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Shigrat cherum – die Routine der Notlage Februar 5, 2024, 22:49

Posted by Lila in Persönliches.
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Eine charakteristische Sprachregelung. Wir sind im Ausnahmezustand, aber der ist schon längst zur Routine geworden. Shigrat cherum bedeutet, dass alles so normal wie möglich weitergehen soll, auch unter ungewöhnlichen Umständen. Und das tut es, zumindest habe ich das Gefühl, dass es nicht nur mir so geht. Wenn es draußen ballert, gucke ich nicht mehr sofort nach, was mir das Sicherheitsteam per Whatsapp mitteilt – ich kann selbst abschätzen, wo es an der Grenze gekracht haben muß, und führe meinen Alltag weiter, und so tun es auch die anderen, die ich kenne.

Eine Bekannte aus Hanita findet sich langsam damit ab, dass ihr Kibbuz so schnell nicht wieder zu bewohnen ist, und sie hat mir erzählt, dass sich junge Kibbuzfamilien anderswo dauerhaft niedergelassen haben. Sie selbst (genau mein Alter) und ihr Mann sind auch bereit, unter schwierigen Umständen in den Kibbuz zurückzugehen, der direkt an der Grenze liegt, aber mit Kindern ist das natürlich was anderes. Für sie hat sich mehr geändert als für uns.

Eine Freundin aus Gesher HaZiv ist mit ihren Kindern zurückgekehrt, und es ist geplant, die Schulen und Kindergärten langsam wieder aufzumachen. Die Evakuierung der 5 km-Zone verwischt sich, und ich nehme an, wenn diese instabile Lage noch länger anhält, werden viele zurückkehren, nur die in den ganz grenznahen Orten nicht.

Die Hisbollah hat den Überraschungseffekt, den sie am 7. Oktober eindeutig gehabt hätte, verpaßt. Ich habe den Verdacht, dass sie jetzt auf unsere Gewöhnung an den Ausnahmezustand setzt, und ich kann nur hoffen, dass die IDF sich nicht ein zweites Mal überraschen läßt. Es ist jederzeit möglich, dass die Lage sich verschärft.

Es ist ein Nervenkrieg, es ist ein Abnutzungskrieg, und wir können uns nicht leisten, die Nerven zu verlieren oder uns abnutzen zu lassen.

Ich trage meine Erkennungsmarke jeden Tag, und sehr viele andere tun das auch. Für die Geiseln müssen die letzten Wochen, mit kaltem, nassem Winterwetter, sehr schwierig gewesen sein. Auch für die Soldaten sind sie kein Vergnügen. Es ist gut möglich, dass mit Frühlingsanfang und wärmeren Temperaturen die IDF die Initiative ergreift und der Routine des Kriegs auf kleiner Flamme ein Ende macht. Ich persönlich hoffe auf eine diplomatische Lösung, denn die Meinungsverschiedenheiten mit dem Libanon sind lösbar. Aber der Vernichtungswille der Hisbollah wird sich damit vermutlich nicht zufriedengeben. Das sind inner-libanesische Entscheidungen, auf die wir wenig Einfluß haben, wer sich durchsetzt – Pragmatiker oder Fanatiker. Bei den Palästinensern haben leider die Fanatiker das Sagen.

Seit ein paar Wochen verfolge ich das Kriegsgeschehen weniger intensiv. Einmal am Tag Nachrichten reicht mir, und manchmal lasse ich auch die ausfallen. Inzwischen arbeite ich täglich, das ist gut, besonders, weil ich in den Abendstunden arbeite, wenn die Nachrichten am intensivsten kommen. Oft verlasse ich mich auf eine Kurzfassung durch meinen Mann, der dann alles auch gleich für mich einordnet und mit sarkastischen Anmerkungen versieht. Bisher lag er immer richtig.

Eigentlich ist die Lage (ha-mazav) unmöglich, aber wir leben trotzdem so normal wie möglich weiter. Also nichts Neues von uns, weswegen ich auch weniger schreibe. Manchmal frage ich mich, wie wir uns später an diese Zeit erinnern werden. Ob der Konflikt sich verläppern wird oder die düsteren Prophezeiungen eintreten werden.

Der Februar ist mein liebster Monat, alles ist grün, und dieses Jahr haben wir viel Regen. In normalen Jahren verfolgen alle obsessiv, wie hoch der See Genezareth gestiegen ist, aber dieses Jahr scheint das niemanden zu interessieren.

Ich unterhalte mich mit vielen Menschen, und ohne Ausnahme würden alle gern einen Regierungswechsel sehen. Netanyahus Koalitionspartner haben keine Fans in meinem Umfeld, auch bei konservativeren Gesprächspartnern nicht. Sie machen Politik für ihre Wähler, nicht für das ganze Volk, und dass wir auch internationale Beziehungen haben, scheint ihnen noch nicht klargeworden zu sein. Sie machen den Eindruck verantwortungsloser Populisten, und das besorgt nicht nur mich. Die Legislaturperiode ist noch lange nicht vorbei, und diese Regierung wird sich trotz ihrer katastrophalen Bilanz an die Macht klammern.

Seit der Freilassung der Geiseln im November ist viel Zeit vergangen, und wie viele der verbleibenden Geiseln noch am Leben sind und wie es ihnen geht, weiß keiner. Die Welt scheint sie vergessen zu haben, Hobelspäne eines Konflikts, der den meisten zum Hals heraushängt und der überwiegend durch die Linse des palästinensischen Narrativs gesehen wird. Dass dieses Narrativ nicht der historischen Wahrheit entspricht, interessiert viele nicht, die Geschichte ist zu komplex.

Wie bedrückend die Feindseligkeit Israel und Juden gegenüber auf der ganzen Welt ist, kann ich gar nicht ausdrücken. Täglich neue Meldungen von körperlichen und verbalen Angriffen, Haß-Graffiti und Demonstrationen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich zu meinen Lebzeiten noch erleben muß, wie dieser uralte Haß wieder ans Tageslicht kommt. Dass er unterschwellig weiter gepflegt wird, das war mir klar, und auch, dass er größer ist, als wir wußten. Aber was sich jetzt Bahn bricht – das ist erschütternd.

Die Zeit vor dem 7. Oktober liegt jetzt weit zurück. Wir leben in einer Zeit der Unsicherheiten und offenen Fragen.

Kommentare»

1. IsaLobo - Februar 6, 2024, 9:04

ich lese alle deine Beiträge und kann deine Gemütslage gut nachvollziehen. Besonders deinen vorletzten Absatz kann ich absolut unterschreiben. Auch mir war klar, dass der Antisemitismus unter allerhand Deckmäntel die ganze Zeit weiter gewirkt hat; manchmal ist er ganz unverhohlen und nahezu unwidersprochen zu Tage getreten (s. Documenta). Was sich allerdings in den letzten Monaten weltweit Bahn bricht, insbesondere an Universitäten, so genannten intellektuellen Kreisen und internationalen Organisationen, erschüttert mich zutiefst. Ich bin erstaunt über meine eigene Naivität und suche fieberhaft nach einer neuen Verortung innerhalb meines zerstörten Weltbildes. Sascha Lobo hat im Spiegel eine ganz gute Kolumne zum Antisemitismus geschrieben. Was man dagegen tun kann, lässt er allerdings offen.

2. Anne.C. - Februar 6, 2024, 12:17

Der Schmerz über das, was Israelis (und anderen) angetan wurde, die Sorge um die Geiseln, die Angst der Angehörigen, das fällt bei mir in tiefe Schichten, sie arbeiten unterschwellig. Die Wut, Erbitterung und Empörung wie sich die Weltgemeinschaft dazu verhält, die sind immer präsent. Die Empathielosigkeit und Arroganz werden repräsentiert von einem ihrer obersten Führer, Antonio Guterres mit seinem Kommentar zum Massaker: „Selbst Schuld!“. In was für einer Welt leben wir?!

3. wgnaunyn - Februar 6, 2024, 23:36

In der jüdischen Allgemeinen ist ein Artikel über Haniye, dessen Verwandte gern die Gesundheitsversorgung in Israel nutzen, was hier unbekannt ist.

https://www.juedische-allgemeine.de/israel/nichte-von-hamas-chef-bekommt-baby-in-israel/

4. 24-02-08 ALU (Am Birkenknick) – iberty.de - Februar 8, 2024, 18:24

[…] Lila in Israel im Ausnahmezustand, aber der ist schon längst Routine geworden. […]


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