschern eingelassen, und er hat Israel gefährlich abhängig von China gemacht – zB der Hafen in Haifa, direkt neben dem Hafen der Marine, erbaut und geleitet von Chinesen. Also ein gemischtes Resumee, besonders innenpolitisch eher negativ.

Ich sage immer: Bibi ist sehr gut in den Angelegenheiten, die ihn interessieren. Er ist ein sehr guter Wahlkämpfer und Redner, der sich im Scheinwerferlicht sonnt. Er ist gut in außenpolitischen Manövern und spektakulären Aktionen, mit denen Israel sein Überleben sichern muß. Dinge, die ihn nicht interessieren, wie Landwirtschaft, Gesundheit, Erziehung, Kultur, Tourismus etc werden vernachlässigt. Als Ressorts werden sie Politikern zugeworfen wie Fleischbrocken ins Krokodilgehege, egal, wer es aufschnappt. Auf Kritik reagiert er allergisch und emotional – man sieht ihn überhaupt nur emotional, wenn es um ihn selbst geht. Aber er ist ohne Zweifel der überragende israelische Politiker seiner Generation. Ich anerkenne das alles.

Wie wasserdicht die Anklagen gegen ihn sind, wird sich noch herausstellen, darum sage ich dazu nichts – bis seine Schuld bewiesen ist, hat auch er das Recht auf die Unschuldsvermutung. Viele der Vorwürfe gegen ihn, die nicht justiziabel sind, sind aber so peinlich, daß es für mich schon fast mehr keinen Unterschied macht, was beim Prozeß rauskommen wird – die fordernde Haltung den Millionärsfreunden gegenüber, die Sara eine Kette schenken, nur um zu hören, daß zu dem Set aber noch Armband und Ohrringe gehören. Bibi ist reich genug, um seiner Frau selbst Schmuck zu schenken. Bei solchen Geschichten erröte ich beim Lesen. Mit diesen Kleinlichkeiten im Hinterkopf kann ich Bibi nicht als großen Politiker sehen, denn dazu würde auch menschliche Größe gehören. Gantz weiß das alles.

Wir kennen Bibi mit seinen Vor- und Nachteilen, aber Gantz kennen wir nicht. Er war nicht schlecht als Ramatkal, alles wissen wir sowieso nicht, aber was er wirklich denkt und glaubt, wissen wir nicht. Das israelische Wahlvolk hat ihm dreimal enormes Vertrauen geschenkt. Er hat die Stimmen eingesammelt, die zu Herzogs Zeiten bei der Arbeiterpartei eingingen (wie die sich selbst systematisch ruiniert hat, steht auf einem anderen Blatt). Er hat das Mandat bekommen, Bibi abzulösen. Aber nicht, Bibis Ranzen zu tragen. Er wird dafür zahlen, ich weiß nicht, ob ihm das ganz klar ist.

Ich zweifle auch an seiner Intelligenz, denn selbst ein harmloser Mensch wie ich ist imstande, bei Bibi ein Muster festzustellen. Er lächelt am breitesten, wenn er dabei ist, jemanden zu demontieren. Alle Politiker, die sich von Bibi haben umarmen lassen, waren danach irgendwann beschädigt, entmachtet, blamiert, ausmanövriert oder einfach weg. Konkurrenten in seiner eigenen Partei hat er mit herzlichen Worten kaltgestellt, Bedrohungen aus anderen Parteien in seine Regierung genommen und dort scheitern lassen. Außer Bibi gibt es nur noch einen Mann in der israelischen Politik, der ähnlich giftig auf seine Bundesgenossen wirkt – Bibis Spiegelbild, Ehud Barak. Wer sich von Barak umarmen ließ, konnte gleich entscheiden, welchen VHS-Kurs er nach dem baldigen Ende der politischen Karriere belegen sollte.

Ich glaube nicht, daß Gantz überleben wird, wo Zipi Livni untergegangen ist. Auch Lapids Karriere hat einen Bibi-förmigen Knick. Nicht als ob Bibi nicht auch Schäden genommen hätte – er hat keinen überragenden Sieg mehr erringen können, aus vielen Gründen, aber u.a. auch, weil sich frühere Weggenossen von ihm abwandten und Stimmen mitnahmen.

Es ist ein Elend. Eine große Koalition zweier gleichberechtigter Partner hätte man noch irgendwie hinnehmen können. Aber ein Gantz, der unter einer ganzen Reihe von Koalitionsparteien auch mal Bibis Tasche halten darf, ist wirklich eine absolute Ohrfeige für seine Wähler. Ich war nie ein großer Lapid-Fan, obwohl ich die Regierung, an der damals beteiligt war, mochte – er hat exzellente Leute mitgebracht, und einen besseren Bildungsminister als Shai Piron hatten wir seitdem nicht mehr. Aber Lapid weiß, wie es sich anfühlt, von Bibi ausgetrickst zu werden – der hat ihm damals das Finanziministerium aufs Auge gedrückt. Das Angebot konnte Laipd nach einem „wo ist das Geld, Bibi?“-Wahlkampf nicht ausschlagen, aber er machte keine gute Figur – als Außenminister hätte er wohl deutlich mehr Punkte sammeln können, aber daran hatte Bibi kein Interesse. Doch Lapids Rede heute war gut, und ich mußte ihm leider Punkt um Punkt zustimmen.

Jetzt ist also Gantz dran. Entweder er wird Verteidigungsminister, wofür er qualifiziert ist, aber dann wird er wieder in die alte Rolle rutschen, die er als Ramatkal innehatte (Generalstabschef), nämlich Bibis Idee umzusetzen. Es wird ihm schwerfallen, dort Profil zu entwickeln (wie ihm Lieberman und Bogie Yaalon bestimmt erzählt haben, die haben es beide hinter sich).

Es ist auch möglich, daß Bibi ihn zum Außenminister macht. Ich weiß nicht, wie gut sein Englisch ist, aber seinen hebräischen Reden nach zu urteilen, brilliert nicht gerade mit Beredsamkeit (was in meinen Augen kein Nachteil ist). Bibi macht seine Außenpolitik am liebsten selbst.

Egal was Gantz von Bibis Gnaden nun wird, ich glaube nicht, daß er gedeihen wird.

Immerhin, wir haben eine Regierung, und das ist eine Erleichterung. Aber auf dem Weg dahin sind so viele Wortbrüche und Tricksereien begangen worden, daß ich mich nicht freuen kann.

(Über den Vermittler, der wohl die ganze Zeit Draht sowohl zu Bibi als auch Gantz hatte, in der JPost)

Unglaublich März 9, 2020, 8:54

Posted by Lila in Land und Leute.
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Ich höre gerade ein Radiointerview mit einem Aktivisten aus Ost-Jerusalem. Er setzt sich dafür ein, die von der Stadtverwaltung Jerusalem angestrebte Einigung in Sachen ungenehmigtes Bauen durchzusetzen. Da in Ost-Jerusalem sehr viele Häuser ohne Genehmigung gebaut werden, und immer wieder Häuser abgerissen werden, hat sich eine ganze Industrie gebildet, die davon profitiert. Anwälte aus Ost-Jerusalem versprechen den Bewohnern und Bauherrn eine Lösung, die zahlen viel Geld, das Haus wird am Ende abgerissen und rundherum stehen Vertreter von NGOs, die die Bilder verteilen und verkaufen.

Die Stadtverwaltung strebt an, so viele nachträgliche Genehmigungen wie möglich zu erteilen, aber dazu braucht es Kooperation von den Bewohnern Ost-Jerusalems. Ein Mann namens Daoud Sian (nach Gehör geschrieben), der selbst von Anwälten über den Tisch gezogen wurde, möchte vermitteln. Jetzt bekommt er Todesdrohungen. Zu viele verdienen an der Situation, um einer Lösung zuzustimmen. Und mit der „Verwaltung der Besatzung“ konstruktiv zusammenzuarbeiten ist natürlich Anathema. Lieber Gesetze brechen, lieber leiden, lieber Widerstand.

Es ist eine verrückte Welt. Und diese konsequente Bevorzugung von Chaos und Gewalt statt Pragmatismus und Kompromißfähigkeit wird den Palästinensern nichts einbringen. Die Daoud Sians dieser Welt geraten unter die Räder. Und das ist schade.

Wahlen, Wahlen, Wahlen März 3, 2020, 18:03

Posted by Lila in Land und Leute.
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So, der dritte Versuch, eine regierungsfähige Mehrheit zusammenzubringen, fand gestern statt. Bibi hat Blau-Weiß überholt, und über die Gründe für diese Verschiebung muß ich noch nachdenken und auch mal schreiben. Ganz zu schweigen von den Verschiebungen in den linken Parteien. Es ist aber immer leichter, mir kurz per Twitter Luft zu machen, als mich wirklich mal hinzusetzen und ordentlich zu bloggen 😀 So lebe ich in der Illusion, daß ich vieles geschafft kriege, trotz Internet!

Noch weiß keiner, wie Bibi seine Regierung zusammenschraubt. Es ist wie ein kompliziertes 3-D-Puzzle. Alle Parteien um ihn herum haben Erklärungen und Wahlversprechen abgegeben, die jede Koalition unmöglich machen (weswegen ja wieder und wieder gewählt werden mußte). Lieberman will weder mit den Religiösen noch mit der arabischen Joint List. Joint List will in keine Koalition eintreten. Die Religiösen wollen weder mit Lapid noch Lieberman. Blau-Weiß und die Avoda-Gesher-Meretz-Gruppe schließen eine große Koalition nicht aus, aber nur unter einem Vorsitzenden, der nicht wie Netanyahu unter Anklage steht. Und so kann auch Bibi mit seinem Vorsprung an Stimmen und Mandaten ohne Koalitionspartner nicht regieren. Er wird versuchen, „Überläufer“ aus anderen Parteien zu rekrutieren, doch die möglichen Ansprechpartner haben alle versichert, daß sie da bleiben, wo sie sind.

Der Wahlkampf war so unbeschreiblich schmutzig und gemein, daß ich dafür mal extra Zeit brauchen werde. Drückt mir die Daumen, daß ich morgen diese Zeit finde. Ich bin einerseits ständig mit dem Ohr in den Nachrichten, um zu hören, was es Neues gibt, andererseits habe ich es SATT SATT SATT.

Der Kommentar meines Mannes zum Trump-Vorschlag Januar 30, 2020, 18:54

Posted by Lila in Land und Leute, Presseschau, Uncategorized.
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„Trump hat Bibi in eine Lage gebracht, die Bibi eigentlich nicht paßt. Bibi ist zwar groß im Deklarieren und Ankündigen, aber eigentlich tut er lieber nichts und wartet ab, wie sich die Dinge entwickeln. Er ist eher ein Zögerer als ein Beweger. Jetzt steht er aber unter Druck, weil Trump ihn den Plan mit einigen Bonbons schon im Voraus angenehm gemacht hat – rein symbolische Akte wie der Umzug der Botschaft und die Erklärung zu den Golanhöhen. Bibi kann also nicht einfach sagen: ein Staat Palästina – nicht während meiner Regierungszeit, auch wenn er es vielleicht gern würde.

Israel hat eigentlich kein wirkliches Interesse an einer Annektion von Gebieten, in denen wir sowieso die Sicherheit unter Kontrolle haben. Warum die Lage aufrühren? Auch Bibi hat daran eigentlich kein Interesse, aber die Parteien rechts von ihm fordern es.

Auch der Gebietstausch mit den Palästinensern würde Israel schwerfallen. Auf der Trump-Karte sollen Gebiete im Westnegev abgetreten werden, und das Wadi-Ara-Dreieck, im Austausch gegen Siedlungsgebiete im Shomron. Und jüdische Orte, die dann von Palästina umgeben sind? Lauter problematische Punkte, die Bibi nicht begrüßen kann, auch wenn er Trump über den Klee lobt.

Der Plan ist mehr lose-lose als win-win. Es kann sein, daß ich mich in Trump täusche, aber er hat in diesem Plan genügend „Honigfallen“ verborgen, für beide Seiten,  damit sich beide Seiten eigentlich zu Verhandlungen an den Tisch setzen müssen. Mein Eindruck ist, daß er mit diesen Lockversprechen Bewegung in die Sache bringen will. Bibi könnte es zwar als positiv darstellen und tut das schon, aber er möchte nicht in die Geschichtsbücher eingehen als der PM, der der Schaffung eines palästinensischen Staats zustimmt.

Die Palästinenser haben viel zu schnell reagiert, und das war ein Fehler. Sie hätten sagen sollen: danke für den Vorschlag, wir studieren jetzt erstmal den Plan und melden uns mit unseren Anmerkungen in vier Wochen. Sie haben Trump vor den Kopf gestoßen, und wenn er wiedergewählt wird, werden sie das noch bereuen. Er hat ihnen die Gelegenheit geboten, noch einmal einen Vorschlag abzulehnen, der viele Vorteile für sie hat. Abu Dis z.B. ist ihnen noch nicht angeboten, und Israel ist auch nicht begeistert davon. Sie haben sich weiter in ihrer Rolle als ewige Nein-Sager verschanzt, womit vorgezeichnet ist, daß in Zukunft entweder für sie unvorteilhaftere Pläne kommen, oder gar keine mehr. Und dann sitzen sie da mit ihrem Nein und ihrem Widerstand, aber einen Staat haben sie immer noch nicht.

Trump hat Abbas eingeladenund wollte, daß er am Plan mitarbeitet. Sogar das hat er abgelehnt. Er hat sein NEIN zu allen Vorschlägen Trumps schon heraustrompetet, als es den Plan noch gar nicht gab.

Nachdem die Palästinenser so oft die Möglichkeiten ausgeschlagen haben, einen Staat zu bekommen, gelangt der Rest der Welt vielleicht irgendwann zu dem Schluß, daß sie ihn anscheinend doch nicht sooo dringend brauchen? Sie haben schon die Unterstützung der arabischen Welt verloren, und obwohl die Europäer bestimmt die Letzten sein werden, die noch auf der Straße stehen und rufen: Palestine will be free from the river to the sea!, werden sie es vielleicht irgendwann auch satt haben und sich anderen Themen zuwenden. Schließlich geht es den Palästinensern ja nicht soo schlecht, zumindest im Vergleich mit anderen arabischen Staaten. Und es gibt so viele Probleme auf der Welt.

Trump hat diese Runde gewonnen. Er hat von allen vorherigen Vorschlägen Ideen übernommen und sowohl Bibi als auch Abbas in eine Situation gebracht, in der sie Farbe bekennen müssen. Verläuft die Sache im Sande, dann ist das auch nicht anders als bei den Vorschlägen von Clinton und Obama, Olmert oder dem Mifkad. Klappt es aber, könnte er den Friedensnobelpreis bekommen. Der ist schon für weniger vergeben worden.

Bibi lobt den Plan und tut so, als wäre er sein eigenes Traumszenario, denkt aber bestimmt schon darüber nach, wie er die Umsetzung verzögern kann. Abbas macht ihm das sehr leicht mit seiner kompletten Verweigerung. Bibi kann nun einfach sagen: also wir würden ja gerne, aber allein kann man nun mal nicht Frieden schließen… wie schade.

Mir fällt dazu ein Sprichwort ein. „Die Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter“. Trump hat gewisssermaßen gesagt: hier zieht eine Karawane, schließt euch an, wenn ihr wollt! Doch die Palästinenser bellen die Karawane an, die zieht weiter., und aus der Ferne hört man noch das Bellen. “

 

Also sprach mein Mann. Und es ist schade, daß er nicht mal vom deutschen Fernsehen interviewt wird. Finde ich jedenfalls.

 

Stürmische Tage Januar 10, 2020, 0:32

Posted by Lila in Land und Leute, Uncategorized.
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Die letzten Tage waren von der Sorte, die man im Rückblick nie auseinandersortiert kriegt. So eine Art Zeitsuppe, in der alles so zusammenkocht, das man es nicht auseinanderklamüsern kann.

Nach der Tötung Soleimanis – das Warten auf eine Reaktion. In ihren Drohungen erwähnen die Mullahs natürlich immer wieder Israel. Im Falle einer Eskalation sind wir dran, meinen sie. Logisch. Das sagen sie seit 1979, und daß der Angriff nicht schon längst gekommen ist, liegt nur daran, daß die Atomwaffen noch nicht fertig sind. In der Zwischenzeit behelfen sich die Iraner mit Unterstützung von Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah, die im Laufe der Jahre Israel immer wieder angegriffen haben. Doch alle wissen, daß Das Große Ding nur eine Frage der Zeit ist, und um noch eine Küchenmetapher zu bemühen – dieses Bewußtsein simmert meist so vor sich hin, und von Zeit zu Zeit kocht es richtig hoch und man starrt gebannt drauf – wird die Situation überkochen?

Während wir auf den nächsten Schachzug der Iraner warteten, die am Zuge waren, kündigte sich hier ein Riesen-Unwetter an. Meine Befürchtungen, der israelische Winter könnte sich in der Woche, die ich nicht hier war, erledigt haben, waren unbegründet. Alle bereiteten sich auf die Regenmassen vor – aber wenn es richtig schüttet, ist praktisch nichts zu machen. In den Städten bricht die Kanalisation zusammen, denn sie ist auf Jahrhundert-Unwetter nicht vorbereitet, besonders in älteren Stadtteilen nicht. Auf dem Land fließt das Wasser eher ab, aber da es hier vielfach nur eine knappe, magere Erdkrume über Fels gibt, sickert nicht viel weg, und die Wassermassen können nicht schnell genug abfließen.

Dieser Jahrhundertsturm kam in mehreren Wellen. Die erste Welle erreichte Tel Aviv, wo jeden Winter in den ärmeren Vierteln im Süden der Stadt Landunter herrscht. Das ganze Land verfolgte mit Entsetzen, wie ein junges Paar im Aufzug steckenblieb. Sie wollten nach ihrem Auto sehen. Doch das Wasser stieg so schnell, die Rettungskräfte kamen so spät, daß beide im Aufzug ertranken, während die Nachbarn verzweifelt versuchten, sie zu befreien. Dank Whatsapp erlebt man sowas heutzutage fast zeitgleich mit, weiß aber nicht, was man glauben kann und was nicht. Aber diese Geschichte ist passiert, und die Anteilnahme war groß.

Die Iraner schickten Katyushas, nur um ein bißchen grimmig zu wirken, und schossen Raketen auf zwei amerikanische Stützpunkte im Irak. Kurz darauf stürzte eine ukrainische Passagiermaschine ab, und ich saß schlaflos vor dem Laptop, wollte arbeiten und guckte statt dessen Videos dieses Absturzes an. Daß die Maschine schon in der Luft brannte, kam mir gleich komisch vor – inzwischen gehen auch die Kanadier davon aus, daß es eine Abwehrrakete der Iraner gewesen sein muß, die die Maschine traf. Statt einer Erklärung und Bitte um Entschuldigung vertuschen und lügen die Iraner auf Teufel komm raus, was die Angehörigen wahnsinnig machen muß.

Während sich all diese Dinge ereignen, regnet es ununterbrochen. Vor unserem Haus bilden sich reißende Sturzbäche, der Garten steht im Wasser und aus den Gullys sprudelt das Wasser nur so. Naharyia wird überschwemmt, wie jedes Jahr. Es ist nämlich so, daß die Hauptstraße Nahariyas, der Gaaton, um ein kleines Bächlein herumgebaut ist, das friedlich in der Mitte fließt und im Sommer meist ganz ausgetrocknet ist.

Wo der Gaaton zu Ende ist (die Straße heißt nach dem Fluß), da ist das Meer – und wenn der Gaaton zu viel Zufluß aus den Bergen und Wadis kriegt, kann er nicht abfließen, staut sich, und die Hauptstraße wird überschwemmt. Jeden Winter schimpfen die Einwohner darüber, daß noch niemand eine Lösung dafür gefunden hat.

Dann geht das Wasser zurück, ich gehe normal zur Arbeit, und schon als ich mit dem Bus aus Nahariya zurückkomme, geht der Regen wieder los.

Was sich dann in unserem verschlafenen Städtchen ereignet, ist beispiellos. Nicht nur der Gaaton steht unter Wasser, sondern die ganze Stadt. Trotz aller Warnungen fahren Menschen mit ihren Autos rein oder versuchen, zu Fuß die Straßen zu überqueren. Unsere Moshav-Whatsappgruppe läuft heiß. Die Gerüchte laufen um – eine Familie ertrunken, nein, ein Baby ertrunken, nein, ein Schulkind mitgerissen. Schließlich kommt es in den Nachrichten – ein Mann, der eine Familie in einem Auto in Not sah, kam ihnen zu Hilfe, und wurde selbst mitgeschwemmt. Er konnte nur tot geborgen werden. Die Familie hat überlebt. Er wurde heute beerdigt.

Sechs Tote – sechs Menschen, die dieser Sturm insgesamt das Leben gekostet hat.

Während es immer weiter regnete, waren wir in unserem Moshav von aller Welt abgeschnitten. Es gibt nur eine Zugangsstraße, und die war überschwemmt. Der kleine Feldweg in Richtung Miliya war auch schwer zu befahren, wie Y. es nach Hause geschafft hat, verstehe ich selbst nicht. Er hat drei Stunden dafür gebraucht, und alle Kenntnis der Schleichwege, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Quarta konnte nicht zur Arbeit, ich konnte Gott sei Dank zuhause arbeiten, konnte mich aber nicht konzentrieren. Statt dessen habe ich, wie immer, wenn es politisch wieder brenzlig wird, Projekte im Haus vorgenommen.

Es waren komplett irreale Tage. Sonst, wenn die Rhetorik aus Teheran bedrohlich klingt und Trump Aktionen plant, die wer weiß was auslösen können, sind hier die Nerven gespannt und alle reden nur davon. Und wenn nicht davon, dann von den politischen Molekularbewegungen vor den Wahlen und Bibis Kämpfen mit der Justiz. Doch diesmal sprachen alle nur vom Wetter. Kann man nach Regba fahren? Habt ihr gesehen, wie die Armee die Schulkinder mit LKWs nach Hause gebracht hat? Wißt ihr, daß das Einkaufszentrum zu ist, weil das Parkdeck überschwemmt ist und der Strom ausgefallen? Welche Läden sind betroffen? Wie geht es meinem Friseur, der netten Verkäuferin aus der Boutique für religiöse Frauen, mit der ich immer plaudere, wenn ich dort lange Röcke kaufe, und wie dem Mann mit der Kippa, bei dem ich immer meine Wolle kaufe?

Heute abend, während alle Welt über die iranischen Versuche, den Flugzeugabschuß zu vertuschen, sprach, waren in unseren Nachrichten, in diesem nachrichtenkranken Land!, die ersten 15 Minuten nur Wetter. Der See Genezareth ist um 23 cm gestiegen!

Ganz Israel verfolgt ja den Pegelstand des See Genezareth, und insgesamt respektieren sie Wasser sehr und lieben es. Ich habe ja schon öfter erzählt, wie mein Mann auf einer Reise den Mekong bestaunte. Er traf dort andere Israelis, die genau wie er den ganzen Tag nur das Wasser anstarrten und murmelten: so viel Wasser, soo viel Wasser. Mein Mann gerät bei jedem kleinen Bach in Deutschland, der auch im Sommer fließt, vor Freude außer sich.

Es mischten sich also Schrecken über die Unglücksfälle mit Sorge um die Überschwemmten und die Geschädigten mit absoluter Euphorie, einmal im Leben SO VIEL WASSER im Land zu sehen.

Und der Schnee auf dem Berg Hermon wird irgendwann auch in den See Genezareth fließen.

Ich hoffe, daß die nächsten Tage ruhiger sind, daß ich meinen Stapel halb oder schlecht erledigter Arbeit abtragen kann, und daß die Iraner … nein, das kann ich nicht mal hoffen. Sie werden ihre Rache nehmen, weil ja ihre kostbare „Ehre“ in Frage gestellt wurde. Lügen ist nicht gegen ihre Ehre, Unschuldige ermorden ebenfalls nicht (mehr darüber hier), aber blamiert zu werden! Und so wird es weitergehen.

Und jetzt! November 21, 2019, 17:33

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Um 19.30, also in zwei Stunden, wird Mandelblit bekanntgeben, zu welchem Ergebnis er gekommen ist – ob Netanyahu sich vor Gericht verantworten muß oder nicht. Auch die Schwere der Anklage spielt eine Rolle, aber selbst wenn er nicht wegen Korruption, sondern „nur“ wegen Amtsmißbrauch oder Vertrauensbruch angeklagt wird (Pardon, ich weiß eigentlich gar nicht, wie man die hebräischen Ausdrücke ins Juristische übersetzt), reicht das wohl, um ihn für den Job des PM von Israel zu disqualifizieren.

Eine Stunde später wird Netanyahu ebenfalls eine Erklärung abgeben.

Inzwischen hat sich schon eine Likud-Abgebordnete auf Saars Seite geschlagen, und Miri Regev hält Netanyahu die Fahne.

Ich hoffe so sehr, daß die Wähler keine Ohrfeige kriegen und zum dritten Mal ins Kabäuschen müssen, daß ich sehr auf die Idee setze, Edelstein oder Saar könnten Bibi ablösen. Beides gute Leute. Zwar ist meine politische Schnittmenge mit ihnen kleiner als mit z.B. Gantz, aber die Hauptsache ist mir nicht, daß jemand mit meinen Ansichten auf den „Sitz mit Hirschleder“ kommt, wie man Ehrenplätze der Macht auf Hebräisch nennt. Sondern daß die israelische Demokratie wieder laufen kann. Die ungelöste Frage, wie es mit Netanyahu weitergeht, hat bisher die Situation blockiert.

Und jetzt? November 21, 2019, 8:22

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Die Frist, in der Benny Gantz eine Koalition hätte zusammenbasteln können, ist abgelaufen. Nachdem Bibi mehrmals damit gescheitert ist, war ziemlich klar, daß auch Gantz es nicht schaffen würde. Das Schaf kann entweder mit dem Kohlkopf oder dem Wolf koalieren, aber nicht mit beiden. Gantz steht dort, wo die Fäden sich kreuzen – zwischen Links und Rechts (Metaphern, die nicht wirklich auf Israel passen), zwischen säkular und religiös. Er könnte mit Links uns säkular koalieren (Meretz plus Baraks Partei, Avoda plus Gesher), mit Rechts und säkular (Liberman), und auch mit den religiösen Parteien könnte er vielleicht einen Kompromiß finden (sowohl modern-orthodox und säkular a la Bennet und Shaked, als auch Haredim). Aber die Zahlen reichen nicht, und Libermann wird weder mit den Ultra-Orthodoxen noch Meretz in einer Regierung sitzen.

Und solange nicht klar ist, ob es zu einer Anklageerhebung gegen Netanyahu kommt, werden weder Liberman noch Gantz mit ihm eine Koalition eingehen. Das sind Wahlversprechen, die diesmal eingehalten werden – keiner möchte als Netanyahus Partner auftreten, wenn der als Angeklagter vor Gericht sitzt. Selbst Amir Peretz ist nicht umgekippt.

Das hatten wir also alles schon, es war auch eigentlich schon am Wahlabend klar. Ja es war schon letztes Jahr klar, als Liberman die Regierung verließ und Netanyahu Neuwahlen ausrufen mußte, weil er keine neue, stabile Koalition finden konnte. Im April dasselbe Spiel, kein eindeutiges Wahlergerebnis, und im September noch einmal.

Man kann die Schuld bei allen möglichen Parteien und Personen suchen, aber es ist ziemlich klar, daß das Problem in den ungeklärten Vorwürfen gegen Netanyahu liegt. Wenn Mandelblit heute veröffentlichte, daß die Vorwürfe gegen ihn unbegründet sind, hätte er sofort Koalitionspartner. Und wenn es zur Anklage kommt, selbst wegen „minderer“ Vergehen, und er vom Fenster weg wäre, dann würde ein anderer die Likud-Partei übernehmen und der Weg zu einer Koalition wäre ebenfalls frei.

Nicht jeder sieht es so, aber ich glaube, Netanyahu würde bei Wahlen im März 2020 weiter an Unterstützung verlieren. Den Nimbus des Zauberers jedenfalls hat er schon vor einem Jahr eingebüßt, und sein Abstieg in Etappen ist deutlich erkennbar.

Aber noch sind drei Wochen bis zur Entscheidung zu Neuwahlen. In diesen drei Wochen liegt das Mandat nun bei der Knesset. Israel war noch nie in dieser Lage, daß zwei Kandidaten mit der Regierungsbildung gescheitert sind, aber jetzt ist es theoretisch möglich, daß jeder beliebige Abgeordnete eine Koalition auf die Beine stellt und damit zum Präsident geht.

Ich weiß nicht, ob jemand diese Chance ergreift – aber ich hoffe es, denn ein drittes Mal Neuwahlen wäre eine Katastrophe. Die Wähler haben zweimal das Ihre getan, und die Politiker müssen nun daraus was machen. Um uns herum organisieren sich der Iran und seine Satelliten zum Angriff, innenpolitisch fehlen Budgets, Entscheidungen, klare Linien. Neue Minister führen eifrig Neuerungen ein (Verkehrsminister Smutrich z.B. macht interessante Experimente mit Mitfahrer-Spuren, die aber ein bißchen auf die Schnelle zusammengenäht wirken), Budgets sind nicht endgültig abgesegnet (weswegen z.B. die Feuerwehr in einigen Kommunen keine neuen Leute einstellen kann), es ist einfach unmöglich, so weiterzumachen.

Ich hoffe also, daß sich im Likud-Block ein Rebell findet und sich von Netanyahu absetzt. So wie es Ariel Sharon mit Kadima getan hat – er hat damals viele gute Leute mitgenommen. Hat Gideon Saar das Format Sharons? Nein, hat er nicht, Sharon, so umstritten er war, flößte auch eine Art Vertrauen ein, daß er weiß, was er tut. Saar ist jünger, eher ein Schreibtischtyp, aber sehr klug und auch beliebt. Netanyahu mißtraut ihm seit Jahren, und ich halte es für möglich, daß er damit Recht hat und Saar tatsächlich eine Schar um sich sammelt, die jetzt hinter den Kulissen an einer Koalition von 61 Stimmen feilt.

Vor Netanyahu haben viele Angst, außerdem verdient er Anerkennung für seine Arbeit, sogar von Leuten wie uns, die seine Bilanz höchst kritisch sehen (wie er die Außenpolitik an sich gerissen hat, damit das Außenministerium total ausgebootet hat… und wie alle Themen, die nicht mit dem Iran oder Erdgas zu tun haben, vernachlässigt wurden…). Es ist also nicht sehr wahrscheinlich, daß tatsächlich in seiner Partei, die es sich jahrelang in seinem Windschatten bequem gemacht hat, nun ein Königsmörder aufsteht.

Es ist theoretisch auch möglich, daß Blau-Weiß in seine Einzelteile zerbricht. Ich tippe, daß das spätestens in einem neuen Wahlkampf kommt – Lapid wird mehr in Richtung Links tendieren, Yaalon und Hendel mehr in Richtung Neue Rechte (Bennet). Gantz wird am Ende allein dastehen. Ich habe schon in der Vergangenheit falschgelegen, und vielleicht ist es reiner Zweckpessimismus oder Aberglaube, aber ich bin ziemlich sicher, daß Gantz sich nicht wird durchsetzen können. Er wird zwischen seinen Partei“freunden“ aufgerieben, weil sie eine reine Zweckgemeinschaft eingegangen sind und eigentlich zu unterschiedlich sind. Erfolg und Macht hätten sie zusammenkitten können, aber das hat ja nicht geklappt. Wenn ein starker, seit Jahren aktiver und erfolgreicher Politiker wie Netanyahu von Mißerfolg schwer angenagt wird, wie soll das dann ein unerfahrener Neuling wie Gantz verkraften?

Würde aber eine Blau-Weiß-Einzelpartei eine Koalition zusammenkriegen? Wohl kaum. Ashkenazi ist umstritten, Bogie zu trocken und nicht charismatisch genug, Lapid würde nie genügend Wähler auf seine Seite bringen und ist durch seine frühere Zusammenarbeit mit Netanyahu schon zu sehr als reiner Karrierist gefärbt. Gantz wäre vielleicht ganz froh, Lapid loszuwerden…

Pardon, ich habe diese Gedanken bereits mehrmals durchgekaut, leider hat sich nichts verändert 😦

Wenige Stunden später:

Und da ist er – Gideon Saar hat sich aus der Deckung begeben.

saar

Er tut das erstmal in Form eines Vorschlags – Netanyahu hat bereits erklärt, Urwahlen seien unnötig, aber da die letzte Urwahl schon vier Jahr her ist, hat die Idee, jetzt noch mal welche abzuhalten, etwas für sich.

Ich frage mich, was er tun wird, wenn auf diesen Vorstoß Netanyahu und seine Leute die Idee von Urwahlen abschmettern, wie sie zweifellos tun werden. Ob er dann versuchen wird, mit dem Mandat der Knesset selbst 61 Unterschriften zusammenzukriegen. Die Zeit ist eigentlich reif dafür. Und wenn Saar es schaffen sollte, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen, den seit einem Jahr keiner entwirren kann, hätte er sich etabliert. Aber ich greife vor. Bisher ist es nur eine Idee.

Noch ein Durchgang November 12, 2019, 14:13

Posted by Lila in Land und Leute, Qassamticker (incl. Gradraketen), Uncategorized.
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Ihr seid es leid, wir sind es leid, die Israelis im Süden haben es bestimmt noch viel leider.

Ich habe meinen Kassam-Ticker hier sehr vernachlässigt, was ich jetzt ein bißchen bedaure – aber wer mir auf Twitter gefolgt ist, hat mitgekriegt, wie oft in den letzten Monaten im Süden die Alarmsirenen und -lautsprecher losgegangen sind, wie viele Raketen Iron Dome abgeschossen hat, wie viele auf freiem Feld gefallen sind. Die israelische Reaktion war immer sehr gedämpft. Die Hamas hatte Zeit, ihre Gebäude zu räumen, bevor IDF dann entweder das leere Gebäude oder eine Düne beschoß.

Dabei wußten alle Beteiligten, daß es nicht die Hamas war, die hinter dem Raketenbeschuß stand. Aber Israel mischt sich nie in innere Streitigkeiten ein. Auch wenn Anti-Assad-Rebellen die Golanhöhen beschießen, liegt für Israel die Verantwortung dafür bei Assad, und ebenso ist die Hamas dafür verantwortlich, dafür zu sorgen, daß aus ihrem Gebiet nicht geschossen wird. Eine Regierung kann nicht einfach sagen: tja, über diese Leute haben wir leider keine Kontrolle, laßt uns in Ruhe, die schießen eben. Das funktioniert in keinem Land. Die Regierung trägt die Verantwortung. Wenn also der Islamische Jihad Israel beschießt, obwohl die Hamas ausdrücklich Ruhe versprochen hatte, dann schießt Israel nicht auf den Islamischen Jihad, sondern auf die Hamas. Als Zeichen dafür, indirekt, daß Israel die Hamas als Hausherren dort akzeptiert. Natürlich auch in der Hoffnung, daß die Hamas sich von dem Raketenbeschuß irgendwann mal offen distanziert und sagt: liebe Jihadisten, wir wollen diese Raketenschießerei nicht mehr, sie bringt uns nur Ärger.

Über Monate hinweg häuften sich die Vorfälle. Ein Musikfestival in Sderot wurde beschossen – mehrere Privathäuser wurden getroffen – eine äthiopischstämmige Familie wurde nur gerettet, weil die Mutter alle Kinder rechtzeitig in den Schutzraum brachte – seit einem Jahr kann man sich nie sicher fühlen (eigentlich viel länger, denn die ersten Raketen flogen noch vor der Räumung – es sind mehr als 15 Jahre).

Gleichzeitig fliegen seit März 2018 ständig Drachen oder Ballons mit Brand- und Sprengsätzen über die Grenze und richten dort Schaden an, auf Feldern, in Naturschutzgebieten und auch oft in der Nähe von Ortschaften.

Es war also klar, daß irgendwann Israel reagieren muß. (Übrigens: wäre Bibi tatsächlich so ein Hardliner, wäre das schon viel eher und schärfer passiert.) Israel weiß, wer der Strippenzieher im Islamischen Jihad ist, der auch von der Hamas keine Befehle annahm und immer wieder Vereinbarungen brach. Und heute früh ist dieser Mann, hm, wie nennt man das auf Deutsch? Auf Hebräisch nennt man es chissul, Ausschaltung, oder sikul memukad, gezieltes Aus-dem-Verkehr-Ziehen, also nennen wir es liquidieren? Sowohl im Gazastreifen als auch in der Nähe von Damaskus wurden Köpfe des Jihad von IAF-Flugzeugen angegriffen und getötet.

Ja, da kann man in deutschen Medien die Köpfe schütteln und sagen: das ist ja wie im Krieg! Ist es auch, und für die Zivilisten in Kfar Aza, Kerem Shalom, Sderot und Mefalsim fühlt es sich schon lange wie Krieg an. Die Kinder dort erinnern sich nicht mehr an eine Zeit ohne „Code Rot“. Natürlich – da der ständige Beschuß in deutschen Medien nicht vorkommt, denken Leser dort vielleicht, daß Israel unvermittelt und zu aggressiv vorgegangen ist. Aber irgendwann muß man dann mal was tun. Wer alternative Ideen hat, die Israel noch nicht ausprobiert hat, der kann sie gern in den Kommentaren aufschreiben.

Das Kalkül hinter: diesen Liquidierungen den Jihad so schwächen, daß er sich von der Hamas in die Pflicht nehmen läßt. Denn interessanterweise spielt im Gazastreifen die Hamas die Rolle des vernünftigen Erwachsenen. Okay, ein einäugiger König, aber immerhin. Auch die ägyptischen Vermittlungsbemühungen haben die Hamas vielleicht beeinflußt.

Es hängt also nun alles von der Hamas ab. Die empört sich zwar gegen Israel, läßt den Jihad auch ordentlich Raketen abfeuern (150 seit heute früh), tut aber sonst nichts. Wenn die Hamas sich an die Seite des Jihad stellt und selbst anfängt, Israel anzugreifen, dann haben wir eine Eskalation wie lange nicht mehr. Wenn die Hamas es schafft, den Jihad kaltzustellen und sich lieber Wirtschaft und Infrastruktur widmet, haben wir eine Grundlage für eine dauerhafte De-Eskalation.

Wer immer up to date sein will, sollte mal bei Rotter.net reingucken. Dort werden die wichtigsten englischsprachigen Medien verlinkt – von der linken Haaretz über Times of Israel bis zu den eher konservativen Jerusalem Post und Arutz 7. Die Seite sieht zwar nach nichts aus, ist aber übersichtlich und man kann sich jederzeit informieren, und zwar aus mehreren Blickwinkeln.

Wer wissen möchte, wie oft die Alarme kommen, kann sich sowas wie Red Alert aufs Telefönchen holen. Wobei man sagen muß: nicht jeder gemeldete Alarm ist auch eine Rakete. Israel ist in so viele Warngebiete eingeteilt, och nee, es ist schon wieder am rappeln, Alumim, Nahal Oz, Beeri!, daß ein Alarm mehrere Gebiete betreffen kann. Dann löst eine Rakete drei oder vier Alarme aus.

Twitter ist auch eine gute Informationsquelle. Vor allem, wenn ihr mir folgt 🙂 Lauter Filmchen von Unvorsichtigen, die lieber filmen und hochladen, statt sittsam in die Schutzräume zu gehen.

Ich folge im Internet den Nachrichten von Kan11 – bin zu dem Schluß gekommen, daß das die besten Nachrichten in Israel sind, sachlicher als Platzhirsch 12. Und sie senden einfach einen Livestream, was ich sehr nett finde. Aber Hebräisch sollte man schon können, sonst hat man wenig davon. Auch immer interessant für Hebräischversteher: das Armeeradio, Galey Zahal (Galatz) oder Galey Zahal al galgalim (Galgalatz).

Es ist schwierig, sich in solchen Zeiten einen kühlen Kopf zu bewahren. Auf die Angaben der Armee muß ich mich verlassen, ich kann sie nicht überprüfen. Und auch darauf, daß Verteidigungsminister Netanyahu dem Premierminister Netanyahu richtig geraten hat (seit 11 Uhr früh ist der Job auf Naftali Bennett übergegangen), daß politische Erwägungen keine Rolle gespielt haben und nicht auf dem Rücken der Bürger Ego-Spielchen ausgetragen werden.

Benny Gantz, der davon was versteht, hat Netanyahu jedenfalls Unterstützung ausgesprochen. Wenn er es für gerechtfertigt hält, dann muß ich annehmen, daß die Entscheidungen von Bibi und IDF angemessen und richtig waren. Leicht fällt das nie, besonders nach einem Jahr der politischen Spielchen. Und eigentlich ist Bibi ja nur Übergangs-PM. Als solcher in einen, chalila, Krieg einzusteigen, wäre ziemlich gewagt. Wie Bibi sehr wohl weiß – er hat es bisher geschafft, uns ohne größere Auseinandersetzung durch Phasen heftiger Aggression von außen zu manövrieren.

Aber so ist es nun wieder. Red Alert grummelt regelmäßig, alle Nachrichtensender haben Leute vor Ort, und seit die Alarme auch Tel Aviv erreicht haben, nehmen alle die Lage ernst. Ich hoffe sehr, niemand weiter kommt zu Schaden (das kleine Mädchen, das heute früh vor Schreck ohnmächtig wurde, hat immer noch Herzrhythmusstörungen und liegt auf der Intensivstation – höre ich gerade), und eine weitere Eskalation bleibt aus.

Immer noch in der Schwebe November 5, 2019, 16:39

Posted by Lila in Land und Leute.
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Später werden wir uns mal daran erinnern, wie merkwürdig das war. Das Land hat nach zwei Wahlen keine Regierung, weil diesmal alle ihre Versprechungen aus dem Wahlkampf halten und niemand, der Netanyahu abgeschworen hat, sich auf ihn einschwören möchte. Die Situation ist nach wie vor blockiert. Gantz kann seinen Auftrag der Regierungsbildung nicht erfüllen, alle Politiker zappeln in ihren Netzen. Unterdessen sind Entscheidungen blockiert, Etats sind unklar, keiner weiß, in welche Richtung es weitergehen soll, weder innen- noch außenpolitisch. Bibi spielt unterdessen weiter PM, als müßte das so sein.

Gleichzeitig sickern Informationen über Bibis diverse Anhörungen durch, und es scheint durchaus möglich, daß es zu einer Anklageerhebung kommt, aber wann? und was sagt die Tatsache, daß Informationen überhaupt durchsickern, über die Staatsanwaltschaft aus? Es wird auch geraunt, daß die Kronzeugen gegen Netanyahu unter Druck gesetzt wurden, und niemand sieht richtig frisch und rosig aus in dieser Geschichte.

Zwischendurch rappeln und brummen alle Telefone – Red Alarm löst aus, im Süden retten sich Familien in ihre Schutzräume und Raketen fallen (immer wieder mal eine auf ein Haus, obwohl Iron Dome die meisten abschießt). Dann wird spekuliert – war es der Islamische Jihad? läßt die Hamas das zu, oder würde sie es gern verhindern, weiß aber nicht wie? Israel beschießt symbolisch ein paar von der Hamas militärisch genutzte Gebäude, die die Hamas natürlich vorher schlauerweise räumt. An einer Eskalation liegt niemandem, also ist am nächsten Tag wieder spukhafte Ruhe, als wäre nichts gewesen. Bis zum nächsten Alarm.

Im Libanon wird demonstriert, in vielen anderen Ländern auch. Nach dem arabischen Frühling, der katastrophale Folgen hatte, könnte nun ein arabischer Herbst folgen. Der Iran droht, die Türkei hat ihre Interessen gewaltsam durchgesetzt, die Falschen können sich freuen, und alle Prozesse laufen weiter ab, in dieser unruhigen Gegend.

Wie konkret die Bedrohung durch den Iran ist, der vielleicht vom Yemen aus ein paar Raketlein auf unser garstig Haupt schießen will, kann ich nicht einschätzen. Man hört es ungern, Anzeichen für De-Eskalation gibt der Iran auch nicht, andererseits – was hätten sie jetzt davon? Sie möchten doch bestimmt warten, bis sie eine nette, pummelige Atombombe haben, damit es sich auch lohnt.

Ja, Bibi ist noch am Steuer, aber einen richtigen Kurs kann er nicht einschlagen, denn er weiß nicht, wer in einem halben Jahr das Steuer übernimmt. Ich tippe darauf, daß er es nicht mehr sein wird – er hat es dreimal nicht geschafft, die benötigte Mehrheit zu schaffen, warum sollte er es nach einem CHALILA dritten Wahlgang schaffen? (Ja, dreimal: 1. nach dem Abspringen Liebermans, deswegen wurden Wahlen nötig – 2. nach dem Wahlen im Frühling und 2. jetzt).

Es ist eine Situation, wie ich sie noch nie erlebt habe, und ich habe schon einiges hier erlebt. Das Leben läuft normal weiter. Ich genieße meine Arbeit, verliere regelmäßig gegen Quarta im Mensch-ärgere-dich-nicht (wir spielen das noch immer obsessiv – auf dem Sechserfeld, jede von uns mit drei Farben, immer dieselben, und ich habe in all den Jahren nur EIN jämmerliches Mal knapp gewonnen!), trinke morgens Kaffee und abends Tee mit meinem geliebten Mann, und lebe zufrieden wie ein Eichhörnchen in seinem mit Büchern vollgestopften Kobel. Und so leben alle, die ich kenne, normal weiter, im Gegensatz zu anderen Krisenzeiten, wo die tägliche Routine deutlich gestört war. Mal durch Gasmasken und Alarme, mal durch ständige Attentate, mal durch Angst um Kinder in Uniform. Diesmal ist es nicht so.

Aber der Irrsinn, daß ausgerechnet dieses Land seit einem Jahr keine funktionsfähige, stabile Regierung hat, liegt knapp unter der Oberfläche. Egal wo die Leute politisch stehen, die ich kenne – keiner will ein drittes Mal Knesset-Wahlen. Irgendwas muß geschehen. Aber schnell.

 

 

Schwebezustand Oktober 15, 2019, 13:03

Posted by Lila in Land und Leute, Persönliches.
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Jedes Jahr ist der Monat Tishrey (September-Oktober) wie eine Zeit außerhalb der Zeit, ein bißchen so wie in Deutschland die Zeit zwischen den Jahren. Nur daß dieser Zustand dort mit Beginn des Neuen Jahres aufhört, während es hier mit Rosh ha-Shana, also dem jüdischen Neujahr, anfängt. Yom Kippur, und jetzt das Laubhüttenfest. Leider merken wir, seitdem die Kinder groß und aus dem Haus sind, praktisch nichts mehr davon. Wieder fehlt mir die Kibbuz-Umgebung, die zu allen Festtagen so stimmungsvoll ist. Aber das lag vermutlich auch daran, daß ich immer Kinder in diversen Kinderhäusern hatte und praktisch von Feier zu Feier gegangen bin.

Zu Sukkot ist Y. immer mit dem Hammer im Gürtel von Kinderhaus zu Kinderhaus gegangen, um dort mit den anderen Vätern die Laubhütten zu bauen, die wir dann geschmückt haben. Aus Holzlatten und grobem Stoff, das Dach mit Palmwedeln bedeckt, so daß man die Sterne sehen kann. Hier im Ort sehe ich mehr gekaufte Sukkot, ein bißchen wie Zelte. Na ja, wo sollen auch die Leute hier Latten und Jute herkriegen, im Kibbuz ist das alles kein Problem.

Jedenfalls ist es jedes Jahr eine schöne und stimmungsvolle Zeit, auch wenn er Herbst wettermäßig immer eine Enttäuschung für mich ist. Vergeßt Nebel und Mörikes herbstkräftig in warmem Golde fließende Welt. Es ist die Zeit der heißen Ostwinde und knochentrockenen Erde. Immerhin hatten wir vorgestern Nacht einen  herrlichen Platzregen, bei Vollmond und klarem Himmel. Es war eine Kette dicker Wolken, die genau über unser Dörfchen zog. Quarta schrie so laut nach mir, als sie den Regen entdeckte, daß ich erstmal dachte, es sei was passiert. Dann standen wir unter dem Vordach im Eingang und genossen das Geräusch und vor allem den Duft, mit dem die Erde sich bedankt.

Wenige Stunden später war es schon wieder so heiß, daß man es nicht aushalten konnte, und heute – ganz schlimm, wie ein Heizlüfter, der einem um die Ohren pfeift.

Y. und ich nutzen die freien Tage, um Arbeiten zu erledigen, die sich schon länger angestaut hatten. Bis auf ein paar kleinere Fahrten ans Meer haben wir uns dem Strom der Ausflügler nicht angeschlossen. Wir haben es hier selbst so schön, daß uns im Moment nichts lockt. Es ist sowieso alles überlaufen, auch weil viele religiöse Familien jetzt die Ausflüge nachholen, die sie sonst am Shabat nicht machen können.

Im Laufe der Sukkot-Woche planen wir vielleicht etwas, aber dann an einem Tag, wo nicht das ganze Land auf den Beinen ist. Auch hier im Ort sind wieder alle bed & breakfast belegt (auf Hebräisch tzimmerim genannt), was ich immer daran merke, daß unser Mülleimer vollgestopft ist mit fremdem Müll. Vielleicht hat der Hausherr des b&b schräg gegenüber seinen Gästen gesagt, daß sie unsere Tonne ruhig mitbenutzen können, oder sie machen es von sich aus. Stadtleute!

Während wir also in einer Art Ferien-doch-nicht-Ferien-Stimmung sind, weil manche Leute arbeiten und andere nicht, weil man überlegt, mit wem man wann wo welches Fest feiert und was man dafür kochen muß – währenddessen haben wir alle im Hinterkopf, daß sofort nach Sukkot das Hauen und Stechen losgeht. Eine Regierung haben wir immer noch nicht, Bibis stolze Vorzeigen seiner Trump-Karte hat sich als voreilig erwiesen (wer die Kurden so schnöde im Stich läßt, wird sich auch für uns nicht bemühen, warum sollte er? springt ja für ihn nichts raus), und es ist noch unklar, was nun das Ergebnis der ganzen Anhörungen war. (Ich habe den Eindruck, es ist nicht viel dabei rausgekommen, aber erst im Dezember wissen wir, ob es zu einer Anklageerhebung kommen wird, und wie schwerwiegend die Anklage sein wird.)

Das Gemetzel an den Kurden liegt mir schwer auf dem Herzen – ich möchte dazu im Moment eigentlich gar nichts sagen, aber die Bilder sind so entsetzlich. Die Welt läßt die Kurden im Stich. Erdogan ist ein Verbrecher. Wir wußten es immer schon, jetzt wissen es hoffentlich alle. Nach wie vor kommt mir jedesmal die Galle hoch, wenn ich mich daran erinnere, wie willig, ja begierig Deutschland über das Mavi-Marmara-Stöckchen gesprungen ist, ohne nachzufragen, ohne einen Moment nachzudenken, ob diese Inszenierung wirklich so abgelaufen ist, wie Erdogan behauptete. Es war der Startschuß seiner Kampagne für die Vorherrschaft der Türkei in dieser Weltgegend, für seine Distanzierung vom Westen und besonders von Israel. Die Europäer erpreßt er mit seiner Drohung, am Flüchtlings-Ventil zu drehen.

Diese Weltgegend ist grausam, und ich sitze mittendrin. Wenn das menschliche Herz doch eine Membran hätte, durch die die Gefühle anderer dringen können, nicht nur diese sehr begrenzte Empathiefähigkeit unter ganz präzisen Bedingungen (die Betroffenen müssen einem ähneln, die Situation vorstellbar sein, am besten noch Auswirkungen haben, die einen selbst betreffen, sonst funktioniert Empathie gar nicht). Vielleicht wäre die Welt dann besser.

 

 

Zwei Jahre Oktober 5, 2019, 17:10

Posted by Lila in Land und Leute.
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dienen die jungen Frauen in der Armee, und das ist gerade genug. Das dritte Jahr, das die jungen Männer mehr dienen, zieht sich furchtbar lang hin – aber zwei Jahre für die Allgemeinheit geben, das ist vertretbar.

Die IDF hat zwei Arten von Laufbahnen, ganz grob eingeteilt: kämpfende und nicht kämpfende Einheiten. Der Dienst bei den kämpfenden Einheiten ist deutlich härter, die Grundausbildung länger und die Bedingungen spartanischer. Meine Söhne haben in kämpfenden Einheiten gedient (beide als Sanitäter), und ich habe ja im Laufe der Zeit genug darüber geschrieben, wie schwierig das war. Für mich (im Leben keine Uniform getragen außer Arbeitsklamotten als Volunteer im Kibbuz)  – für meinen Mann (der als ganz frischer Rekrut in den Libanonkrieg I eingezogen wurde und insgesamt fünf Jahre im Libanon verbracht hat und nicht darauf brennt, daß seine Kinder Ähnliches mitmachen) – und für die Söhne natürlich am allermeisten. Ich bin froh, daß die Zeit hinter uns liegt. Secundus macht noch ziemlich viel Reservedienst, aber zum Lohn dafür bekommt er auch ein Stipendium an der Uni, und außerdem macht es ihm auch Spaß.

Es gibt auch Frauen in kämpfenden Einheiten, und Quarta hat sich eine Zeitlang überlegt, sich für eine solche Laufbahn zu bewerben. Aber auch nicht-kämpfende Truppen haben wichtige Funktionen, und an ihrer Schwester konnte sie sehen, wie viel man bei der Armee lernen und machen kann. Mir kommt es manchmal vor, als wäre die Armee der Jungens und die Armee der Mädchen etwas vollkommen Verschiedenes. Die Jungen kamen erschöpft, verschwitzt und übermüdet wieder – die Mädchen voll Erlebnisse von Kursen, Freundschaften und Verantwortung.

Weil mir diese ganze Armee-Welt immer noch fremd ist, im Gegensatz zu fast allen anderen, die ich hier kenne, habe ich mit großem Interesse eine Doku-Serie über eine gemischte Einheit gesehen, die auch so heißt: Gemischte Einheit, Yechida Me-urevet, leider nicht mit englischen Untertiteln.

 

Trotz der kritischen Kommentare meiner Familie habe ich die ganze Serie angeguckt. Mein Mann hat über die Anforderungen in der dargestellten Einheit nur gelacht – bei den Fallschirmjägern anno 1981 ging es wohl in der Grundausbildung ganz anders zur Sache. Meine Töchter haben nur gestöhnt, daß sie froh sind, nicht zu einer kämpfenden Einheit gegangen zu sein. Und die Söhne meinen, diese ganze Riesen-Motivation, mit der auch sie angefangen haben (rabak nennt man das auf Ivrit, oder mur´al), ist nur eine Illusion, aus der die Soldaten schnell aufwachen.

Trotzdem fand ich es interessant zu sehen, mit wie viel Vorurteilen die Mädchen zu kämpfen haben, bis sie sich dann durchsetzen. Ich hätte nicht erwartet, daß so viele junge Israelis noch immer glauben, die Frauen können es eben nicht, denn gerade hier haben Generationen von Frauen doch bewiesen, daß sie es können. Natürlich, einige geben auf, genauso wie die Männer. Ich bewundere gerade die, denen es schwerfällt, und die doch durchhalten.

Die Serie zeigt die Grundausbildung, die einzige Zeit, in der die IDF eine Distanz zwischen Befehlsgebern und -empfängern aufbaut. Diese Distanz fällt nach Ende der Grundausbildung, und dann sind die Hierarchien deutlich flacher und der Umgangston ohne Formalitäten. Aber der Übergang vom zivilen zum militärischen Leben ist harsch und deutlich, wie wohl in allen Armeen.

Für Quarta war es natürlich ganz anders. Ihre Grundausbildung war kurz und hat ihr großen Spaß gemacht. Wir waren beim feierlichen Abschluß, und die Atmosphäre war nett und locker. Danach machte sie eine Ausbildung, wo dann nur noch Mädchen waren, und das ging Quarta auf die Nerven. Sie fand es in der Grundausbildung, wo Jungen und Mädchen zusammen waren, viel entspannter. Ihren Job machte sie dann sehr gut und wurde auch befördert, aber ein Angebot, noch ein Jahr dabeizubleiben, hat sie abgelehnt. Sie hatte genug von Bürojob, egal wie interessant, und einer Arbeitsumgebung von fast nur weiblichen Mitarbeiterinnen.

Die Basis, in der sie gedient hat, ist ganz neu. Sie heißt Base Ariel Sharon und wurde innerhalb weniger Jahre aus dem Boden gestampft, im Negev, und die vielen verschiedenen Ausbildungsbasen aus ganz Israel wurden dort zusammengelegt.

Hier auf Englisch dargestellt in einem Film für die amerikanischen Friends of the IDF, und auch auf Hebräisch gibt es Clips.

Sieht ja soweit alles ganz schick und neu aus, bestimmt kein Vergleich mit den schäbigen Unterkünften, in denen wir die Söhne manchmal besucht haben… Tertia, die bei der Luftwaffe gedient hat und bestimmt nicht über die Bedingungen dort klagen konnte, meinte, so einen luxuriösen Dienst wie Quarta hätte sie auch gern gehabt. Aber Quarta meint, das Essen ist gräßlich und die Fahrt so lang. Und überhaupt.

(Es ist mir ein Rätsel, wieso IDF bei einer Familie, die so weit im Norden lebt, alle vier Kinder südlich von Beer Sheva schickt, während die Kinder von Bekannten aus Beer Sheva hier oben an der Grenze  zum Libanon dienen – vermutlich gibt es extra ein Team von drei mürrischen Offizierinnen, die dafür sorgt, daß die jeweils maximale Kilometerzahl zum Elternhaus erreicht wird, was bei einem kleinen Land gar nicht so einfach ist.)

Quarta hat aber trotzdem nicht viel Grund zur Klage. In der Riesen-Basis dienten ihre Schulfreundinnen mit ihr und eine Zeitlang auch ihre gleichaltrige Cousine. Sie hat viel gelernt, Verantwortung getragen und ihren Freundeskreis erweitert.

Die bohrende Sorge, die ich um die Söhne hatte, hatte ich um sie nicht. Selbst wenn sich hier wieder mal die Wolken zusammenzogen und man mit Angriffen aus Syrien oder Libanon oder Schlimmerem rechnen mußte, dachte ich immer: in ihrer Basis ist sie besser aufgehoben als hier bei uns. Bei den Söhnen dagegen hatte ich immer Ynet aktuellste Nachrichten auf dem Internet offen, oft neben dem Bett, und habe immer Radio gehört. Einfach weil ich wußte, besonders im Fall von Secundus: wenn es heißt, „Unruhen in Hebron“, dann ist er dabei, „Unruhen an der Grenze zum Sinai“, dann ist er dabei, und „Armee versammelt sich am Übergang in den Gazastreifen“, auch dann ist er dabei. Um die Mädchen habe ich die Normal-Sorge, diese Währung, in der man für jede Freude zahlt, die man an Kindern hat. Bei den Söhnen kam während ihres Wehrdiensts eben noch diese ganz besonders unerträgliche innere Unruhe hinzu. Daß Quarta mir das erspart hat, kann ich nicht bedauern.

Ich erinnere mich noch gut, wie wir sie vor zwei Jahren zum Marine-Museum in Haifa gebracht haben, wo eine kleine Feier stattfand, für die neuen Rekruten. Es gab Kaffee an kleinen Tischen. Quarta und ihre beste Freundin stiegen dann zusammen in den Bus, die Eltern winkten und die Busse fuhren. Wir wußten damals nur ungefähr, wie es für sie weitergehen würde. Dann kam die Zeit der Grundausbildung, die für Quarta wie eine Art Sommercamp war, und dann die fachliche Ausbildung. Keine Härten, jedes Wochenende zuhause, oft auch mitten in der Woche ein freier Abend (wo sie oft bei einer Freundin in Tel Aviv war, weil der Weg bis nach Hause zu lang gewesen wäre).

Donnerstags bis Shabat frei heißt bei der Armee übrigens chamshushyom chamishi ist der 5. Tag, also Donnerstag, shishi ist der 6., also Freitag, und Shabat. Chamishi, shishi, shabat – zusammengezogen zu chamshush. „Sie hat chamshushim„, meinten die Geschwister bedeutungsvoll, denn sie hatten es nicht so gut.

Überhaupt ist die Armeesprache voll mit solchen Abkürzungen. Sofash ist ein Wochenende (sof shavua), sakash ein Schlafsack (sak sheyna), galchaz ist die gründliche Reinigung (giluach rechaza), pazam hat man, wenn man länger dabei ist (perek zman memushach – eine längere Zeitspanne), und bahad ist die Ausbildungsbasis (basis hadracha) – weswegen Quartas Basis auch Ir ha-bahadim genannt wird, die Stadt der Ausbildungsbasen.

Ich habe jetzt also auch pazam als Soldatenmutter. Und morgen lassen sie mich zum ersten Mal rein in die Ir ha-bahadim, bin sehr gespannt.

 

Plonter September 27, 2019, 14:20

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Die Medien hier nennen das Patt zwischen Likud und Blau-Weiß „ha-plonter ha-politi“, die politische Zwickmühle. Ein hübsches jiddisches Wort für einen Albtraum. Ich weiß nicht, niemand weiß, wie lange es noch so weitergehen soll. Israel ist weltanschaulich und politisch nicht einfach in zwei sauber voneinander zu trennende Lager geteilt, das ist kein Land. Es gibt viele verschiedene Gruppen, und manche sehr verschiedene Gruppen haben gemeinsame Interessen und können miteinander Politik machen.

Das israelische Wahlsystem ist auf Koalitionen ausgelegt. Hier wird nicht der Premierminister gewählt, sondern eine Partei. Die 120 Sitze in der Knesset werden nach Parteienstärke verteilt, und die Partei, die die besten Aussichten hat, eine Regierung zu bilden, wird vom Präsidenten damit beauftragt. Nicht immer ist das die Partei mit den meisten Sitzen.

Vor zehn Jahren hatte Zipi Livni mehr Stimmen als Netanyahu, aber da die ultra-orthodoxen Parteien nur mit Netanyahu koalieren wollten, hatte sie keine Chance, eine Regierung zu bilden. Diesmal ist es ähnlich.

In der Vergangenheit gab es mehrmals sog. Regierungen der nationalen Einheit, was man in Deutschland Große Koalitionen nennen würde. Ich weiß, daß das in deutschen Ohren fürchterlich klingt, weil Große Koalitionen oft für Stillstand stehen. Vergeßt aber die Assoziationen aus Deutschland, in Israel läuft es anders, und es hat schon überraschend glatte Zusammenarbeit unerwarteter Partner gegeben. Da sich die Parteienlandschaft auch dauernd ändert (Blau-Weiß z.B. ist eine ganz neue Partei, ein Zusammenschluß von drei ebenfalls neuen Parteien, von der nur eine, Yair Lapids Yesh Atid, parlamentarische Erfahrung hat), sind Bündnisse über Parteigrenzen hinweg eher möglich.

Diesmal wäre eine Koalition von Likud und Blauweiß eigentlich eine gute Idee. Likuds Regierungserfahrung und Blau-Weiß´ neue Ideen und kompetente Leute hätten viele gern zusammen in einer Regierung gesehen, auch ich. Es wäre zwar theoretisch möglich, eine Regierung mit einer sehr schmalen Mehrheit zu bilden, aber wie schnell das in die Binsen gehen kann, haben wir oft genug gesehen. Wenn ein Regierungschef nur 61 oder 62 Stimmen in der Knesset hat, wird jede kontroverse Abstimmung zur Zitterpartie. So sind hier schon mehrere Regierungen zerbrochen.

Lieberman z.B. hat Netanyahus Entscheidung, nicht gegen den Raketenbeschuß aus dem Gazastreifen härter durchzugreifen (was nur zu einer weiteren „Runde“ dort geführt hätte, aber vermutlich den Menschen in Sderot auch nicht geholfen hätte), nicht mitgetragen, ist aus der Koalition ausgeschieden, und die Regierung ist kurz danach ganz in die Brüche gegangen. Die Wahlen im April 2019 waren das Ergebnis.

Lieberman wollte im April nicht wieder in eine Koalition mit Bibi einsteigen, und der, aus Angst, der Präsident könnte als nächsten Gantz mit der Koalitionsbildung beauftragen, löste schnell die Knesset auf. So kam es zu den Wahlen im September.

Doch das Patt besteht weiter.

Oh seufz, hier habe ich es aufgegeben, ihr könnt in jeder Zeitung lesen, wie unmöglich eigentlich eine Regierungsbildung ist. Jede Partei ist auf einen Baum geklettert, von dem sie kaum runterklettern kann. Amir Peretz hat sogar die kläglichen Überreste seines einst prächtigen Schnäuzers abrasiert, damit man im von den Lippen ablesen kann:

Orli (von der Gesher-Partei) und er werden NIE mit Netanyahu in einer Regierung sitzen (er hätte wohl besser „nie wieder“ gesagt, denn beide haben schon in solchen Regierungen gesessen).

Lieberman will nicht mit den Ultra-Orthodoxen sitzen und diese nicht mit ihm. Er wird auch nicht mit Blau-Weiß koalieren, wenn die von der Arabischen Liste gestützt wird, und die Arabische Liste hat Gantz´ Kandidatur nur zu Teilen unterstützt. (Daß es allerdings eine solche Empfehlung gab, ist ein erster großer Schritt für die arabischen Parteien – zumindest drei von ihnen. Bisher haben sie sich aus lauter Antizionismus selbst von der politischen Verantwortung isoliert, mit dem Ergebnis, daß arabische Bürger ebenfalls entweder nicht gewählt oder aber zionistische Parteien gewählt haben, in denen es auch arabische Politiker gibt – oder andere, für die das Wohlergehen der arabischen Bürger Priorität hat.)

So hat jede Partei ihr Blümlein Rührmichnichtan, an das sie auf gar keinen Fall näher rankommen will.

Doch der wahre Knackpunkt liegt bei Bibi. Blauweiß und Likud könnten sich sehr wohl verständigen. Sie haben eine große Schnittmenge – so wie ich es sehe, ist die Schnitt- größer als die Differenzmenge. Gantz und Bibi haben gut zusammengearbeitet, als Gantz unter Bibi Ramatkal war (Generalstabschef), und auch zwischen Bibi und Bogie (Moshe Yaalon), ebenfalls früherer Ramatkal und Verteidigungsminister, lief es eine ganze Weile recht glatt.

Mit Yair Lapid kann er weniger gut, aber ich selbst habe die kurze Koalition von Lapid und Netanyahu genossen, weil wir endlich wieder einen guten Bildungsminister hatten – Shai Piron aus Lapids Partei. Gut, das hat nicht lange gehalten.

(Ich erwähne hier nur Personalfragen, denn inhaltlich ist die Übereinstimmung so groß, daß Gantz vermeidet, genau zu sagen, WAS er denn anders machen würde als Bibi…)

Aber jetzt will keiner links von Likud mehr mit Bibi zusammensitzen. Obwohl es möglich ist, daß sich mehrere der Vorwürfe gegen Netanyahu am Ende in Luft auflösen, ist es eher unwahrscheinlich, daß das mit ALLEN Vorwürfen geschieht. Ich bin keine Juristin, ich bin auch gern bereit zu glauben, daß manche Journalisten übereifrig sind und uns als riesige Skandale verkaufen, was in Wirklichkeit kleinere Wellenringe sind – der Fall Effi Naveh war so eine Geschichte. Damals habe ich noch Nachrichten auf Kanal 12 geguckt (wegen solcher Sachen habe ich damit aufgehört), und wow, was haben die für ein Geraune und Getue veranstaltet, man hätte denken können, die ungenannte Person im Brennpunkt eines Skandals würde die Grundfesten des Staats erschüttern. Dabei war es ein häßlicher und wichtiger, aber nicht weltbewegender Skandal in der juristischen Welt.

Ich schließe also nicht aus, daß auch aus den Vorwürfen gegen Netanyahu am Ende nicht viel bei rauskommt. Ja ich kann sogar verstehen, daß Bibi sich wahnsinnig darüber ärgert, wenn Geschichten über ihn aufgeblasen werden. Am liebsten würde er einfach weitermachen, weil er sich für den besten aller möglichen israelischen Premierminister hält, und die Vorwürfe gegen ihn sind nur ein paar kleine Hundeköttel, über die er hinwegschreiten möchte auf seinem Weg zum israelischen Pantheon.

Aber leider steht es weder Netanyahu noch Kanal 12 noch auch mir zu, die Vorwürfe einzuordnen und ein Urteil zu sprechen. Das wird die Justiz tun.

Außerdem verstoßen einige der ans Licht gekommenen Geschichten eindeutig gegen Verhaltensnormen, auch wenn sie nicht per se justiziabel sind. Wenn auch nur ein Zehntel der Geschichten darüber stimmt, wie dreist sich Bibi und Sarah um Geschenke und Freebies aller Arten bei ihren Millionärsfreunden angestellt haben, dann möchten viele Israelis sich nicht mehr von diesem hedonistischen Paar vertreten sehen. Und die Aussagen von Milchen oder Miriam Adelson sind einfach nur peinlich beim Lesen. Irgendjemand muß sich die Netanyahus mal zur Brust nehmen und ihnen erklären, daß man sich  nicht so verhält, nein, das macht man nicht.

Viele Israelis (besonders aus der Gegend um Tivon, Saras Heimatstadt) glauben, daß sie es ist, von der dieses Verhalten ausgeht, und Aussagen vieler ehemaliger Mitarbeiter scheinen das zu untermauern. Aber sie ist nicht gewählt, sondern Bibi, und er trägt die Verantwortung dafür. Mir ist es zu einfach: Sara ist die Verrückte und Bibi ein super Staatsmann.

Bibi lacht Gantz aus, weil dessen Telefon angeblich von den Iranern angezapft wurde – „wie soll ein Mann, der nicht mal auf sein Telefon aufpassen kann, auf Israel aufpassen“, tönt er. Aber wie soll ein Mann, der die Ausgaben in seinem eigenen Amt und Haushalt, das Verhalten seiner Familie (incl. Yairs berüchtigte Twitter-Anfälle), das Verhältnis zu reichen und berühmten „Freunden“ nicht unter Kontrolle hat, Israel würdig vertreten? Geht doch alles nicht zusammen.

Es gibt viele Leute hier in Israel, für die ist Bibi einfach der König und er darf alles. Meine Friseurin ist eine reizende junge Frau und ich mag sie sehr, aber wenn sie anfängt über Bibi zu reden, mach ich einfach die Ohren zu. Oder versuche es. Also, Bibi wird ja von den Medien übelst verleumdet. Daß Bibi selbst die Dinge über Journalisten, Justiz, Polizei und sogar den Präsidenten gesagt hat, die viele gesetzestreue Israelis die Palme hochtreiben, weiß meine Friseurin nicht, weil sie keine Nachrichten guckt und keine Zeitung liest. Ihre Eltern haben ihr irgendwann gesagt, daß Likud Zuhause bedeutet und ihr Mann, selbst Polizist, stört sich nicht an Bibis Ausfällen.

Ich selbst habe ja eine gestufte Meinung zu Bibi. Im grünen Bereich sind (trotz einiger Abstriche – Trumps Pudel…) sein außenpolitisches Geschick und sein Unwille, in eine riesige militärische Auseinandersetzung einzusteigen. Im gelben Bereich sein mangelndes Interesse an sozialen Themen und seine Art, wichtige Ministerien und Themen rein als Einflußgebiete, also machtpolitisch, zu behandeln – darüber klage ich ja oft, wie sehr Landwirtschaft, Bildung, Pflege, Gesundheitswesen etc vernachlässigt worden sind, wie sehr diese Themen einfach von einem zum anderen geschoben wurden. Aber das hat er wohl mit vielen anderen Politikern gemeinsam.

Eindeutig im roten Bereich aber sind für mich die Vorwürfe gegen ihn, die erst ausgeräumt werden müssen, bevor ein Mandat hat.

Was Netanyahu einst über Olmert sagte: daß ein Mann, er bis zum Halskragen in juristischen Verwicklungen steckt, ein Land nicht führen kann, all das trifft jetzt Wort für Wort auf ihn zu.

Und darum wäre die einzige Möglichkeit, diesen Plonter dauerhaft aufzulösen – um eine funktionsfähige Regierung auf die Beine zu stellen, die nicht beim ersten Konflikt an den Nähten zerreißt – eine Koalition von Likud und Blau-Weiß, aber ohne Netanyahu. Dahin führen zwei Wege.

Erstens ist es denkbar, theoretisch, daß ein paar Likudniks, denen Netanyahus Festhalten an der Macht um jeden Preis schon lange gegen den Strich geht, sich gegen ihn auflehnen. Entweder Urwahlen fordern oder aber die Fraktion spalten – wie unter Sharon geschehen, der einen Teil der Likudniks mitnahm. Allerdings ist die Likudpartei normalerweise sehr loyal ihren Köpfen gegenüber, und da Bibi viele blinde Anhänger hat wie meine Friseurin, wäre das eine gefährliche Strategie. Ich glaube nicht, daß sie es tun würden – Netanyahu hat ja mit Absicht keinen Nachfolger herangezogen und er traut niemandem, nicht mal den größten Schmeichlern.

Zweitens wäre es theoretisch denkbar, daß Netanyahu selbst einsehen könnte, daß ER es ist, der Israel zum zweiten Mal an die Wahlurne getrieben hat und dafür gesorgt hat, daß wir seit einem Jahr keine funktionierende Regierung haben. Er könnte ein Einsehen haben, eine schöne Rede halten wie einst Olmert, von allen Ämtern zurücktreten, sich von der Politik zurückziehen und mit seinen Rechtsanwälten den Kampf um seine Unschuld und seinen guten Namen aufnehmen.

Aber Bibi wäre nicht Bibi, wenn er das täte.

Er möchte nicht nur die Macht in Händen halten, weil er andere für unfähig hält, dieses Amt zu erfüllen – weil er es für sein Recht hält, Israels König zu sein – weil er echte Sorge hat, daß niemand den Eiertanz zwischen Putin und Trump, Assad und Rouhani zu vollziehen – sondern auch, weil er eine politische Machtposition braucht. Sein Plan war, sich mit einer Mehrheit von 61 Stimmen eine Immunität zu besorgen, an der die Vorwürfe zerschellen müßten.  Dann hätte Generalstaatsanwalt Mandelblit (den übrigens Bibi in sein Amt gehoben hat, weil er dachte, Mandelblit würde es ihm irgendwie danken….) keine Handhabe gegen ihn gehabt.

Doch Mandelblit, früherer Kabinettssekretär Bibis, ist fest entschlossen, ihn vor Gericht zu bringen, wenn nötig. Und ich muß sagen, daß Bibis absolute Entschlossenheit, das zu verhindern, bei juristischen Laien wie mir eher den Eindruck erwecken, daß er etwas zu verbergen, etwas zu befürchten hat.

Hier ein bißchen mehr über Mandelblit. Man kann nicht anders als ihn respektieren. Er steht unter Druck von allen Seiten, Bibisten und Anti-Bibisten.

Bibi trifft also in der heutigen Situation lauter Leute wieder, denen er mal sehr verbunden war, ja die er gefördert hat, die aber irgendwann im Krach von ihm geschieden sind. Lieberman, Ayelet Shaked (die der Likud viele Mandate hätte bringen können, wenn Netanyahu sie nur mit auf die Liste genommen hätte), Barak (der es zwar nicht in die Knesset geschafft hat, dessen Manöver im Wahlkampf aber viel Aufmerksamkeit bekamen und dessen Partei ein Dorn in Netanyahus Seite ist), Rivlin, den er politisch beiseitegedrängt hat…

Barak ist der einzige, der Netanyahu mal übergeordnet war – er war sein Commander in der Armee und hat ihn auch mal bei den Wahlen geschlagen. Alle anderen haben ihre Karrieren unter Netanyahu begonnen. Vielleicht kein Wunder, daß er niemandem traut. Er weiß, daß sie alle schon darauf warten, ihre Karrieren ohne ihn fortzusetzen. Aber so ist das nun mal in einer Demokratie. Die Queen hat diese Probleme nicht (dafür hat sie andere).

Was soll also jetzt passieren? Keine Konstellation ergibt stabile 61 Sitze.

Aber dritte Wahlen, die darf es einfach nicht geben.

Eine Frage, keine Antwort. Bisher September 27, 2019, 12:46

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In den letzten Jahren habe ich oft und unermüdlich bei Twitter, aber auch hier die Frage gestellt:

Warum hat Abu Mazen Olmerts Angebot abgelehnt?

Es ist natürlich nicht das erste oder einzige Angebot für eine Friedensregelung gewesen, aber es war vermutlich das beste. Das muß Abu Mazen auch klar gewesen sein. Eigentlich hat er es nicht mal abgelehnt, sondern einfach nur nie darauf geantwortet. Später erst hat er zugegeben, daß das eine Ablehnung war.

Saeb Erekat, der in den deutschen Medien als „Chefunterhändler“ immer noch Prestige genießt, bezeugt dieses Angebot.

Wie Palwatch ganz richtig resümiert, werden die Palästinenser in absehbarer Zeit kein besseres Angebot bekommen. Warum haben sie es also abgelehnt? Wem Twitter für seine Antwort zu kurz ist, der kann sie gern in den Kommentaren niederlegen.

(Olmerts Bitterkeit im Rückblick ist verständlich, aber zum Thema israelische Justiz und Politik schreib ich vielleicht später mal was – nur so viel, die israelische Justiz hat ein extrem scharfes Auge auf die Politik, und Olmert wußte das.)

Netanyahu und die israelischen Medien September 19, 2019, 17:17

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Netanyahu bringt immer wieder die Klage vor, daß „die Medien“ gegen ihn seien und überhaupt ganz und gar links unterwandert. Ich halte diese Klage für unbegründet. Im Gegenteil gefällt mir bei den israelischen Medien eine Vielfalt der Meinungen, zu fast allen Themen, wenn kommentiert wird. Und es gibt auch Journalisten, bei denen man merkt, daß sie ihre Meinungen nicht nach Schema X aus der Schublade nehmen, sondern eine professionelle Distanz bewahren. Insgesamt ist es ziemlich leicht zu erkennen, ob ein Journalist berichtet oder kommentiert.

Was Zeitungen angeht – ich empfehle gern die Übersicht englischer Artikel, immer aktuell, von Rotter.net. Dort geht es von eher „rechten“ (nationalreligiös geprägten) Medien wie Arutz 7 und der anglo-sächsischen Jerusalem Post über die „Mitte“ (Ynet, Times of Israel) bis zur „linken“ (säkular-urbanen) Haaretz. Wobei für Haaretz auch eher konservative und für JPost auch eher linke Journalisten schreiben. Wenn man zu einem Thema Artikel und Kommentare mehrerer Zeitungen liest, hat man automatisch mehrere Gesichtspunkte. Und das sollte man ja sowieso tun. Also, diese Seite kann ich wirklich empfehlen, denn man hat ganz bequem die Links zusammen, auch wenn sie optisch etwas rustikal wirkt.

Wer kein Ivrit versteht, der hat es schwerer, sich ein Urteil über die israelischen Fernsehsender zu machen – die englischsprachige Berichterstattung kenn ich gar nicht mehr, und sie ist auch eher marginal.

Insgesamt gibt es hier drei große Fernsehsender, deren politische Berichterstattung und Nachrichtensendungen um die Zuschauer konkurrieren. Die ganze Fernsehlandschaft in Israel hat mehrere große Umwälzungen mitgemacht, ich beziehe mich auf die aktuell beliebten Sender.

Kan11 ist der Sender, den ich am liebsten sehe. Es ist der öffentlich-rechtliche Sender und hat viele gute Sendungen im Angebot, die ich manchmal im Internet angucke, wenn ich sie verpaßt habe. Seine Optik ist eher schlicht, man kann jederzeit live im Internet zugucken, und es gibt dort nicht wenige Kipa-Träger, von denen einige offen konservativ sind (Erel Segal), andere neutral und kompetent. Die Expertin für militärische Themen, Carmela Menashe, ist mir bei dem Thema am liebsten.

Bei Mako kann man die Nachrichten von Kanal 12 sehen, Nachfolger des ersten privaten Kanals in Israel, Kanal 2. Ich glaube, Kanal 12 ist am beliebtesten, die Journalisten sind am bekanntesten und insgesamt haben einige von ihnen ausgesprochene Kritik an Netanyahu geäußert, weswegen sie oft als Beispiel für das „abgekartete Spiel“ der Medien zitiert werden. Aber sie fassen auch linke Politiker nicht mit Samthandschuhen an. Allerdings ist einer ihrer deutlichsten Kommentatoren, Amnon Abromovitch, auch deutlichster Kritiker Netanyahus.

Kanal 13 ist Nachfolger des früheren Kanal 10 und ich sehe ihn seltener (sehe überhaupt praktisch nur Nachrichten und dann Kan11, weil die im Internet senden), aber auch dort ist das Meinungsspektrum gemischt.

Wer sich nur von Haaretz und Kanal 12 ernährt, hört allerdings mehr Kritik an Netanyahu als Lob, aber es reicht, einmal Segal und Liebeskind auf Kan11 zuzuhören, oder aber im Radio Kobi Ariel und Irit Linur, und schon hat man auch andere Stimmen.

Insgesamt finde ich Netanyahus Kritik unberechtigt, obwohl ich verstehen kann, daß es ihn ärgert, wenn seine verschiedenen Eskapaden von Satiresendungen auf die Schippe genommen werden.

Vor zwei Jahren, Eretz Nehederet (Ein wunderbares Land) – was wie Klamauk aussieht, hat einen ziemlich scharfen Text, der ein paar von Bibis typischen Reaktionen auf Vorwürfe zitiert.

Aber vor zehn Jahren hat dieselbe Sendung nicht nur Bibi, sondern ebenso Peretz und Olmert aufs Korn genommen.

Und daß es Bibi nicht wirklich stört, wenn er brilliant kopiert wird, weil er weiß, daß er das auch für sich nutzen kann, sieht man an seinem Auftritt sowohl bei Eretz Nehederet

als auch bei Lior Shlain, wo er ebenfalls regelmäßig durch den Kakao gezogen wird.

Netanyahus Umgang mit diesen Satiresendungen ist nicht ungeschickt, und er macht das eigentlich ganz souverän.

Viel problematischer ist, daß er keine Interviews gibt, nur kurz vor den Wahlen. Auch bei Pressekonferenzen wimmelt er die Journalisten gern ab. Und wenn er Journalisten verärgert, dann machen sie sich irgendwann Luft.

Ein Teil der Vorwürfe gegen Netanyahu haben auch mit den Medien zu tun – nämlich, daß er sich positive Berichterstattung einer beliebten News-Seite im Internet verschafft haben soll (der sog. Fall 4000). Darüber wird natürlich relativ viel berichtet, weil es die Journalisten selbst interessiert.

Es ist möglich, daß er vorverurteilt wird, bzw daß sich hinterher vor Gericht Vorwürfe in Luft auflösen, weil sein Verhalten nicht gegen Gesetze verstieß – trotzdem ist vieles davon diskussionswürdig. Und anderen Politikern ging es nicht besser, wenn sie unter Verdacht gerieten. Sie stießen öffentliche Diskussionen an. Die israelische Justiz verfolgt, soweit ich es beurteilen kann, scharf, besonders Politiker.

Es wird ihn auch geärgert haben, daß eine Aufnahme in miserabler Qualität gesendet wurde, wo man hört, wie seine Frau am Telefon einen Redakteur anblafft, weil sie sich nicht positiv genug dargestellt sah. Ich kann sogar verstehen, daß es sie nervt, als Psychologin mit M.A., immer wieder als Ex-Stewardess erwähnt zu werden, aber die Aufnahme ist peinlich. Vielleicht wäre sie in einem anderen Fall nicht veröffentlicht worden, aber Sara Netanyahu ist beliebte Zielscheibe von Journalisten, die sich an Bibi selbst nicht drantrauen. Daß sie zu dem Thema mehrere Interviews gegeben hat, in denen sie sich über die Berichterstattung beschwert, hat leider nicht geholfen – da hält es die Familie Windsor mit „never explain, never complain“ wohl besser.

Selbst ihre Versuche, die Vorwürfe über einen luxuriösen Lebenswandel zu entkräften, indem sie einem bekannten Innenarchitekten zeigt, wie schlicht der amtliche Wohnsitz des Premierministers ist, wie in die Jahre gekommen, wurde zum Bumerang – jeder weiß, daß die Netanyahus eine Villa in Caesarea haben, und ihre Klagen über ausgefranste Teppiche, wie peinlich, wenn die Obamas kommen!, kam irgendwie nicht so rüber, wie sie es geplant hatte.

Eigentlich wurde nur Leah Rabin ähnlich angegriffen wie sie – Sonia Peres war praktisch unbekannt, Aliza Olmert als Malerin und Sozialarbeiterin eher respektiert als kritisiert, und überhaupt war vor den Netanyahus keine politische Familie so im Rampenlicht. Bei seinen Reden merkt man Netanyahu an, daß das seine Achillesferse ist – die Kritik an seiner Frau und seinen Söhnen empfindet er als unfair, weil diese nicht gewählt wurden und sich nicht aussuchen konnten, allgemein bekannt zu sein. Die Söhne kennen es gar nicht anders.

Avner, der jüngere Sohn, wurde von Demonstranten so persönlich angegangen, daß er sich vor Gericht dagegen wehrte. Er macht einen sensiblen Eindruck und scheint eher darunter zu leiden, daß seine Familie so bekannt ist. Ein Journalist erzählte, daß Avner ihm sagte, er würde nie Politiker werden wollen, weil das für die Familie unzumutbar ist – und typisch, daß dieser Journalist das nicht für sich behielt.

Der ältere Sohn dagegen, Yair, twittert und schießt bei der Verteidigung seines Vaters manchmal übers Ziel hinaus. Damit hat er sich in die öffentliche Arena begeben, und da er als engster Ratgeber seines Vaters gilt, ohne gewählt zu sein oder eine offizielle Funktion zu haben, ist er damit heute wohl der umstrittenste Netanyahu.

Wenn Netanyahu den Medien vorwirft, daß sie sich die Zähne an seiner Familie wetzen, dann entgegnen die Medien, daß er es war, der im amerikanischen Stil seine Familie erst in Szene gesetzt hat. (Außerdem kommen er und seine Frau aus bekannten Familien der ashkenasischen Oberschicht). Trotzdem kann ich verstehen, daß er deswegen grollt.

Aber was die Berichterstattung und Kommentare zu seiner Politik angeht, finde ich die Medien insgesamt fair. Zu allen Fernseh-Diskussionen werden auch mehr oder weniger eloquente Likud-Politiker eingeladen, die Netanyahus Standpunkt erklären. Daß ein Tribunal von linken Kommentatoren und Politikern den Stab über ihn bricht, ohne daß lebhaft widersprochen wird, ist jedenfalls nicht die Regel.

Man muß außerdem mehr als nur eine Quelle lesen oder hören. Das ist ja bei jedem Thema so.

 

Wahltag September 17, 2019, 20:57

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Wir sind im Deja-vu. Genau dieselben Phrasen, Versprechungen und gegenseitigen Vorwürfe haben wir im April schon gehört. In einer halben Stunde werden die Wahllokale geschlossen und die ersten Hochrechnungen (midgam) werden veröffentlicht. Nach der Peinlichkeit im April, als aufgrund von Hochrechnungen beide Kandidaten ihren Wahlsieg feierten, werden sie diesmal wohl vorsichtiger sein.

Von dem ganzen hektischen Irrsinn um die Wahlen haben wir heute wenig mitgekriegt, weil für die Familie ein Trauertag war. Wir standen traurig auf dem Friedhof im Kibbuz, um einen Jahrestag zu begehen. Heute genau vor einem Jahr haben wir auf tragische Art und Weise eine nahe und sehr geliebte Verwandte verloren. Und so war heute die ganze große Familie versammelt.

Nach dem Besuch des Grabs kam das gemeinsame Essen im Haus meines Schwagers, der noch im Kibbuz wohnt. Ich habe immer große Freude daran, wie der Tisch aussieht, auf dem wir alle mitgebrachten Sachen aufbauen. In Y.s Familie essen alle so wie ich – viel Gemüse, Hülsenfrüchte, Qinoa, Salate, Obst, alles frisch, alles leicht. Ein nicht geringer Anteil der Familie ißt wenig oder gar kein Fleisch, und ein Anteil der Jugend ißt vegan.

Alkohol wird bei diesen Treffen nie getrunken, anders als in der deutschen Familie, wo Wein, Sekt und Prosecco fließen, und zu Weihnachten auch die Feuerzangenbowle….

Nicht auszudenken, wenn ich in eine Familie eingeheiratet hätte, für die eine gute Mahlzeit aus Fleisch, Wurst und Sättigungsbeilage besteht! Gegen ein Gläschen Wein allerdings hätte ich nichts einzuwenden.

Die Familie, die nach der Shoah winzig war, hat sich inzwischen deutlich vergrößert. Alle Vettern, Cousinen, Nichten und Neffen im fortpflanzungsfähigen Alter sind glücklich verbandelt, und viele von ihnen haben energiegeladene Kinder aller Altersstufen, die froh sind, wenn sie im Kibbuz auf der Wiese toben können. Nichts hebt die Stimmung mehr als den Kindern zuzugucken. Tertia hat mit den Älteren Taki gespielt, ein Kartenspiel, und die Stimmung entspannte sich.

Irgendwann fingen dann alle an, von den Wahlen zu sprechen. Alle hatten gewählt. Die geborenen Kibbuzniks stellten fest, daß sie in den letzten Jahren sacht in Richtung Mitte abwanderten (obwohl es immer noch Meretz-Wähler in der Familie gibt ). Man erinnerte sich an die Mapam-Partei, der die Großeltern und eigentlich alle Kibbuzniks selbstverständlich angehörten. Aus Mapam wurde nach dem Zusammenschluß mit Ratz Meretz (alles Abkürzungen), und jetzt hat sich Meretz mit Baraks Partei zusammengeschlossen und das Ganze heißt „Demokratisches Lager“.

Die Eingeheirateten, die teilweise aus konservativeren Häusern kamen, hatten eine ähnliche Wanderung in Richtung Mitte hinter sich. Sonst diskutieren wir solche langsamen Wandlungen politischer Standpunkte eher selten, aber am Wahltag kam die Sprache ganz natürlich darauf. So haben also die meisten Blau-Weiß, einige auch Demokratisches Lager oder Arbeitspartei-Gesher gewählt. Es war eine sehr interessante Diskussion, die sich ähnlich bestimmt in vielen Familien abgespielt hat, egal was sie wählen.

Die öffentlichen Verkehrsmittel sind heute nämlich umsonst und gearbeitet wird nicht, so daß viele Leute zusammen Ausflüge gemacht haben oder Familientreffen wie wir.

Jetzt sitzen wir vor dem Fernseher und warten auf die Hochrechnungen der drei großen Fernsehsender. Es geht um viel. Netanyahu kämpft um mehr als seine politische Karriere. Ohne den Rang als Premierminister gibt es keine Möglichkeit, seinen Vorladungen und Anhörungen eventuell auszuweichen. Aber bei aller Anerkennung für sein Geschick im Eiertanz des Nahen Ostens, für seine Entschlossenheit bei der Verteidigung gegen den vom Iran inszenierten Schattenkrieg, für seinen Verdienst bei der Verbesserung von Israels internationalem Einfluß in vielen früher unerreichbaren Ländern (für die wir mit Verlust anderer Freundschaften zahlen….) – wir alle können und wollen ihn nicht mehr sehen.

Ich bin dafür, daß ein Premierminister nicht öfter als zweimal gewählt werden darf. Ein andermal schreibe ich mal mehr darüber, warum ich bei der Anerkennung seiner Verdienste Netanyahu trotzdem für destruktiv halte. Aber jetzt gucken wir die Hochrechnungen. Das wird eine lange Nacht. Immerhin haben wir gut gegessen. Haltet uns die Daumen.

Unwissenheit oder Kalkül? September 16, 2019, 9:43

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Wieder einmal setzt ein palästinensischer Politiker historisch ganz früh an, um den Juden jede Verbindung zum Land Israel abzusprechen. Diesmal ist es der PA-Kulturminister Atef Abu Saif, der erklärt, daß die Juden erst neulich hier angekommen sind und ihre Geschichte schlicht erfunden haben. Hingegen die Palästinenser! Sie sind die Nachfahren der historischen Kanaaniter.

Daß es nicht den geringsten Beweis dafür gibt, keinerlei kulturelle oder sprachliche Spuren der Kanaaniter in der modernen palästinensischen Identität, das stört weder ihn noch seine Zuhörer. Heutige Palästinenser tragen arabische oder christliche Namen, sie feiern muslimische oder christliche Feste.  Es handelt sich also um eine schlichte Fiktion, noch abwegiger als Felix Dahn Inanspruchnahme der Ostgoten als ferne Ahnen der Gründerzeit-Deutschen.

Weitaus wahrscheinlicher ist ja historisch, daß viele der heutigen Palästinenser in einer der großen arabischen Einwanderungswellen aus anderen Ländern gekommen sind, z.B. der arabischen Halbinsel. Oft läßt sich das ja sogar am Familiennamen ablesen (Hallabi – aus Aleppo, al-Masri, aus Ägypten etc). Außerdem kann man sich ja mal fragen, woher auf einmal in der Zeit der muslimischen Eroberung die vielen Muslime kamen. Aus Drachenzähnen werden sie ja wohl kaum gesät worden sein, sondern es waren Konvertiten – und so wie manche Juden zum Christentum konvertiert sind, werden wohl auch viele muslimisch geworden sein. Was auch erklären würde, warum sich Juden und Palästinenser genetisch ähneln.

Die sprachliche, kulturelle und religiöse Kontinuität des Judentums und jüdischen Volks jedenfalls sind unbestreitbar bezeugt, über Jahrhunderte hinweg, und wurden auch nie bestritten, außer eben in den letzten Jahrzehnten durch Gegner des Staats Israel.

Vor der Staatsgründung Israels gab es eine einflußreiche Gruppe von Künstlern und Autoren, die sich Kanaaniter nannten – weil sie sich von der Kultur der Diaspora absetzen wollten und die Wurzeln des Judentums in lokalen, polytheistischen Kulturen suchten.

Itzhak Danzigers Skulptur Nimrod aus dem Jahr 1939 ist bekanntester Ausdruck dieser Kunstrichtung, die sich radikal von der ersten Generation orientalisierend-klassizistischer Künstler der Bezalel-Schule abwandte.  Ein weiterer Ausdruck der Abwendung von der Kultur der Diaspora war die Hebraisierung von Vor- und Nachnamen, und die Vergabe von Vornamen, die in der Bibel als Negativfiguren galten – oder aber gleich Vornamen, die aus der Fauna und Flora entnommen wurden, manche biblisch verbürgt, manche nicht.

Ich hätte kein Problem damit, wenn palästinensische oder israelisch-arabische Künstler ebenfalls auf die Ikonographie und formalen Merkmale nahöstlicher Völker vor 5000 Jahren zurückgreifen würden, um die eigene Geschichte und Position in Frage zu stellen, sich von anderen abzugrenzen oder einfach zu experimentieren und sich inspirieren zu lassen. Das haben Modigliani und Kiki Smith auch getan. Aber daraus so weitgehende politische Ansprüche ableiten?

Kulturelle Identität ist wandelbar, sollte aber nicht willkürlich instrumentalisiert werden. Privat hat jeder das Recht, sich als letzter Ubier oder wiedergeborener Astoreth-Anbeter zu fühlen, aber das bedeutet noch nicht, daß jede historische Fiktion auch Grundlage für politische Forderungen werden darf. Und wer die historischen Fakten leugnet (wozu auch die systematische Zerstörung archäologischer Artefakte in der PA paßt), der lügt.

Die Stoßrichtung solcher Aussagen wie der von al-Saif ist klar: die jüdische Präsenz im Nahen Osten soll als von Grund auf unrechtmäßig dargestellt werden. Das paßt zur Linie der politischen palästinensischen Führung, die nicht an Frieden interessiert ist, sondern an der Auslöschung Israels.

Daß solche Aussagen in westlichen Medien niemals aufgegriffen und in Kontext gesetzt werden, ist ein weiterer Grund, sich selbst schlau zu machen.

Spannung, Krise, Beruhigung September 1, 2019, 18:46

Posted by Lila in Land und Leute.
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Wir wußten ja, daß sich was zusammenbraut, und darum hatte ich das Radio auf leise im Hintergrund an. Gegen 16.00 gingen die Journalisten im Studio von Anekdoten und Geplänkel auf einmal zu angestrengt-nicht-nervösen Berichten von der Grenze über.

Hisbollah hatte mehrere Kornet-Raketen (gegen Panzer) auf Militärfahrzeuge gefeuert. Jetzt wissen wir, daß es sich dabei um ein Sanitätsfahrzeug gehandelt hat, und zwar ganz in der Nähe von Avivim, einem Grenzdorf (vielleicht sogar in Avivim, genaue Informationen gibt die Armee nicht raus, damit die Hisbollah nicht an ihrer Zielgenauigkeit feilen kann).

Die erste Sorge war: ist jemandem was passiert? Gerüchte liefen sofort um, ich weiß nicht mal genau, wie man sie aufnimmt, durch Osmose vermutlich, denn in den Fernsehstudios sorgen Armeeverteter dafür, daß nichts berichtet wird, was nicht stimmt oder was für fremde Ohren nicht bestimmt ist. Aber es hieß, ein Haus in Kibbuz Baram wurde getroffen, und ein Videoclip machte die Runde, von einem Hubschrauber, der im Rambam-Krankenhaus in Haifa landete. (Wer weiß, von wann der Clip ist – der Himmel ist heute viel diesiger als auf dem Bild, auch in Haifa).

Und sofort legt sich ein innerer Hebel um – was machen wir, wenn 2006 sich wiederholt? Ich habe den Schutzraum ja immer fertig, bin aber nicht reingegangen. Die Armee gab Anweisung: Anwohner der Grenzlinie, also näher als 4km an der Grenze, sollen zuhause bleiben oder in anderen Gebäuden mit Schutzraum. Aber nicht in die Schutzräume selbst. Genauso habe ich es also gemacht. Bin in der Küche geblieben, wo ich Blick auf den Fernseher im Wohnzimmer habe. Die Tür zum Küchengarten habe ich offengelassen, um zu hören, was draußen los ist. Wir wohnen ja an einem Hang in Richtung Süden, und wie erwartet habe ich nichts gehört. Nur Flugzeuge und Hubschrauber in der Luft.

Ungefähr zwei Stunden war die Spannung groß – was passiert jetzt? Es war klar: eine Eskalation ist möglich. 2006, ich erinnere mich noch genau an den Tag, wurden nicht nur Grenzsoldaten getötet und verschleppt, sondern auch Dörfer an der Grenze stundenlang beschossen (Zarit und Shtula). Es war also ein viel größer angelegter Angriff als heute.

Hätte es heute mehr als diesen einen Angriff gegeben, und hätte es israelische Verletzte oder gar, chalila, Tote gegeben, dann wären wir jetzt in einer Eskalation, und ich müßte mir überlegen, wie ich Tertia davon überzeuge, ihre ungeschützte kleine Wohnung in Nahariya zu verlassen und bei uns zu bleiben (sie hat in erreichbarer Nähe keinen Schutzraum).

Tertia, die sich um die Nachrichten nicht schert, hatte auf mein Bitten hin im Internet nachgelesen, wie man sich ohne Schutzraum bei Alarm verhält. Treppenhaus aufsuchen – hat ihr Mini-Häuschen nicht. Innenwand aufsuchen – die ist auch windig gebaut. Das Dach ist auch nicht gerade vertraueneinflößend. Aber Tertia hatte die ideale Lösung gefunden: sie hat doch einen guten, stabilen Kaffeetisch, und bei Alarm hockt sie sich darunter, wie finde ich das?

Oh, super finde ich das. Habe ihr empfohlen, sich da noch ein Stück Wellpappe oder etwas Zeitungspapier drüberzulegen, dann bin ich richtig beruhigt! Das fand sie zum Kichern, und ich dann auch, und am Ende war es alles, dem Himmel sei Dank, nicht nötig.

Die Armee hat eine ganze Weile keine Informationen über Verletzte veröffentlicht, und das ist oft ein schlechtes Zeichen – jeder in Israel weiß, daß die Armee erstmal Familien benachrichtigt, und die Medien hier dürfen keine Andeutungen machen. Hisbollah veröffentlichte wechselnde Zahlen von Toten und Verletzten und behauptete auch, sie hätten Israel großzügigerweise erlaubt, diese zu bergen. Und in Beirut gingen wohl die Parties los.

IDF feuerte zurück, und die Anwohner hörten wohl über eine Stunde lang das unerfreuliche Gewummer von Artilleriebeschuß.

Und dann kam die offizielle Bestätigung: keine Toten, keine Verletzten. Wer glaubt, IDF könnte so etwas verbergen, der kennt Israel nicht. Hier sind die meisten Leute sehr besorgt um ihre Soldaten, und Israelis sind gut vernetzt. Jeder kennt jeden. So wie nach schrecklichen Verkehrsunfällen sofort die Namen rumgehen und keiner mehr als 3, höchstens 4 Ecken der Bekanntschaft braucht, so ist es auch bei Soldaten. Wenn es Verletzte gibt, setzen sich sofort Journalisten im Krankenhaus fest und berichten, wie es ihnen geht, und geben Bitten der Familie um Gebete wieder.

Bei Todesfällen ebenso. Es werden sofort in der Umgebung des Wohnorts Todesanzeigen angeschlagen und in den Medien durchgesagt, wann die Beerdigung ist – oft noch am selben Tag, das Judentum beerdigt sofort, und dann kommt die Trauerwoche. Es wird sofort alles öffentlich gemacht, damit jeder, der will, zur Beerdigung kommen kann. Die Anteilnahme ist immer groß, sowohl  nach Unfällen als auch bei Armee-Zwischenfällen, alle kennen die Bilder der Betroffenen.

So war auch die Solidarität für die gekidnappten Soldaten immer groß. Mir fällt gerade nichts ein, was das deutsche Publikum emotional und mental so vereinigen würde wie hier die Sorge um die Soldaten und Soldatinnen.

Also, wenn veröffentlicht wird, daß es keine Verletzten und Toten gibt, dann gibt es auch keine. Und die Armee hat auch, als klar wurde, daß der Vorfall beendet ist, die Warnung aufgehoben. Kurze Zeit später fuhren hier wieder die Autos wie an einem normalen Tag, und draußen toben wieder Kinder.

Israelis sind normalerweise ein undisziplinierter Haufen. Bei Flügen nach Israel kramen die ersten Israelis schon über Zypern ihr Handgepäck aus den Klappen und zappeln in den Sitzen. In Schlangen wird geschubst und gezickt. Aber Anweisungen der Armee werden befolgt. Zuhause bleiben oder nicht – Schutzräume aufsuchen oder nicht – die vielen Übungen des Heimatfront-Kommandos tragen Früchte. Klar, es gibt immer die Abenteuerlustigen, die mit dem Handy filmen und sofort an die TV-Sender schicken, während im Hintergrund die Familie ruft: kommst du wohl in den Schutzraum! Aber insgesamt klappt das alles gut. Wir richten uns nach den Anweisungen der Armee, zu unserer eigenen Sicherheit. Wir sind lieber ein bißchen vorsichtiger, besonders Familien mit Kindern.

Jetzt ist also alles wieder normal, der kollektive Adrenalinspiegel ist wieder im normalen Bereich. (Vermutlich waren Leute in Tel Aviv auch weniger auf dem Sprung als wir hier, die betroffen sind).

Es bleibt zu hoffen, daß sich Nasrallahs Rache damit erledigt hat. Er frohlockt über Tote, die es nicht gegeben hat, und feiert seinen Sieg. Aber das tut er ja immer.

Ich wüßte gern, was Nicht-Hisbollah-Libanesen darüber denken, daß der Iran ihr Land als Sprungbrett für den Angriff gegen Israel mißbraucht. Wüßte gern, ob Hariri es fertigbringen könnte, mit internationaler Hilfe, Hisbollah unter Kontrolle zu bringen – obwohl es dafür bestimmt schon zu spät ist, das hätte in den 1980er Jahren geschehen müssen.

Hisbollah dürfte gar nicht so weit südlich sein, an der israelischen Grenze. Wir waren in den letzten Monaten öfter auf einem Berg, von dem aus man eine gute Aussicht in den Libanon hat – über den Ausflug schreibe ich später mal. Aber man sieht gut, wie Hisbollah sich dort festgesetzt hat und baut.

Wir müssen uns schützen, wir haben keine Wahl, wir haben kein Hinterland und eine kleine Armee, die sich keine Schwäche erlauben kann. Wir haben mit dem Iran einen Feind, der nicht zur Ruhe zu bringen ist, der kein Kriegsziel hat außer unserer Vernichtung. Unser einziges Kriegsziel ist, daß er seins nicht erreicht.

So sieht es aus.