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Unbesungen November 11, 2023, 17:23

Posted by Lila in Land und Leute.
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Wir hatten vor einer halben Stunde Alarm, nach langen Wochen, in denen es zwar Alarm in der Nähe gab, aber nicht bei uns. Eine Drohne war in den Luftraum eingedrungen und IDF hat sie abgeschossen. Es war ziemlicher Lärm, aber wir waren im Schutzraum und nach zehn Minuten war es wieder ruhig.

Ich habe dann im Internet diese Karte gefunden und beim Ansehen fällt mir wieder auf, warum ich diese Gegend so sehr mag. Es ist grün hier, viele Wadis ziehen sich zum Meer, überall bieten sich neue Aussichten. Die Grenze liegt auf einem, na kann man es Gebirgszug nennen?, also eine Hügelkette ist es auch nicht, sondern sowas dazwischen. Ganz westlich, wo das Meer anfängt, sind die Höhlen von Rosh HaNiqra, wo ich sehr gern bin. Weiße Felsen, blaues Meer. Alle meine Gäste müssen mit mir da hin 🙂

Jeder einzelne Ort hier hat sein eigenes Profil, ist ethnisch, religiös und kulturell anders als seine Nachbarn. Ich weiß nicht, wo auf der Welt es solche Vielfalt gibt, vielleicht ist das eine Wissenslücke.

Es gibt hier Kibbuzim: Rosh HaNiqra, Chanita, Metzuba, Regba, Gesher HaZiv, Sa´ar, Cabri. Jeder Kibbuz ist geprägt von der Herkunft der Gründer, die dem Kibbuz ihren Stempel aufgedrückt haben, von der politischen Zugehörigkeit (links, linker, am linksten), von der Industrie oder Landwirtschaft, die sie aufgebaut haben, und von den Entscheidungen der Kibbuzniks, wie weit sie privatisieren oder nicht. In vielen Kibbuzim gibt es Galerien oder Museen, bekannte Künstler, und natürlich die Kibbuz-Erziehung, die ich so schätze.

Es gibt Moshavim verschiedener Ausrichtungen: landwirtschaftliche Moshavim oder solche, wo alle auswärts arbeiten. Viele Moshavim sind eher konservativ, auf jeden Fall konservativer als die Kibbuzniks.

Dann gibt es die Dörfer. In Arab el Aramshe leben Beduinen, in Yaara leben Beduinen und Ultra-Orthodoxe. Yaara ist das einzige Dorf Israels mit so einer Bevölkerungszusammensetzung. Ich sehe am Busbahnhof den Bus nach Yaara, wie höflich die jungen beduinischen Soldaten den Rabbi grüßen. Ob es Kontakte zwischen ihnen gibt, weiß ich nicht, aber von Spannungen habe ich nichts gehört. Leben und leben lassen.

In Hurfeish und Januch Gatt leben Drusen. Über das drusische Volk habe ich schon oft geschrieben. Für Europäer, denen die Trennung von Nation und Religion so natürlich vorkommt, ist oft schwer zu verstehen, daß es viele ethno-religiöse Gruppen gibt (Juden, Tscherkessen, Eziden), die diese Trennung nicht kennen. Natürlich bestehen Unterschiede zwischen Carmel-Drusen in der Nähe von Haifa, Golan-Drusen mit ihrer größeren Nähe zu Syrien, und Galiläa-Drusen. Hier an der Nordgrenze sind drusische Offiziere in den letzten Wochen gefallen, die ihre Heimat verteidigt haben und auch mich persönlich. Die Religion der Drusen ist geheim, sie haben ihre eigene Tracht und eine exzellente Küche. Deswegen ist mein erster Tipp, wenn mich jemand fragt, was er sich in Israel ansehen sollte: ein Drusendorf.

In Fassouta leben arabische Christen, Melkiten. Die melkitische Kirche ist eine interessante Mischung aus orthodox und katholisch. Sie gehörte zur Griechisch-Orthodoxen Kirche, hat sich dann aber mit Rom versöhnt. Melkitische Kirchen sind für mich faszinierend, weil sie byzantinische und katholische Elemente vereinigen.

In Arab el Aramshe leben Beduinen, auf der Grenze. Arab el Aramshe wurde in den letzten Wochen ununterbrochen angegriffen. Vor zehn Jahren war ich dort mal mit einer Gruppe Studenten, ich möchte aus diesem alten, unveröffentlichten Blogeintrag zitieren.

Yasser hatte für uns außerdem anschließend ein Treffen mit einem „weisen alten Mann“ des Dorfs organisiert. Er erklärte uns gerade, was das für ein Gemeindezentrum ist, in dem wir auf ihm warteten, als der alte Mann an einem Stock hereingehinkt kam. Gekleidet in eine Art Galabea, mit einer roten Keffiyah über eine konische Mütze drapiert, in offenen Sandalen an einem windigen, kalten Tag. 82 Jahre ist er alt und spricht exzellentes Hebräisch, das ein Kollege und ich übersetzten.

Woran er sich erinnert aus der Geschichte seines Dorfs? Er erinnert sich an 1948, und wie die Feindseligkeiten ausbrachen. Wie die guten Nachbarn, die Kibbuzim der Umgebung, mit dem Mukhtar von Aramshe eine Abmachung trafen: sollten die Araber gewinnen, würden die Bewohner von Aramshe die jüdischen Kibbuzniks schützen. Sollte der Staat Israel gewinnen, würden die Kibbuzniks für ihre beduinischen Nachbarn einstehen. „Und so war es auch“, erzählte der Mann, „uns ist nichts passiert, wir sind nicht vertrieben worden, und wir leben immer noch in guter Nachbarschaft mit den Kibbuzim. Guckt mich an – als junger Mann habe ich in Kibbuz Eylon angefangen zu arbeiten, nach Jahrzehnten bin ich als alter Mann am Krückstock wieder rausgekommen“.

Er erzählt Beispiele für die gegenseitige Unterstützung von Juden und Arabern in der Gegend. Eine deutsche Studentin fragt mißtrauisch: „wenn man Ihnen so zuhört, könnte man meinen, die Beziehungen zwischen Juden und Arabern wären gut. Würden Ihre Nachbarn im Dorf das auch so sehen?“ Der alte Mann wird lebhaft. „Die Beziehungen sind ausgezeichnet!“, und er küßt seine Fingerspitzen. Das verstehen alle ohne Übersetzung. Dann setzt er  noch einen oben drauf. „Unsere Söhne und Enkel dienen in der Armee, sind Offiziere – und da sind wir stolz drauf!“

Einen Moment ist Stille. Dann fragt eine Begleiterin: „Aber wie können sie es als Araber verantworten, in der israelischen Armee zu dienen? Ich dachte, Araber werden nicht eingezogen, damit sie nicht ihre Waffen gegen ihre arabischen Brüder richten müssen“ Der alte Mann erklärt: „Überall in unseren Nachbarländern kämpfen Araber gegen Araber. Wir sind heute Israelis, wir essen und trinken mit Israel, und wir verteidigen Israel.“ Ich ergänze: „Die Idee, daß es eine pan-arabische Solidarität gibt, ist ein künstliches Konstrukt und nur eine von vielen Strömungen in der arabischen Welt. Es gibt dort große Spannungen zwischen einzelnen Gruppen. Die Beduinen sind eine Minderheit in der arabischen Welt und es ist verständlich, daß sie sich um ihr eigenes Wohl kümmern.“

Doch so leicht lassen sich Deutsche, durch jahrzehntelange Medien-Berieselung mit einem ganz bestimmten Bild von den Verhältnissen im Nahen Osten geprägt, nicht beirren. „Wie würden Sie Ihre Identität bestimmen? Sind Sie zuerst Palästinenser, Beduine, Moslem oder Israeli?“, fragt eine. Wieder kann man den alten Mann ohne Übersetzung verstehen. Ohne zu zögern sagt er: „Muslim. Bedui. Israeli. Falestini.“ Und damit es ganz klar wird, sagt er: „Wir gehören zum Staat Israel.“

In dem Moment kommt ein Freund des alten Mannes dazu, ebenfalls alt, in einer abgetragenen Uniform der Armee. Ich erkläre die Rolle der beduinischen Grenzschützer, Spurenleser und Pfadfinder in der israelischen Armee, wie unersetzlich sie sind, und wie großen Respekt jeder hat, der von ihnen weiß.

Das Gespräch wird leichter. Wie viele Frauen er hätte, wird er gefragt. „Nur eine“, sagt er bedauernd, „ich hätte ja gern noch eine junge, die sich um mich und meine Frau kümmert, aber Yasser läßt mich nicht“, und er schubst Yasser mit dem Ellbogen. Yasser grinst und sagt, „deine Frau ist so nett, du brauchst keine zweite, das lass ich nicht zu“, und alle lachen. Doch gleichzeitig erinnern wir uns daran, was Yasser uns unterwegs erklärt hat – wie schwierig es sein kann, alten beduinischen Männern (und auch jüngeren) zu erklären, daß Frauen jetzt Rechte haben, kein Eigentum ihrer Männer sind und daß die Mehrehe nicht mehr erlaubt ist. Er hatte auch gesagt, daß im Negev die Gesetze des Staats noch viel weniger anerkannt werden als im Norden.

Unser Treffen ist zu Ende. Die Studentinnen lassen sich mit dem alten Mann photographieren, der hat seinen Spaß. Hinterher unterhalten wir uns noch kurz, und die Atmosphäre wird richtig herzlich, als ich erzähle, daß wir Nachbarn sind. Wir haben gemeinsame Bekannte, der Mann in Uniform und ich.

In Mi´iliya leben ebenfalls Melkiten, überall sind Madonnenfiguren und eine große Jesus-Statue am Ortseingang. Es gibt dort auch eine interessante Ruine einer Kreuzfahrerburg. Und auf dem sehr schönen kleinen Sträßchen von Mi´iliya zu uns liegt eine wirklich wunderschöne Kreuzfahrerburg, Montfort, von der man eine fantastische Aussicht hat.

Maalot-Tarschicha ist ein Städtchen. Im Stadtteil Maalot wohnen viele Neueinwanderer, sowohl aus arabischen Ländern als auch aus früheren UdSSR-Staaten, und in Tarschicha leben Muslime.

Nahariya ist die größte Stadt der Gegend, gegründet von Yeckim, und man sieht das noch immer an manchen Geschäftsschildern. Leider durch einen unfähigen Bürgermeister heruntergewirtschaftet, hoffentlich erholt sich die Stadt wieder, denn sie liegt sehr schön am Fluß Gaaton, der durch die Innenstadt fließt und ins Meer mündet. Der nördlichste Bahnhof Israels ist in Nahariya, die Gleise nach Beirut liegen still.

In Shaykh Danoun leben Muslime, ebenfalls in Mazra. Dort ist der in ganz Nordisrael bekannte Markt von Faisal, der sich von einem offenen Markt zu einem riesigen Supermarkt entwickelt hat. Sehr gutes, frisches Gemüse und Obst von Bauern aus der Gegend haben ihn bekannt gemacht. Der Markt heißt „Shuk Faisal ha-gadol“, was eigentlich „Faisals großer Markt“ bedeutet, aber man könnte es auch als „Markt von Faisal dem Großen“ übersetzen. Alle nennen ihn also nur „Faisal der Große„. Wir kaufen oft bei Faisal dem Großen. Dort sieht man, wie Juden und Araber aller Arten sich zusammen auf Paprika und Basilikum stürzen.

In Kfar Yasif leben griechisch-orthodoxe Christen, aber auch Muslime und Drusen. Und der Kibbuz Lochamey ha-Gettaot wurde von Überlebenden des Warschauer Ghetto-Aufstands gegründet. Dort steht das älteste Holocaust-Museum der Welt, und der Gedenktag wird dort immer in großem Rahmen begangen. Es gibt dort auch ein Zentrum für Holocaust-Erziehung (mit dem ich nicht in allen Dingen Aug in Aug sehe).

Akko, die alte Kreuzfahrerstadt, ist schon weiter südlich. Dort leben Araber und Juden, und dort gab es auch Unruhen in den letzten Jahren.

In Shlomi leben viele frühere Neueinwanderer. Dort gibt es auch libanesisches Restaurant, in dem Soldaten in Uniform nur die Hälfte zahlen. (Die Reviews sind gemischt, wir hatten dort bisher eigentlich immer Glück, allerdings sind wir mehr Humus-und-Salat-Esser).

Also, wenn ihr irgendwann eine Israel-Reise plant, plant West-Galiläa mit ein. Normalerweise ist die Reiseroute: Jerusalem, Tel Aviv und die christlichen Stätten am See Genezareth. Aber hier sieht man die Vielfalt Israels so gut. Nur Tscherkessen leben hier nicht – dafür muß man nach Kfar Kama oder Reihaniya. Ich glaube, eine Israel-Reise ist erst komplett, wenn sie die Minderheiten mit einschließt.

Ja, Spannungen gibt es überall, wo Menschen miteinander leben, und nicht jede Regierung hat die Bedürfnisse der verschiedenen Minderheiten hoch genug auf die Tagesordnung gesetzt. Aber wenn man sich die Umstände anguckt, klappt es ganz gut.

Und die Raketen, die jetzt hier fliegen, unterscheiden nicht, ob es eine drusische, beduinische oder Kibbuznik-Familie ist, die in den Schutzraum rennen muß.

Kommentare»

1. 23-11-11 Das Stadtbad Charlottenburg wird 125 – iberty.de - November 11, 2023, 19:08

[…] schreibt über ihr Israel und gedenkt toter israelischer […]

2. Margreet Krikowski - November 11, 2023, 19:10

Liebe Lila, ich lese deine Berichte immer sehr gerne. Auch diesen Bericht finde ich sehr spannend. Ich habe 1991/92 ein Jahr in Nes Ammim, also gleich um die Ecke, gewohnt und gearbeitet. Ich stimme dir zu, dass viel mehr Menschen den Galil besuchen sollten, um Israel zu erfahren und zu erleben, die Vielfalt, die Gerüche und die Küche. Ich habe wieder Sehnsucht nach Israel bekommen. Vielleicht im nächsten Jahr. Herzliche Grüsse aus Berlin

3. Währenddessen in den Blogs - Buddenbohm & Söhne - November 14, 2023, 6:44

[…] Über Minderheiten in Israel […]

4. Jani - November 14, 2023, 21:24

Und wieder möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir die Möglichkeit geben von einem Land, das ich nicht aus eigener Erfahrung kenne und von dem ich nur sehr vage Vorstellungen habe, mehr zu erfahren. Vielen Dank dafür.


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