jump to navigation

Tu bi-Shvat Januar 25, 2024, 22:15

Posted by Lila in Land und Leute.
5 comments

Das Neujahrsfest der Bäume ist ein kleines aber feines Fest, aber dieses Jahr war keine Feststimmung. Alle sind bedrückt, der weltweite Haß auf Israel und die Lage insgesamt (Geiseln noch nicht befreit, nach so langer Zeit, Soldaten in ständiger Gefahr) sind schon schlimm genug. Trotz mancher positiven Meldungen ist der 7. Oktober für uns noch immer nicht vorbei, und keiner weiß, was uns noch bevorsteht.

Arbeiten hilft. Auf dem Rückweg durch strömenden Regen hörte ich im Radio (Galey Zahal) ein Gespräch. Die Journalistin Tali Lipkin-Shahak hat so eine sympathische, zugewandte Stimme, ich höre ihr so gern zu. Sie läßt ihre Gesprächspartner immer zu Wort kommen. Heute sprach sie mit Hannie Ricardo, Sängerin, Komponistin und Musikologin, die zum Thema Komponisten und Musik der Shoah forscht. Hannie kommt aus einer Familie von Holocaustüberlebenden, und wenn sie die Musik vergessener Komponisten erforscht und aufführt, gibt sie denen eine Stimme, die durch Haß und Völkermord zum Schweigen gebracht wurden.

Hannie war in New York, wo sie arbeitet und studiert, als ein Freund ihr eine Nachricht schrieb, dass in Tel Aviv Raketenalarm ist. Sie machte sich sofort Sorgen um ihre Töchter in Ramat Gan bei Tel Aviv und versuchte sie zu erreichen. Oriya antwortete nicht. Ihre letzte Nachricht an ihre Mutter lautete: Ima, ich liebe dich. Ein Abschied.

Oriya war auf dem Nova-Festival, und sie versuchte zu fliehen. Es dauerte mehrere Tage, bis sie gefunden wurde, von ihrem Freund, der dann die Armee und ZAKA rief. Als die Familie Shiva saß, also die Trauerwoche beging, kam auch der Freiwillige von ZAKA, der Organisation von überwiegend, aber nicht nur Ultra-Orthodoxen, die Tote respekt- und liebevoll bergen. Dieser Mann sagte ihr: deine Tochter war schön und unversehrt, als ich sie fand. Erst nach einer Weile wurde der Mutter klar, was das bedeutete, und was so viele anderen Besucherinnen des Nova-Festivals widerfahren war. Oriya war erschossen worden, aber niemand hatte Hand an sie gelegt.

Hannie erzählte diese Geschichte und Tali hörte zu und stellte auch ein paar Fragen. Ob es ihr jetzt nicht schwerfiele, sich so intensiv mit der Shoah zu befassen, nach dieser Katastrophe, der größten seit der Shoah. Nein, sagte Hannie, im Gegenteil. Sie hat ein Kaddish für Terezin (Theresienstadt) komponiert und es ihrer Tochter gewidmet. Sie sagt, die Hamas hat bewußt an die Taten der Nazis angeknüpft, und das sehe ich auch so. Sie wurden von einem unerbittlichen Willen zur totalen Vernichtung angetrieben, einem Willen, dem sie in Reden, ihrer Charta und ihren Parolen immer wieder Ausdruck verleihen.

Hannie lebt jetzt im Bewußtsein, zu einer Zwischengeneration zu gehören. Zwischen zwei Katastrophen. Sie ist Zeugin für beide.

Das Gespräch hat mich sehr bewegt, und ich wollte es teilen.

Ein paar Links:

Artikel im Merkur

Artikel in der WN-OZ (Weinheimer Nachrichten-Oldenwälder Zeitung) (Ramat Gan und Weinheim sind Partnerstädte)

Artikel in der New York Post

Artikel in der Times of Israel, die über alle Opfer schreibt

Eine Geschichte unter so vielen. יהי זכרה ברוך

Die Lage, die Lage Januar 15, 2024, 16:17

Posted by Lila in Persönliches.
4 comments

Auf Hebräisch nennt man es „ha-matzav“, die Lage oder Situation. Wie ist die Lage? ma ha-matzav? Ja, wie ist sie?

Wir waren am Wochenende in Tel Aviv. Übernachtet haben wir bei Quarta, sie hat für uns gekocht und es war richtig schön und gemütlich. Wir haben im Zimmer eines Mitbewohners übernachtet, der seit dem 7. Oktober Reservedienst leistet und nur selten nach Hause kommt.

Quarta hat zwar keinen Schutzraum, aber immerhin hätten wir im Falle eines Alarms genügend Zeit gehabt, uns im Treppenhaus in (relative) Sicherheit zu bringen. Es blieb aber still.

Am Shabat waren wir dann am „Platz der Verschleppten“, dem großen Platz in Tel Aviv zwischen der großen Bet-Ariella-Bibliothek, dem Gericht und dem Museum für moderne Kunst, das ich natürlich sehr gut kenne (und empfehle). Der Platz, der vorher ziemlich leer war, von ein paar interessanten Skulpturen abgesehen, ist jetzt sehr voll.

Der lange Tisch mit den leeren Gedecken, mehrere Zelte, und überraschend viele kleinere Arbeiten von Menschen, die ihren Schmerz über das Schicksal der Geiseln visuell ausdrücken.

Es war schon ziemlich voll, am Abend fing dann die 24 Stunden währende 100-Tage-Kundgebung an.

Später waren wir auch am Dizengoff-Platz. Quarta geht dort oft hin, die Bilder der Menschen ansehen, die sie kannte. Jeder von uns kennt Opfer, ich habe noch niemanden getroffen, der nicht vom 7. Oktober oder vom Krieg direkt oder indirekt betroffen gewesen wäre.

Der berühmte Brunnen von Yaacov Agam wird gerade restauriert, und um den Brunnen herum sind Andenken an die Toten verteilt. Viele Menschen gehen langsam herum und versenken sich in die Bilder und Briefe, die dort ausliegen. Die Atmosphäre ist traurig. Ein Mann mit einem bildschönen Golden Retriever bietet allen an, den Hund zu umarmen, und das freundliche, zutrauliche Tier bietet Trost.

Unter dem Brunnen liegen Löwen und Lämmer aus, eine Erinnerung an die Vision des Friedens, wie sie der Prophet Jesaja schildert.

Überall in Tel Aviv sitzen zerrissene, mit roter Farbe bespritzte große Teddybären, die an die entführten Kinder erinnern, aber auch die ermordeten Kinder.

Abends waren wir dann mit Quarta und Secundus essen, es war schön. Die Diskrepanz zwischen dem familiären Frieden und der inneren Unruhe ist an solchen Tagen besonders stark.

Ich unterrichte weiter, im Haus ist es warm und friedlich, draußen ballert die Artillerie regelmäßig, und gestern sind in Obergaliläa in einem grenznahen Ort durch Beschuß der Hisbollah zwei Menschen ums Leben gekommen, Mutter und Sohn. Der Vater ist schwer verletzt. Landwirte, die sich um ihren Betrieb kümmern wollten.

Die Armee ist weiter im Gazastreifen, in den Gebieten brodelt es, täglich gibt es Terroranschläge – vorhin in Raanana, mit vielen Verletzten und einer Toten. Einer der Terroristen ist noch auf freiem Fuß.

Im Süden gibt es deutlich weniger Raketen als vorher, auch im Zentrum hat es sich sehr beruhigt, aber Terrorgefahr ist natürlich allgegenwärtig. Nach wie vor ist das Vertrauen in die politische Führungsriege nicht groß, und deren interne Rangeleien tragen nicht dazu bei, dass das Vertrauen wieder wachsen könnte. Und wie es hier im Norden weitergeht, ist unklar – d.h., es ist klar, dass eine große Auseinandersetzung kommen wird, aber wie bald das sein wird, wie es genau aussehen wird und wer daran teilnehmen wird, wissen wir nicht.

Der Winter ist so schön, alles ist grün, Regen und Sonne wechseln sich ab und von Zeit zu Zeit sehe ich einen Regenbogen, immer ein Zeichen der Hoffnung.

Ich trage die Erkennungsmarke, die ich in Tel Aviv gekauft habe, und werde sie nicht ablegen, bis nicht alle Geiseln und alle Soldaten zuhause sind.

Ein Treffen Januar 9, 2024, 22:27

Posted by Lila in Persönliches, Uncategorized.
4 comments

Heute vormittag saßen wir wieder zusammen, das Team vom Kindergarten Charuv. Seit dem 6. Oktober das erste Mal, dass wir wieder vollzählig waren. Großes Hallo zur Begrüßung, und alle gucken auf die Uhr: so, jetzt müßten wir eigentlich in den Sandkasten!, und dann erzählten alle, was sie nun machen. Der Kibbuz ist noch immer fast leer, aber langsam kehren einige Familien wieder. Bis dort wieder Kindergärten aufmachen, wird es noch eine Weile dauern. Die meisten Familien haben ihre Kinder in weiter südlich gelegenen Kindergärten angemeldet, in Lochamey Ha-Gettaot or Regba, näher an Akko als an Nahariya.

Sowohl Familien als auch Teile unseres Teams wohnen inzwischen auch woanders. Eine Kollegin war erstmal einen Monat im Ausland, dann wieder zuhause, dann wieder unterwegs. Sie kam braungebrannt und mit neuer Haarfarbe. Ich bin die einzige, die nahtlos weiter arbeitet, die anderen leben von Arbeitslosenunterstützung. Eine junge Kollegin hat morgen ein Vorstellungsgespräch.

Eine andere junge Kollegin, die den Krieg von 2006 in traumatischer Erinnerung hat, ist wieder bei ihren Eltern eingezogen und nimmt Medikamente gegen Panik und Angst. Sie würde gern zu ihren Tanten nach Frankreich fahren, aber die haben sie gewarnt – keine guten Zeiten für Juden in Paris.

Wir tauschen uns aus, wie wir den 7.10. erlebt haben. Die Kindergärtnerin saß den ganzen Tag mit einer der Mütter zusammen, die aus Kibbuz Beeri stammt, und zusammen weinten sie um die Familienmitglieder, die sich in verzweifelten Hilferufen per Whatsapp meldeten und irgendwann verstummten. Das war das Schlimmste, was sie je erlebt hat. Später ist die Geschichte dieser Großfamilie durch alle Medien gegangen, aber als es geschah, saßen zwei Frauen zusammen auf dem Sofa, während auf der Terrasse kleine Kinder spielten, und niemand konnte den Familienmitgliedern in Beeri helfen.

Wir erinnerten uns an den Vater, der Lokalpolitiker ist und uns schon im Juni warnte, dass es im Spätsommer losgeht. Das Szenario, das wir im Süden gesehen haben, hat er uns für August oder September prophezeit. Die Familie ist mit Sack und Pack ins Ausland gezogen, er kann es sich leisten.

Die Kindergärtnerin ist in Kontakt mit allen Familien, auch denen der Gruppe, die wir im August verabschiedet haben, und wir haben mit Erstaunen gehört, dass unser zartestes Blümchen, das so viel Aufmerksamkeit gebraucht hat, jetzt vergnügt allein spielt, dass die Krabbelkinder alle laufen und sie sich alle gut eingelebt haben in ihren neuen Kindergärten. Die Leiterin der Erziehung im evakuierten Kibbuz würde gern am 1.2. wieder öffnen und uns alle dabeihaben, aber sie glaubt auch nicht, dass die Kinder noch einmal zurück wechseln werden, nachdem sie sich nun eingewöhnt haben. Nichts ist sicher.

Die Zukunft wurde noch unsicherer, weil wir ständig vom Rappeln der Telefone unterbrochen wurden. „Alarm in Yiftach“, „jetzt auch in Dishon“, so ging es ununterbrochen. Zwischendurch auch Nachrichten über IAF-Angriffe im Libanon. Es fühlte sich schon ganz schön krisenhaft an.

Dann die Diskussion, wo es denn jetzt sicher sei. Ist Tivon sicher? Haifa? die Krayot-Städte? (Kiriyat Bialik, Kiriyat Yam, Kiriyat Motzkin) Nein, zu nah an den Raffinerien der Bucht von Haifa, und Tivon auch zu nah an der Luftwaffenbasis Ramat David. Da hat Nasrallah schon 2006 drauf gezielt, und er wird es wieder versuchen.

Was ist mit den Golanhöhen? Beschuß aus Syrien. Tel Aviv ist sowieso nicht sicher. Sollten die Gebiete den Aufstand proben, ist auch Jerusalem nicht sicher, außerdem sind beide großen Städte Ziel für Raketen. Wo könnte es sicher sein? Im Negev? Nein, die Houthis. Ich zitierte wieder meinen Mann, dass es da am sichersten und unsichersten ist, wo man sich gerade befindet. Die reiselustige Kollegin meinte, Thailand sei schon sehr gemütlich, und darum fliegt sie nächste Woche hin.

Beim Abschied haben wir uns alle in den Arm genommen und auf die Uhr geguckt und gesagt: so, wer geht jetzt in die Küche und bereitet die Tabletts fürs Mittagessen vor, und wer übernimmt den Mittags-Stuhlkreis?

Ich werde nicht wieder in die Früherziehung zurückgehen, zumindest nicht in absehbarer Zeit, denn das Unterrichten macht Spaß und meine Woche ist pickepackevoll. Aber ich werde mich immer gern daran erinnern, an das schöne Gefühl, wenn sich morgens kleine Ärmchen nach mir ausstreckten. Die Beratungen darüber, wie man einem kleinen Jungen helfen kann, dessen Eltern durch eine schwierige Trennung gehen, oder dem kleinen Mädchen, in dessen Familie gesundheitliche Probleme nicht viel Aufmerksamkeit für die Jüngste übrigließen. Es war schön, wenn wir am Freitag den Shabat singend in Empfang nehmen konnten, mit unserem selbstgebackenen Challah und den zwei Kerzen.

Der 6.10. war mein letzter Arbeitstag dort, ich hatte gekündigt und die Kollegin, die mich ersetzen sollte, war schon eingearbeitet. Einen Tag später ist diese ganze Welt, die im Nachhinein so idyllisch war, versunken.

Eloge auf ein kleines Zimmer Januar 3, 2024, 1:44

Posted by Lila in Land und Leute, Persönliches.
3 comments

In unserem Haus gibt es ein kleines Zimmer, so groß wie ein Kinderzimmer. Es war tatsächlich, als wir hier einzogen, ein Kinderzimmer. Quarta war, als wir hier einzogen, noch keine zehn Jahre alt, und es war ihr Zimmer. Nach ein paar innerfamiliären Veränderungen (große Kinder zogen vorübergehend aus, wieder zurück, wir wohnten für ein paar Jahre in einem doppelt so großen Haus und zogen dann, als die Söhne endgültig aus dem Haus waren, wieder hierhin zurück…) diente das kleine Zimmer erstmal als Kammer, in dem sich alles stapelte, was wir nicht sofort einräumen konnten. Zwischen den Kartons brachte eine Katze ihre Kleinen zur Welt, und irgendwann gaben wir uns einen Ruck, die Töchter und ich, und verwandelten das kleine Zimmer in mein Arbeitszimmer.

Hier stehen die Bücher, die ich immer griffbereit haben möchte, unsere Aktenordner und Dokumente. Der Reserve-Kühlschrank, mein Schreibtisch mit Laptop, und all die Paraphernalia, die ich für nötig halte, um einen Arbeitstag vor dem Computer unbeschadet zu überstehen. Es ist gemütlich hier, und ich habe alles griffbereit. Durchs Fenster sehe ich auf die Zitronenbäume, die gerade so voll hängen, dass ich tütenweise Zitronen verschenke und trotzdem nicht weiss, wohin damit. Nein, falsch – ich sähe auf diese Zitronenbäume, wenn das Fenster denn offen wäre. Aber das ist es nicht.

Seit letztem Pessach, als wir hier saßen, während draußen Raketen auf unsere Gegend fielen, sind die Stahlläden allerhöchstens einen kleinen Spalt offen, und seit dem 7.10. fest verrammelt. Die Gummidichtung in der Tür haben wir in Ordnung gebracht, und der Kühlschrank ist gut gefüllt. In einer Ecke stapeln sich Wasserflaschen, und es gibt Essensvorräte, mit denen man es schon drei Tage aushalten könnte, wenn man müßte. Die Wände sind dick, die Tür aus Stahl und öffnet sich nach außen. Das Fenster zeigt nach Südwesten. Nach Norden wäre nicht ratsam.

Wer durch Nord-Israel fährt, kann an Mehrfamilienhäusern an der Süd- oder Westwand die Reihe von Stahlläden sehen, je nach Lage offen oder geschlossen. Im Süden zeigen die Fenster nach Norden, denn dort droht die Raketengefahr aus dem Süden.

Seit dem Irak-Krieg muß jedes Haus so einen Schutzraum haben. Er heißt Mamad, merchav mugan dirati – geschützter Bereich der Wohnung. In Mehrfamilienhäusern, die keine Mamadim bieten, gibt es Schutzbereiche in jeder Etage, Mamak genannt – merchav mugan komati. Wer weder das eine noch das andere hat, und für wen die Luftschutzräume nicht schnell genug erreichbar ist, dem rät das Homefront commando, sich im Treppenhaus eine Etage tiefer zu begeben, möglichst weit entfernt von Fenstern. In Bädern, wo Fliesen splittern könnte, sollte man sich auf keinen Fall aufhalten.

Schulen, Kindergärten und öffentliche Gebäude, auch Einkaufszentren, haben alle ausgeschilderte Wege in Schutzbereiche, und die meisten israelischen Krankenhäuser haben unterirdische Stationen. Im Notfall wird so viel wie möglich in diese aufwendigen unterirdischen, gut geschützten Bereiche verlegt.

Wer jetzt in Israel Google maps nutzt, kann sich die Lage der öffentlichen Luftschutzbunker ansehen, aber weil auch in Tel Aviv die Warnzeit nicht üppig bemessen ist, sollte man im Falle eines Alarms lieber in ein Gebäude sehen. Die Türen von Mehrfamilienhäusern sind in Krisenzeiten immer offen, damit Passanten sich dorthin flüchten können. (Natürlich besteht auch das Risiko, dass Terroristen eindringen könnten – alles schon passiert.)

Wenn man mit dem Auto unterwegs ist – anhalten und auf den Boden legen, Hände über den Kopf und abwarten. Nach jedem Alarm muß man mindestens zehn Minuten warten, bis auch die Gefahr von herabfallenden Trümmerteilen von Raketen, die Iron Dome zerschießt, vorbei ist. Bei einem Direkteinschlag nützen einem die Hände wenig, aber im Fall von Splittern ist es wichtig, so niedrig wie möglich zu liegen.

In arabischen Medien wird gern darüber gelacht, wenn Israelis in Deckung gehen, aber wir lieben das Leben und liegen lieber zehn Minuten am Boden, um dann wieder aufzustehen, als dass wir uns aus falschem Stolz Splitter einfangen.

Natürlich gibt es viele, die sich so auf Iron Dome verlassen, dass sie bei Alarm auf die Balkone eilen und das Spektakel filmen. Das ist aber gefährlich. Meine deutsche Sozialisation schlägt voll durch, und ich befolge alle Anweisungen genau. Auch an meinen Arbeitsplätzen weiß ich genau, wohin ich mein Volk schicken muß, und habe immer im Hintergrund die Warn-App laufen. Ich würde in so einem Fall als Letzte aus der Klasse gehen und abschließen, das habe ich mir alles schon überlegt und der Schlüssel liegt immer auf dem Tisch.

Doch am sichersten fühle mich in meinem kleinen Arbeitszimmer. Dort verbringe ich die meisten Stunden,und eigentlich sollte ich hier schreiben, denn natürlich sitze ich auch jetzt in unserem Mamad. Wenn hier in der Gegend Alarm ist, bekomme ich sofort eine Whatsapp-Nachricht vom Sicherheitsteam des Moshavs, normalerweise mit der Empfehlung, mich in der Nähe des Schutzraums aufzuhalten. In unserer Gegend, bekanntlich mit 0 Sekunden Vorwarnzeit, sollte man kein Risiko eingehen. Ich lasse dann die Wäsche Wäsche sein und setze mich wieder an den Computer.

Die Stahltür lasse ich offen, damit ich hören kann, was draußen vorgeht. Bei mir sind ja immer alle Fenster offen, und oft auch die Türen, weil ich gern frische Luft im Haus habe und es genieße, dass wir jetzt ohne Klimaanlage leben. Ich habe gute Ohren, und wenn die nördlichen Fenster offen sind, höre ich das Rumoren an der Grenze ganz gut, obwohl es 5 km weit weg ist. Die Akustik ist hier irgendwie sehr gut, und normalerweise irre ich mich nicht. Wenn es in der Ferne rumpelt, kommt in der Nähe Alarm, Eli vom Sicherheitsteam postet eine kurze Sprachnachricht oder einfach nur ein Warnbild, und die Artillerie fängt an zu böllern. Inzwischen bin ich so abgehärtet, dass ich einfach weiterarbeite.

So ist es schon geschehen, dass Yaron mich von der Arbeit (weit entfernt) anruft, ob alles okay ist. Ich war bis über beide Ohren in ein Buch versunken und habe glatt verpaßt, dass in Metzuba Alarm war und in Shlomi auch. Er verpaßt die Stoßzeiten meist, denn die sind vor- und nachmittags. Gegen Abend und nachts ist es meist ruhiger.

Das einzige Mal, dass die Stahltür für längere Zeit geschlossen war und wir drinnen, war zu Anfang des Kriegs, bei dem großen Fehlalarm, der ganz Nordisrael in die Schutzräume geschickt hat. Ich sehe es jetzt als große Übung an, aber an dem Tag verbreiteten die Medien ohne Beweise die Warnung, dass die Hisbollah mit Paraglidern zu Dutzenden eindringt. Nach dem 7.10., der nur ein paar Tage zurücklag, kam das den meisten nicht unwahrscheinlich vor, und warum die Hisbollah das nicht schon längst versucht hat, weiß ich nicht. Wir saßen jedenfalls im Dunkeln, draußen summten die Drohnen (wir haben „unsere“ Überwachungsdrohne, die wir immer hören und vermissen, wenn sie mal woanders rumschwirrt) und keiner wußte, was nun eigentlich los ist.

Ich hatte Angst, mein Mann nahm das Ganze nicht ernst, und natürlich hatte er wieder mal Recht. Als die Nachricht durchkam, daß es ein Fehlalarm war, waren wir alle wütend und erleichtert zugleich. Der Soldat, der das versemmelt hat, sollte das besser weiterhin geheimhalten, weil ihm viele Leute gern die Ohren langziehen würden. Bis das Adrenalin aus meinem System ausgeschieden war, hat es bestimmt ein paar Tage gedauert. Seither habe ich haber keine Angst mehr gehabt, obwohl ich das Geböllere, die Raketen, die Iron-Dome-Abschüsse, Flugzeuge und Drohnen immer noch ungern höre.

Es ist natürlich klar, daß bei einem direkten Angriff, besonders mit größeren Raketen, so ein Schutzraum keinen totalen Schutz bietet. Auch bei chemischen oder biologischen Angriffen nicht, obwohl es alle möglichen Filtersysteme gibt, die wir nicht haben. Und wenn Terroristen in ein Dorf eindringen, eine Stadt oder einen Kibbuz, wie es die Hamas am 7.10. getan hat, dann braucht man eine extra Schutzeinrichtung, um die Tür zu verriegeln, die dafür gar nicht gedacht ist. Findige Bastler haben alle möglichen Dinge dazu benutzt. Mein Ingenieur, dem tatsächlich nichts zu schwör ist, hat zu diesem Behufe ein kräftiges Metallrohr zusammengeschraubt, mit dem sogar ich die Tür verriegeln kann. Aber das sollte man nur im Notfall tun, wenn es wirklich nötig ist, denn die Tür hat aus gutem Grund kein Schloß. Rettungskräfte können dann nämlich auch nicht rein.

Bei kleineren Raketen und Splittern bieten die Mamadim aber wirklich Schutz. In Sderot haben ganze Familien überlebt, nachdem ihr Haus durch eine Rakete zerstört wurde. Ohne die Disziplin, diese Räume tatsächlich immer aufzusuchen, wenn es Alarm gibt, wären viel mehr Menschen in Israel verletzt oder getötet worden. Der Aufwand ist groß, die ganzen defensiven Maßnahmen sind teuer (von Iron Dome und ähnlichen Systemen fange ich gar nicht erst an…) und am Ende ruft die Weltöffentlichkeit: ihr seid die Bösen, denn auf der anderen Seite sterben mehr, also sind sie die Opfer und ihr die Täter. Egal wie kraß wir angegriffen werden, für viele Menschen sind Israelis eben grundsätzlich Täter.

Wir hier im Norden haben seit 2006 viel weniger unter Raketen zu leiden gehabt als der Süden. Dort sind die Familien-Mamadim wirklich Zufluchtsort, so wie mein Arbeitszimmer für mich. Ich fühle mich dort wohl und geborgen und kann ungestört arbeiten, lesen oder malen.

Daß die Familien im Süden in diesen Schutzräumen überfallen, gequält und getötet worden, ist darum besonders schockierend. Nicht als ob es im Wohn- oder Schlafzimmer besser gewesen wäre. Aber in einer Welt voll Alarme und Raketen haben diese Räume eine besondere Bedeutung. Daß sie die Menschen in Nir Oz und Beeri nicht schützen konnten vor der Barbarei, daß der Tod viele dort ereilt hat, daß sie in Brand gesetzt wurden, um die Familien nach draußen zu treiben, wo sie erschossen oder verschleppt wurden, macht es irgendwie noch schlimmer.

2010 – Quartas Zimmer

2015 – nach dem Wiedereinzug, das Katzenparadies

2016 – Arbeitszimmer. So herrlich leer müßte es hier mal wieder werden!

2021

Zeit, Zeit, Zeit Januar 2, 2024, 12:10

Posted by Lila in Land und Leute.
3 comments

Drei Monate ist es jetzt fast her, dass vieles in unserem Leben in Brüche ging. Verglichen mit dem Schicksal der Geiseln, mit den Überlebenden, Verletzten und den Angehörigen der Soldaten sind es bei uns nur Haarrisse. An unserer Situation hier im Norden hat sich wenig geändert. Angriffe, dann Reaktion der IDF, das Muster zieht sich durch die Tage, und die Angriffe auf das Zentrum und den Süden Israels haben spürbar abgenommen. Die IDF hat die Möglichkeiten der Hamas, Israelis anzugreifen, also wirklich eingeschränkt, aber niemand gibt sich irgendwelchen Illusionen hin. Solange es dort noch eine Rakete gibt, wird es auch jemanden geben, der sie irgendwann abschießt.

Im Norden werden die Angriffe häufiger, aber größtenteils sind sie auf passend benannte confrontation line beschränkt. Wir leben in einer Mischung aus ständiger Anspannung und Routine, eine seltsame Mischung. Meistens fängt es im Laufe des Vormittags an, dann abends nochmal eine Runde, aber die große Eskalation, die wir alle erwarten und fürchten, ist noch nicht eingetroffen.

Die Regierung hat von Anfang an, trotz gegenteiliger Beteuerungen, die militärische Ausschaltung und Entmachtung der Hamas über die Befreiung der Geiseln gestellt. Das Argument, dass ein militärischer Sieg über Hamas die Geiseln eher nach Hause bringt, hat bis zum Geiselaustausch gezogen, seitdem aber ist ein schmerzlicher Stillstand erreicht. Über die Katastrophe der versehentlich von IDF erschossenen Geiseln, die sich selbst befreit hatten und alles getan hatten, um zu überleben und die Soldaten lebend zu erreichen, kann ich gar nicht schreiben. Es war ein Tiefpunkt, und was ein Wendepunkt hätte sein können, ist statt dessen zu einer nationalen Tragödie geworden. Ich werde darüber vielleicht später schreiben können, aber im Moment versagen mir die Worte.

Diese eine Woche, in der wir jeden Abend auf die freigepreßten Geiseln warteten und jede einzelne im Fernsehen mit Namen begrüßen können, ist so weit von uns entfernt wie eine versunkene Kultur. Langsam kommen immer mehr Berichte von den Geiseln, was sie in den Händen der Hamas durchgemacht haben, und es ist unerträglich, sich vorzustellen, was die dort verbliebenen Geiseln in diesem Moment erleben. Es fällt allen schwer, nachts einzuschlafen, weil wir die Gedanken dann nicht mehr verdrängen können. Die Bilder laufen vor unseren Augen ab, es geht nicht nur mir so, sondern allen, mit denen ich darüber gesprochen habe. Wir können noch immer nicht um die Toten trauern, weil wir um die hoffentlich noch Lebenden bangen, und im Schlaf laufen wir alle durch Gaza wie durch einen Albtraum und suchen nach denen, die zu uns gehören, die wir retten wollen und nicht können.

Tagsüber ist es einfacher, sogar die Artillerie, die gerade wieder durchs Dorf donnert, lenkt ab.

Morgens stehen wir alle mit dem Grauen auf, neue Namen von Toten zu hören, Soldaten und Zivilisten. 17% der Gefallenen sind durch friendly fire ums Leben gekommen. Krieg ist keine saubere Sache, Kugeln treffen Unschuldige, alle leiden, und wenn es in Gaza Menschen gibt, die nichts mit der Hamas, dem Jihad, Tanzim oder anderen Terrorgruppen zu tun haben, dann tut es mir auch sehr leid um sie. Aber bisher sieht man von dort keinen Widerstand gegen die Linie der Hamas. Solche Menschen hätten jetzt die Chance, sich sichtbar zu machen. Aber das tun sie nicht.

Dass die Weltmeinung sich längst wieder mal entschieden gegen Israel gewendet hat, ist keine Überraschung. Wenn selbst nach einem wohldokumentierten, unbegreiflich grausamen Massaker an Friedensaktivisten, Kibbuzniks, Beduinen und relativ armen Familien in der abgehängten Peripherie Israels, sehr viele Menschen die Partei der Terroristen ergreifen, ihre Untaten leugnen und Israel als notorische Lügner bezeichnen, dann zeigt das nur die moralische Blindheit des Palästina-Kults, der große Teile der westlichen Welt ergriffen hat. Lügen werden geglaubt, die Wahrheit wird verleugnet. Für diese Leute ist auch der Fötus im Leib einer beduinischen Mutter, friedensbewegte Kibbuzniks und Kinder im Schlafanzug nichts als eine Zielscheibe für tödlichen Haß, und daß die Hamas sie ermordet hat, haben sie sich selbst zuzuschreiben. Jeder Fußbreit Erde in Israel ist für diese Menschen besetzt und wenn die Besatzer ermordet werden, darf man jubeln. Falls jemand gedacht hat, dass auf der anderen Seite echtes Interesse an einer friedlichen Lösung besteht, dann sollte das als Beweis reichen, wie falsch sie lagen oder liegen.

Die politischen Auseinandersetzungen gehen weiter, auch wenn wir alle unsere Einheit (yachad) beschwören. Ja, wir stehen alle hinter dem Staat und seinem Existenzrecht, das ist der zionistische Grundkonsens, den auch viele Araber und die überwältigende Mehrheit der israelischen Linken teilen, aber an der Regierung scheiden sich die Geister, und die Regierung selbst tut nichts dazu, die Gemeinsamkeit zu betonen, sondern grenzt nach wie vor rhetorisch aus, wer nicht auf ihrer Seite steht. Das ist unheilvoll und beklemmend. Selbst in der Regierung ist diese innere Spaltung zu beobachten.

In unserem persönlichen Leben ist nach Wochen der Verwirrung und des Ausnahmezustands wieder eine Art Routine eingekehrt. Mein Mann hat keinen Tag Arbeit versäumt, und ich arbeite wieder. Seit der Lehrbetrieb an der Sprachschule, wo ich viermmal die Woche unterrichte, und an der FH, wo ich einmal die Woche bin, wieder aufgenommen wurde, habe auch ich keine Stunde versäumt. Ob es draußen donnert oder nicht, ich fahre ins Städtchen. Einmal habe ich an der Bushaltestelle gesehen, wie Iron Dome eine Rakete abgefangen hat, aber der Bus kam pünktlich und ich war nicht die einzige, die eingestiegen ist.

Weihnachten ist genau wie Chanukka bei uns komplett flachgefallen, aber zu Silvester, das wir normalerweise gar nicht begehen, sind wir in den Club gefahren, wo wir „früher“, also bis Oktober, manchmal tanzen gegangen sind. Er war auch voll und auf den ersten Blick sah alles aus wie normal, aber wir konnten keinen Moment vergessen, dass nichts mehr normal ist. Ich kann keine Musik mehr hören, ohne an die Tanzenden auf der Rave-Party zu denken, und ich bin mir sicher, dass es allen dort genauso ging. Um Mitternacht rappelten dann die Smartphones, und wir konnten sehen, dass die Hamas pünktlich für ein Feuerwerk im Zentrum von Israel sorgte. Viele gingen nach draußen, um zu hören, wie es Freunden und Familie dort geht, und wir sind dann auch schnell nach Hause gefahren.

Unser Mantra war immer, dass Terror das normale Leben zerstören will und darum jeder Akt der Normalität Widerstand gegen den Terror ist, und das glaube ich immer noch. Deswegen werde ich auch heute die Tasche packen, zur Bushaltestelle gehen und unterrichten, woran ich große Freude habe. Ich habe im Hintergrund auf dem Computer immer die Seite des homefront commandos offen, und alle haben die Telefone auf dem Tisch. Ich weiß auch genau, wo der Schutzraum ist, und sage es vor Beginn der Stunde an, damit im Falle eines Falles alle schnell dorthin laufen können. Bisher war es noch nicht nötig, Nahariya war bisher relativ ruhig. Und dort haben wir 15 Sekunden, um uns in Sicherheit zu bringen, das empfinde ich als sehr beruhigend. Die paar Kilometer weiter südlich machen einen großen Unterschied.

Ob eine politisch-diplomatische Lösung mit Hisbollah möglich ist? Die territorialen Forderungen, die sie an Israel haben, sind theoretisch lösbar, aber leider ist das nicht so einfach. Die UN hat sich in der Vergangenheit dagegen gestellt (quelle surprise), weil die umstrittenen Punkte auf der Landkarte eigentlich zu Syrien gehören, nicht zum Libanon, und Israel nicht das Recht hat, sie an den Libanon abzutreten, selbst wenn wir wollten (und 2000 wäre Barak dazu wohl bereit gewesen). Die jetzige Grenze ist von der UN abgesegnet. Das zweite Problem ist, daß die Hisbollah sich nicht an Abmachungen hält und diese Forderungen nur stellt, um dann andere nachzuschieben. Sie halten sich ja auch heute nicht an die Resolution 1701, warum also sollten sie sich an zukünftige Abmachungen halten? Wer garantiert uns das? Niemand. UNIFIL jedenfalls hat tatenlos zugesehen, wie die Hisbollah die Litani-Linie sehr bald verlassen und sich wieder südlich festgesetzt hat, zum Schaden der dort lebenden Christen, die den Südlibanon seitdem in Massen verlassen hat.

Da besteht also wenig Hoffnung. Worauf wartet die Hisbollah, warum hat sie noch nicht losgeschlagen? Mein Verdacht ist, sie warten auf die Erklärung, dass der Iran eine Atommacht ist. Unter den Augen der Welt, ja mit tätiger Beihilfe der Welt, hat der Iran diesen Punkt schon bald erreicht. Und dann verändert sich hier die Situation, das wissen wir seit Jahren. Leider sind alle Versuche Israels, der Welt diese Gefahr für den gesamten Nahen Osten klarzumachen, gescheitert. Ironie des Schicksals, dass viele arabische Staaten diese Gefahr viel klarer erkennen als z.B. die deutsche Regierung und Industrie, die weiter auf die IRI als Partner setzen, aus welchen Gründen auch immer.

Das Leben im Moment fühlt sich an wie Warten, obwohl die Zeit drängt. Die Zeit vergeht, die Vergangenheit mit ihren Glaubenssätzen und Gewißheiten ist versunken, und was kommt, weiß keiner, doch was kommt, wissen wir alle.