jump to navigation

Ich bin eine miserable Prophetin März 27, 2020, 3:13

Posted by Lila in Land und Leute, Uncategorized.
trackback

Ich hätte eher geglaubt, daß Benny Gantz mit der arabischen Joint List koaliert oder daß jemand im Likud einen Aufstand macht (obwohl das in den letzten Monaten unwahrscheinlich wurde, weil Bibi alle Konkurrenten matt gesetzt hat), als daß er bei Netanyahu unterkriecht. Die letzten Wochen waren extrem unübersichtlich – nachdem wieder mal keine Partei einen echten Sieg feiern konnte (manche es aber trotzdem taten, wohl in dem Wunsch, eine so-gut-wie-Niederlage zu kaschieren), schaffte Gantz sich eine Mehrheit, und zwar durch die Unterstützung der Joint List. Diese Liste ist problematisch, nicht weil es Araber sind (die es in anderen Parteien auch gibt), sondern weil sie aus vier Mini-Parteien besteht, von denen mindestens zwei extreme anti-israelische Ansichten vertreten und keine Absicht haben, irgendwelche echte Verantwortung zu übernehmen.

Aus Knesset-technischen Gründen war Gantz´ Taktik, Bibi aus dem Sessel zu heben, davon abhängig, den geschäftsführenden (also nicht neu gewählten) Sprecher der Knesset auszutauschen und durch ein Blau-Weiß-Mitglied zu ersetzen. Der Sprecher wehrte sich dagegen und trat schließlich nach einem unwürdigen Spektakel ab. Benny Gantz hat diese Rolle jetzt übernommen, nur für kurze Zeit, bis die neue Koalition steht. Dadurch, daß Gantz jetzt auf einmal bereit ist, mit Netanyahu zusammenzuarbeiten (was er sich vor einem Jahr schon hätte überlegen können), hat dieser eine breite Koalition von rechten und ultra-orthodoxen Parteien. Gantz´ Parteienbündnis Blau-Weiß ist damit zerbrochen. Gantz und Ashkenazi gehen mit Bibi, Bogie und Yair Lapid gehen in die Opposition (sie haben beide bereits als Minister unter Bibi gedient und wissen wohl, warum ihnen die Opposition lieber ist).

Eigentlich sollte ich zufrieden sein, denn in der Albtraumsituation mit Corona-Virus, landesweitem Hausarrest und echten Ängsten braucht das Land eine Regierung, die breit aufgestellt ist, nicht bei jeder Abstimmung um ihre Mehrheit bangen muß, und die sich um die unabsehbaren sozialen, wirtschaftlichen und menschlichen Folgen dieser Pandemie kümmert. Es war auch klar, daß Gantz schon mehrmals beinahe klein beigegeben hätte, und daß nur äußerster Druck von Lapid ihn auf der Anti-Bibi-Linie hielt. Sie haben wohl vor dem Zusammenschluß, den ich grundsätzlich begrüßenswert fand, doch nicht bis zu Ende durchdiskutiert, wie weit sie bereit sind, auf Macht zu verzichten, um Bibi nicht zu stützen. Oder Gantz hat Lapid getäuscht. Oder er hat sich in sich selbst getäuscht. Auf jeden Fall enttäuschend.

Hätte Gantz seine Potemkinsche Mehrheit dazu benutzt, Bibi echte Zugeständnisse abzuringen, hätte man noch sagen können, das Wahlergebnis wird doch noch irgendwie anerkannt. Aber Gantz hat versucht, mit allen Tricks, die zwar rechtlich, aber unschön sind, Bibi zu ersetzen, um dann unvermittelt und überraschend doch bei Bibi unterzukriechen. Er kann bis morgen früh beteuern, daß er es wegen des Virus getan hat und dies eine Notstandsregierung ist, aber er hat potentielle Verbündete brüskiert – von Lieberman, der ihn unterstützt hat, bis zur Joint List. Es hat noch niemandem gutgetan, auf Liebermans schwarze Liste zu kommen, wie Bibi bezeugen kann.

Jetzt können Gantz und Ashkenazi mit den Überresten ihrer bis heute Abend starken Partei als Juniorpartner von Bibi mit Posten versorgt werden. Die Kräfteverhältnisse, die Blau-Weiß herausgefordert und in Frage gestellt haben, sind wiederhergestellt. Und wird Bibi tatsächlich den Sessel für Gantz räumen? wie wird Gantz dastehen, wenn Bibis Prozeß anfängt, nachdem er anderthalb Jahre lang beteuert hat, mit einem PM unter Anklage niemals zusammenzuarbeiten?

Wer Gantz gewählt hat, hat das nicht etwa getan, weil Blau-Weiß eine inhaltliche Alternative zu Bibi geboten hätte. In vielen Punkten sind die beiden Parteien fast deckungsgleich. Wer Gantz gewählt hat, hat das getan, um ein weiteres Mal Bibi zu verhindern. In allen drei Wahlen war die Alternative entweder „rak Bibi“ (nur Bibi) oder eben „rak lo Bibi“ (alles nur nicht Bibi). Gantz hat nicht ein einziges Mal gesagt: „unter bestimmten Umständen könnte es natürlich auch nötig sein, mit Bibi zu koalieren, um das Land regierbar zu machen“ oder so. Nein, er hat immer gesagt: alles nur nicht Bibi.

Er hat also, wie Lapid ganz richtig gesagt hat, die Stimmen der rak-lo-Bibi-Wähler genommen und sie Bibi zugeschlagen. Die Wähler werden ihm das vermutlich nicht verzeihen. Lapid selbst hat auch an Glanz verloren, er hat Zugeständnisse an Gantz gemacht, obwohl er schon länger in der Politik Erfahrung hat und eigentlich gern selbst PM-Kandidat geworden wäre. Falls Gantz nicht elend untergeht, ist durchaus möglich, daß die beiden mal gegeneinander antreten werden.

Für uns Mitte-links-Israelis ist wieder eine Hoffnung den Bach runter, Bibi ersetzt zu sehen. Nicht als würde ich Bibis Verdienste nicht anerkennen – ich bin weit davon entfernt, und so eitel auch seine Corona-Auftritte im Fernsehen sind, so vernünftig ist insgesamt die Reaktion der Regierung auf die Bedrohung, auch wenn das von Bibi brutal kurzgehaltene Gesundheitssystem jetzt, wie in anderen Ländern auch, unter der Last zusammenbrechen könnte. Die Maxime, daß sich Medizin rentieren muß, läßt sich nur aufrechterhalten, wenn möglichst viele Leute möglichst gesund sind. Aber Maßnahmen wie Schließung der Grenzen, Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Bürger etc waren gut erklärt und wurden auch zum bestmöglichen Zeitpunkt umgesetzt, zumindest aus heutiger Sicht betrachtet (später werden wir das vielleicht anders sehen). Bibi hat Israel aus vielen Konflikten rausgehalten, dem Iran gegenüber nicht schlecht gepokert, hat außenpolitisch viele Erfolge gefeiert. Ja, er hat Israels Flagge so fest an Trumps Mast genagelt, daß wir es noch bereuen werden (falls wir es nicht schon bereuen), er hat sich auch mit problematischen Herrschern eingelassen, und er hat Israel gefährlich abhängig von China gemacht – zB der Hafen in Haifa, direkt neben dem Hafen der Marine, erbaut und geleitet von Chinesen. Also ein gemischtes Resumee, besonders innenpolitisch eher negativ.

Ich sage immer: Bibi ist sehr gut in den Angelegenheiten, die ihn interessieren. Er ist ein sehr guter Wahlkämpfer und Redner, der sich im Scheinwerferlicht sonnt. Er ist gut in außenpolitischen Manövern und spektakulären Aktionen, mit denen Israel sein Überleben sichern muß. Dinge, die ihn nicht interessieren, wie Landwirtschaft, Gesundheit, Erziehung, Kultur, Tourismus etc werden vernachlässigt. Als Ressorts werden sie Politikern zugeworfen wie Fleischbrocken ins Krokodilgehege, egal, wer es aufschnappt. Auf Kritik reagiert er allergisch und emotional – man sieht ihn überhaupt nur emotional, wenn es um ihn selbst geht. Aber er ist ohne Zweifel der überragende israelische Politiker seiner Generation. Ich anerkenne das alles.

Wie wasserdicht die Anklagen gegen ihn sind, wird sich noch herausstellen, darum sage ich dazu nichts – bis seine Schuld bewiesen ist, hat auch er das Recht auf die Unschuldsvermutung. Viele der Vorwürfe gegen ihn, die nicht justiziabel sind, sind aber so peinlich, daß es für mich schon fast mehr keinen Unterschied macht, was beim Prozeß rauskommen wird – die fordernde Haltung den Millionärsfreunden gegenüber, die Sara eine Kette schenken, nur um zu hören, daß zu dem Set aber noch Armband und Ohrringe gehören. Bibi ist reich genug, um seiner Frau selbst Schmuck zu schenken. Bei solchen Geschichten erröte ich beim Lesen. Mit diesen Kleinlichkeiten im Hinterkopf kann ich Bibi nicht als großen Politiker sehen, denn dazu würde auch menschliche Größe gehören. Gantz weiß das alles.

Wir kennen Bibi mit seinen Vor- und Nachteilen, aber Gantz kennen wir nicht. Er war nicht schlecht als Ramatkal, alles wissen wir sowieso nicht, aber was er wirklich denkt und glaubt, wissen wir nicht. Das israelische Wahlvolk hat ihm dreimal enormes Vertrauen geschenkt. Er hat die Stimmen eingesammelt, die zu Herzogs Zeiten bei der Arbeiterpartei eingingen (wie die sich selbst systematisch ruiniert hat, steht auf einem anderen Blatt). Er hat das Mandat bekommen, Bibi abzulösen. Aber nicht, Bibis Ranzen zu tragen. Er wird dafür zahlen, ich weiß nicht, ob ihm das ganz klar ist.

Ich zweifle auch an seiner Intelligenz, denn selbst ein harmloser Mensch wie ich ist imstande, bei Bibi ein Muster festzustellen. Er lächelt am breitesten, wenn er dabei ist, jemanden zu demontieren. Alle Politiker, die sich von Bibi haben umarmen lassen, waren danach irgendwann beschädigt, entmachtet, blamiert, ausmanövriert oder einfach weg. Konkurrenten in seiner eigenen Partei hat er mit herzlichen Worten kaltgestellt, Bedrohungen aus anderen Parteien in seine Regierung genommen und dort scheitern lassen. Außer Bibi gibt es nur noch einen Mann in der israelischen Politik, der ähnlich giftig auf seine Bundesgenossen wirkt – Bibis Spiegelbild, Ehud Barak. Wer sich von Barak umarmen ließ, konnte gleich entscheiden, welchen VHS-Kurs er nach dem baldigen Ende der politischen Karriere belegen sollte.

Ich glaube nicht, daß Gantz überleben wird, wo Zipi Livni untergegangen ist. Auch Lapids Karriere hat einen Bibi-förmigen Knick. Nicht als ob Bibi nicht auch Schäden genommen hätte – er hat keinen überragenden Sieg mehr erringen können, aus vielen Gründen, aber u.a. auch, weil sich frühere Weggenossen von ihm abwandten und Stimmen mitnahmen.

Es ist ein Elend. Eine große Koalition zweier gleichberechtigter Partner hätte man noch irgendwie hinnehmen können. Aber ein Gantz, der unter einer ganzen Reihe von Koalitionsparteien auch mal Bibis Tasche halten darf, ist wirklich eine absolute Ohrfeige für seine Wähler. Ich war nie ein großer Lapid-Fan, obwohl ich die Regierung, an der damals beteiligt war, mochte – er hat exzellente Leute mitgebracht, und einen besseren Bildungsminister als Shai Piron hatten wir seitdem nicht mehr. Aber Lapid weiß, wie es sich anfühlt, von Bibi ausgetrickst zu werden – der hat ihm damals das Finanziministerium aufs Auge gedrückt. Das Angebot konnte Laipd nach einem „wo ist das Geld, Bibi?“-Wahlkampf nicht ausschlagen, aber er machte keine gute Figur – als Außenminister hätte er wohl deutlich mehr Punkte sammeln können, aber daran hatte Bibi kein Interesse. Doch Lapids Rede heute war gut, und ich mußte ihm leider Punkt um Punkt zustimmen.

Jetzt ist also Gantz dran. Entweder er wird Verteidigungsminister, wofür er qualifiziert ist, aber dann wird er wieder in die alte Rolle rutschen, die er als Ramatkal innehatte (Generalstabschef), nämlich Bibis Idee umzusetzen. Es wird ihm schwerfallen, dort Profil zu entwickeln (wie ihm Lieberman und Bogie Yaalon bestimmt erzählt haben, die haben es beide hinter sich).

Es ist auch möglich, daß Bibi ihn zum Außenminister macht. Ich weiß nicht, wie gut sein Englisch ist, aber seinen hebräischen Reden nach zu urteilen, brilliert nicht gerade mit Beredsamkeit (was in meinen Augen kein Nachteil ist). Bibi macht seine Außenpolitik am liebsten selbst.

Egal was Gantz von Bibis Gnaden nun wird, ich glaube nicht, daß er gedeihen wird.

Immerhin, wir haben eine Regierung, und das ist eine Erleichterung. Aber auf dem Weg dahin sind so viele Wortbrüche und Tricksereien begangen worden, daß ich mich nicht freuen kann.

(Über den Vermittler, der wohl die ganze Zeit Draht sowohl zu Bibi als auch Gantz hatte, in der JPost)

Kommentare»

1. Hein - März 27, 2020, 23:31

Danke für Deine Analyse. Sie hilft, dass jeweilige Durcheinander nach den drei Wahlen zu verstehen.


Hinterlasse einen Kommentar