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Und jetzt! November 21, 2019, 17:33

Posted by Lila in Land und Leute.
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Um 19.30, also in zwei Stunden, wird Mandelblit bekanntgeben, zu welchem Ergebnis er gekommen ist – ob Netanyahu sich vor Gericht verantworten muß oder nicht. Auch die Schwere der Anklage spielt eine Rolle, aber selbst wenn er nicht wegen Korruption, sondern „nur“ wegen Amtsmißbrauch oder Vertrauensbruch angeklagt wird (Pardon, ich weiß eigentlich gar nicht, wie man die hebräischen Ausdrücke ins Juristische übersetzt), reicht das wohl, um ihn für den Job des PM von Israel zu disqualifizieren.

Eine Stunde später wird Netanyahu ebenfalls eine Erklärung abgeben.

Inzwischen hat sich schon eine Likud-Abgebordnete auf Saars Seite geschlagen, und Miri Regev hält Netanyahu die Fahne.

Ich hoffe so sehr, daß die Wähler keine Ohrfeige kriegen und zum dritten Mal ins Kabäuschen müssen, daß ich sehr auf die Idee setze, Edelstein oder Saar könnten Bibi ablösen. Beides gute Leute. Zwar ist meine politische Schnittmenge mit ihnen kleiner als mit z.B. Gantz, aber die Hauptsache ist mir nicht, daß jemand mit meinen Ansichten auf den „Sitz mit Hirschleder“ kommt, wie man Ehrenplätze der Macht auf Hebräisch nennt. Sondern daß die israelische Demokratie wieder laufen kann. Die ungelöste Frage, wie es mit Netanyahu weitergeht, hat bisher die Situation blockiert.

Und jetzt? November 21, 2019, 8:22

Posted by Lila in Land und Leute, Uncategorized.
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Die Frist, in der Benny Gantz eine Koalition hätte zusammenbasteln können, ist abgelaufen. Nachdem Bibi mehrmals damit gescheitert ist, war ziemlich klar, daß auch Gantz es nicht schaffen würde. Das Schaf kann entweder mit dem Kohlkopf oder dem Wolf koalieren, aber nicht mit beiden. Gantz steht dort, wo die Fäden sich kreuzen – zwischen Links und Rechts (Metaphern, die nicht wirklich auf Israel passen), zwischen säkular und religiös. Er könnte mit Links uns säkular koalieren (Meretz plus Baraks Partei, Avoda plus Gesher), mit Rechts und säkular (Liberman), und auch mit den religiösen Parteien könnte er vielleicht einen Kompromiß finden (sowohl modern-orthodox und säkular a la Bennet und Shaked, als auch Haredim). Aber die Zahlen reichen nicht, und Libermann wird weder mit den Ultra-Orthodoxen noch Meretz in einer Regierung sitzen.

Und solange nicht klar ist, ob es zu einer Anklageerhebung gegen Netanyahu kommt, werden weder Liberman noch Gantz mit ihm eine Koalition eingehen. Das sind Wahlversprechen, die diesmal eingehalten werden – keiner möchte als Netanyahus Partner auftreten, wenn der als Angeklagter vor Gericht sitzt. Selbst Amir Peretz ist nicht umgekippt.

Das hatten wir also alles schon, es war auch eigentlich schon am Wahlabend klar. Ja es war schon letztes Jahr klar, als Liberman die Regierung verließ und Netanyahu Neuwahlen ausrufen mußte, weil er keine neue, stabile Koalition finden konnte. Im April dasselbe Spiel, kein eindeutiges Wahlergerebnis, und im September noch einmal.

Man kann die Schuld bei allen möglichen Parteien und Personen suchen, aber es ist ziemlich klar, daß das Problem in den ungeklärten Vorwürfen gegen Netanyahu liegt. Wenn Mandelblit heute veröffentlichte, daß die Vorwürfe gegen ihn unbegründet sind, hätte er sofort Koalitionspartner. Und wenn es zur Anklage kommt, selbst wegen „minderer“ Vergehen, und er vom Fenster weg wäre, dann würde ein anderer die Likud-Partei übernehmen und der Weg zu einer Koalition wäre ebenfalls frei.

Nicht jeder sieht es so, aber ich glaube, Netanyahu würde bei Wahlen im März 2020 weiter an Unterstützung verlieren. Den Nimbus des Zauberers jedenfalls hat er schon vor einem Jahr eingebüßt, und sein Abstieg in Etappen ist deutlich erkennbar.

Aber noch sind drei Wochen bis zur Entscheidung zu Neuwahlen. In diesen drei Wochen liegt das Mandat nun bei der Knesset. Israel war noch nie in dieser Lage, daß zwei Kandidaten mit der Regierungsbildung gescheitert sind, aber jetzt ist es theoretisch möglich, daß jeder beliebige Abgeordnete eine Koalition auf die Beine stellt und damit zum Präsident geht.

Ich weiß nicht, ob jemand diese Chance ergreift – aber ich hoffe es, denn ein drittes Mal Neuwahlen wäre eine Katastrophe. Die Wähler haben zweimal das Ihre getan, und die Politiker müssen nun daraus was machen. Um uns herum organisieren sich der Iran und seine Satelliten zum Angriff, innenpolitisch fehlen Budgets, Entscheidungen, klare Linien. Neue Minister führen eifrig Neuerungen ein (Verkehrsminister Smutrich z.B. macht interessante Experimente mit Mitfahrer-Spuren, die aber ein bißchen auf die Schnelle zusammengenäht wirken), Budgets sind nicht endgültig abgesegnet (weswegen z.B. die Feuerwehr in einigen Kommunen keine neuen Leute einstellen kann), es ist einfach unmöglich, so weiterzumachen.

Ich hoffe also, daß sich im Likud-Block ein Rebell findet und sich von Netanyahu absetzt. So wie es Ariel Sharon mit Kadima getan hat – er hat damals viele gute Leute mitgenommen. Hat Gideon Saar das Format Sharons? Nein, hat er nicht, Sharon, so umstritten er war, flößte auch eine Art Vertrauen ein, daß er weiß, was er tut. Saar ist jünger, eher ein Schreibtischtyp, aber sehr klug und auch beliebt. Netanyahu mißtraut ihm seit Jahren, und ich halte es für möglich, daß er damit Recht hat und Saar tatsächlich eine Schar um sich sammelt, die jetzt hinter den Kulissen an einer Koalition von 61 Stimmen feilt.

Vor Netanyahu haben viele Angst, außerdem verdient er Anerkennung für seine Arbeit, sogar von Leuten wie uns, die seine Bilanz höchst kritisch sehen (wie er die Außenpolitik an sich gerissen hat, damit das Außenministerium total ausgebootet hat… und wie alle Themen, die nicht mit dem Iran oder Erdgas zu tun haben, vernachlässigt wurden…). Es ist also nicht sehr wahrscheinlich, daß tatsächlich in seiner Partei, die es sich jahrelang in seinem Windschatten bequem gemacht hat, nun ein Königsmörder aufsteht.

Es ist theoretisch auch möglich, daß Blau-Weiß in seine Einzelteile zerbricht. Ich tippe, daß das spätestens in einem neuen Wahlkampf kommt – Lapid wird mehr in Richtung Links tendieren, Yaalon und Hendel mehr in Richtung Neue Rechte (Bennet). Gantz wird am Ende allein dastehen. Ich habe schon in der Vergangenheit falschgelegen, und vielleicht ist es reiner Zweckpessimismus oder Aberglaube, aber ich bin ziemlich sicher, daß Gantz sich nicht wird durchsetzen können. Er wird zwischen seinen Partei“freunden“ aufgerieben, weil sie eine reine Zweckgemeinschaft eingegangen sind und eigentlich zu unterschiedlich sind. Erfolg und Macht hätten sie zusammenkitten können, aber das hat ja nicht geklappt. Wenn ein starker, seit Jahren aktiver und erfolgreicher Politiker wie Netanyahu von Mißerfolg schwer angenagt wird, wie soll das dann ein unerfahrener Neuling wie Gantz verkraften?

Würde aber eine Blau-Weiß-Einzelpartei eine Koalition zusammenkriegen? Wohl kaum. Ashkenazi ist umstritten, Bogie zu trocken und nicht charismatisch genug, Lapid würde nie genügend Wähler auf seine Seite bringen und ist durch seine frühere Zusammenarbeit mit Netanyahu schon zu sehr als reiner Karrierist gefärbt. Gantz wäre vielleicht ganz froh, Lapid loszuwerden…

Pardon, ich habe diese Gedanken bereits mehrmals durchgekaut, leider hat sich nichts verändert 😦

Wenige Stunden später:

Und da ist er – Gideon Saar hat sich aus der Deckung begeben.

saar

Er tut das erstmal in Form eines Vorschlags – Netanyahu hat bereits erklärt, Urwahlen seien unnötig, aber da die letzte Urwahl schon vier Jahr her ist, hat die Idee, jetzt noch mal welche abzuhalten, etwas für sich.

Ich frage mich, was er tun wird, wenn auf diesen Vorstoß Netanyahu und seine Leute die Idee von Urwahlen abschmettern, wie sie zweifellos tun werden. Ob er dann versuchen wird, mit dem Mandat der Knesset selbst 61 Unterschriften zusammenzukriegen. Die Zeit ist eigentlich reif dafür. Und wenn Saar es schaffen sollte, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen, den seit einem Jahr keiner entwirren kann, hätte er sich etabliert. Aber ich greife vor. Bisher ist es nur eine Idee.

Auf die Kaffeekanne gekommen November 14, 2019, 16:41

Posted by Lila in Persönliches, Rituale des Alltags.
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Wie bin ich eigentlich auf das Kaffee-Thema gekommen? Vermutlich liegt es einfach am Älterwerden, das alles mögliche wieder hochschwemmt.

Selbstverständlich komme ich aus einer Familie, in dem der Kaffee eine große Rolle spielte. Wir wußten schon als Kinder, daß unsere Eltern vor der ersten Tasse Kaffee nicht ansprechbar sind. In meiner frühen Kindheit muß es ein Alltagsgeschirr gegeben haben, an das ich mich nicht erinnere – meine Mutter ist, wie alle Frauen meiner Verwandtschaft, eine große Porzellanfreundin und hat für jeden Anlaß unter der Sonne das passende Service. Aber ich erinnere mich noch gut an das schöne Thomas Onyx Medaillon, das sonntags auf den Tisch kam. Ich finde es noch immer bildschön und elegant.

Leider ist es den Zeitläuften zum Opfer gefallen, so daß ich nur noch im Internet angucken kann, wie es so insgesamt aussah.

50er und frühe 60er Jahre in ihrer angenehmsten Form.

Ich erinnere mich auch noch genau an andere Service meiner Kindheit. Einige habe ich auch geerbt – so hinterließ mir eine liebe Großtante ein elfenbeinfarbenes Teeservice mit Goldrand, das ich in Berlin noch genutzt habe (ich selbst trinke nämlich eigentlich Tee mindestens ebenso gern wie Kaffee), das ich dann aber in Deutschland gelassen habe.

Denn ich habe ja Ende der 80er Jahre den Großen Sprung übers Mittelmeer getan und bin im Kibbuz gelandet, wo ganz viel ähnlich war wie zuhause (ein Jeckes-Kibbuz eben) und ganz vieles war ganz anders.

Die Kibbuzniks nämlich hatten von den bürgerlichen Werten einige mitgenommen, die in ihren kollektiven, spartanischen und sozialistischen Lifestyle paßten: harte Arbeit, Ehrlichkeit, Ordnung, Zuverlässigkeit. Aber die Rituale der Bürgerlichkeit warfen sie mit großem Schwung über Bord. Gegessen wurde gemeinsam im Speisesaal, von schlichtem funktionalem Geschirr. Davon aß man auch zuhause. Nachmittags um vier gab es zwar, nach dem Abholen der Kinder, eine Tasse Kaffee zuhause, mit Marmeladenbroten aus dem Speisesaal, aber der Kaffee wurde entweder in einem arabischen finjan auf der Gasflamme gemacht (türkischer Kaffe – kafe turki – botz, Schlamm, genannt), oder es war einfacher Elite-Pulverkaffee.

Türkischer Kaffee – Finjan-Kanne – löslicher Kaffe von Elite

Kaffeekannen gab es nicht, außer bei unserer alten Nachbarin, die mit zartem Porzellan, Silberlöffeln und den besten Kuchen des Kibbuz ihre Gäste beglückte. Darunter auch unvergeßlicherweise meine Eltern, als sie das erste Mal in den Kibbuz kamen. Als einzige Überlebende einer großen jüdischen Familie aus Köln fiel ihr das vielleicht anfangs etwas schwer, aber meiner Mutter fiel sofort auf, daß es nur bei ihr Kaffee aus richtigen Kaffeetassen mit Untertassen gab. Andere Kibbuzniks tranken ihn aus den schlichten Tassen vom Speisesaal.

Ich trank damals bei der Arbeit den löslichen Kaffee mit, der so ähnlich schmeckte wie der geliebte Caro-Kaffee meiner Kindheit (der wiederum heißt in Israel Chico, und ich mag ihn noch immer).

Chico – Kinderkaffee

Da ich nie eine Kaffee-Feinschmeckerin war, gewöhnte ich mich schnell daran. Auf Hebräisch nennt man löslichen Kaffee ness, was wie eine Abkürzung von Nescafe klingt und es vermutlich auch ist. Da ness Wunder heißt, ist Nescafe gewissermaßen Wunderkaffee.

Jahrelang tranken Y. und ich morgens unseren Ness. Es war schon so richtig bürgerlich, als wir uns Tassen kauften, die nicht aus dem Speisesaal stammten! Irgendwann warf der Markt bessere Sorten löslichen Kaffee aus, und wir stiegen vom guten alten Elite mit seinem billig-bitteren Geschmack auf andere Sorten um.

Der Sohn unserer alten Nachbarin schenkte uns zur Hochzeit eine Kaffeemaschine und eine Kaffeemühle. Ich bin mir ziemlich sicher, daß seine Eltern ihm dazu geraten haben – das ist doch ein Geschenk für eine Deutsche! Auf Hebräisch heißt so eine Maschine übrigens perkolator. Ich muß gestehen, daß ich nur selten Kaffee aus dem Perkolator getrunken habe, weil mir der olle Elite gut genug war, und in der Kaffeemühle habe ich Puderzucker hergestellt. Aber wenn meine Eltern kamen, dann kam die Maschine natürlich zu Ehren.

Vor ungefähr 15 Jahren bekam ich in Deutschland ein sehr schönes, schlicht weißes Service von Eschenbach geschenkt, das wir Stück für Stück nach Israel mitschleppten. Dazu gehörten natürlich auch Kaffeetassen, Untertassen und eine Kaffeekanne. Bei jedem Umzug packte ich sie alle mit ein und wieder aus, obwohl wir sie NIE benutzt haben (die Teller, Schüsseln etc benutzen wir natürlich täglich). Dabei hatten wir nicht so viel Schrankplatz in der Küche und gar kein Eßzimmer. Die Vitrinen und Anrichten deutscher Häuser kennt man in Kibbuz-Häusern natürlich nicht. Ich bin sicher, daß religiöse jüdische Familien massenhaft Schrankraum für Geschirr haben, denn sie brauchen mindestens vier komplette Sets – jeweils für milchig und fleischig, fürs ganze Jahr und für Pessach.

Wenn ich nach Deutschland komme, genieße ich die schöne Kaffeetafel meiner Familie und Bekannten, und ich lasse mir gern die Geschichte dazu erzählen. Auch wenn ich selbst so schöne Dinge nicht besitze, finde ich sie sehr schön bei anderen, und erinnere mich noch genau an die Freude, die wir alle an unserem Arabia-Rusca-Kaffeeservice hatten, das meine Mutter in Helsinki kaufte, bevor noch irgendjemand in Deutschland es kannte. Es war und ist immer noch sehr schön, finde ich, auch wenn es natürlich bei meiner Mutter längst ausgedient hat. Damals war es eine absolute Sensation – so dunkel, so schlicht, so kaffeebohnenfarbig. Die Textur ist auch ganz besonders. Ich habe keine Bilder, aber Google hat welche.

Das waren auch die Jahre, in denen viele im Alltag Melitta-Kopenhagen in orange oder rot benutzten – auch daran hängen viele Erinnerungen. Tja, man fand das damals schön, und es war ein deutlicher Bruch mit den zarten, weißen Tassen, den Streublumen, Weinblättern, Zwiebel- oder Strohblumenmustern der Vergangenheit. (Man wußte ja damals noch nicht, daß die alle den Geschmacksumschwung überleben würden!) Ein weiterer „Umstieg“ in den 70er Jahren, an den ich mich genau erinnere, ist der bei meiner Oma. Rosenthal Cordial hieß das, es war damals wirklich der letzte Schrei und paßte gut zu der neuen Schrankwand, die viel schlichter war als das alte Möbel. Doch ich war damals schon ein konservativer Mensch, glaube ich, oder einer, der Veränderungen nicht leicht mitmacht, und ich weiß noch genau, daß mir im Herzen das schöne Porzellan mit Goldrand und Röschen, das es vorher gab, immer noch lieber war. Meine Oma bewahrte es auch auf, und wenn ich allein bei ihr zu Besuch war, dann wünschte ich mir abends Hagebuttentee mit viel Zitrone aus einer der alten Tassen. Erinnerungen!

Meine Oma goß ihren Kaffee übrigens immer per Hand auf und ließ sich nie von einer Kaffee- oder Spülmaschine verführen. Sie selbst konnte das am besten. Die alte Kaffeemühle, die noch bei ihr stand, überließ sie aber meiner Mutter als Schmuckstück für unsere Küche (wir haben sie knallrot bemalt, ich weiß es noch genau), und eine elektrische Kaffeemühle akzeptierte sie. Meine Eltern hatten schon früh eine Kaffeemaschine, und heutzutage hat meine Mutter natürlich einen Vollautomat, der den Kaffee mahlt, brüht und serviert – und kein Wort spricht, bevor wir alle den ersten Kaffee getrunken haben.

Bei uns gibt es eine Stempelkanne, nein, es gab sie – Tertia, die kaffeemäßig anspruchsvoller ist als ihre Eltern, hat sie mitgenommen. Als wir noch Gasflammen hatten, haben wir auch manchmal Espresso in so einer Kanne gemacht. Ansonsten trinken wir nach wie vor wie richtige Kibbuzniks unseren schlichten ness aus großen Tassen, ich inzwischen mit Soja- oder Hafermilch. Jahrelang hatten wir Freude an unseren Steingut-Tassen, die wir mal auf den Aland-Inseln gekauft haben, bei der Töpferei Lugnet – leider sind sie irgendwann alle zerdeppert.

 

 

Das Bild ist ergoogelt, die Kanne hatten wir nicht, nur eine ganze Anzahl solcher Tassen.

Und wenn ich mal schön zum Kaffee einlade, dann reicht unser Eschenbach 🙂

Ich werde auf jeden Fall, wenn ich das nächste Mal nach Deutschland komme, bei Freunden und Verwandten Kaffee-Geschichten erfragen und erkunden.

 

Mal ganz was anderes, November 14, 2019, 15:31

Posted by Lila in Persönliches, Rituale des Alltags.
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aber jetzt mal ganz echt was anderes.

Während ich so vor mich hin brassele in allen möglichen Projekten, denke ich über Rituale des Alltags nach, und wie sie sich verändert haben. Aus irgendeinem Grund ist es besonders die deutsche Kaffeetafel, die mir im Sinn bleibt. Ich habe bei Twitter eine Mini-Anfrage gemacht, wie Leute ihren Kaffee heute trinken, und die Ergebnisse waren (für mich zumindest) sehr spannend.

Ich war glücklich über die Antworten! Und weil Twitter so ein kurzatmiges Medium ist, möchte ich hier gründlicher fragen. Wie trinkt Ihr Euren Kaffee heute – allein, zuhause, unterwegs, wenn Ihr Leute einladet? Spielt das Sonntags-Kaffeetafel-Ritual noch eine Rolle? Trinkt Ihr noch Filterkaffee? Wie steht Ihr zu Maschinen? Habt Ihr Tipps? Oder kommt Euch der Kult um Kaffee total übertrieben vor?

Fast noch mehr als der Kaffee selbst interessiert mich das Porzellan. Die gute alte Kaffeekanne, benutzt Ihr sie noch? Habt Ihr Erinnerungen an das Porzellan Eurer Kindheit? Habt Ihr Erbstücke, besondere Erwerbungen, ein Traum-Service, das Ihr Euch nie werdet leisten können?

Wenn Ihr mir Bilder schickt (weiß gerade nicht, ob man die in Kommentare mit einbauen kann, glaube eher, nein), dann können wir eine Galerie machen. Ich weiß nicht mal genau warum, aber mir kommt diese gepflegte Kaffeetafel vor wie DAS Sinnbild deutscher Bürgerlichkeit und Selbstvergewisserung. Ob ich je dazu kommen werde, eine Kulturgeschichte dieser Kaffeekultur zu schreiben, die ja auch Inbegriff der Spießigkeit für uns bedeutete, als wir rebellierende Jugendliche waren, weiß ich noch nicht, aber es ist auf meiner to-do-Liste (dieser Hydra). Auf jeden Fall bin ich von Neugierde zerfressen und möchte festhalten, woran sich meine Leserinnen und Freunde noch erinnern. In welcher Form ich das tun möchte, weiß ich ebenfalls noch nicht genau, vielleicht interessiert es ja niemanden, sich daran zu beteiligen oder es anzugucken. Aber ich habe den Eindruck, daß die Tasse Kaffe ebenso wie der Braten und das alkoholische Getränk zu den Grundpfeilern deutscher Rituale gehören.

Ich werde in einem extra Eintrag erzählen, wie ich auf das Kaffee-Thema gekommen bin und warum es mich interessiert. Aber seht das hier mal als Anregung, über den Kaffee in Eurer Kindheit, bei der Oma, damals und heute, nachzudenken. Wie zelebrieren wir den Alltag?

 

Ostern 1966, mit dem Thomas Medaillon Onyx

Noch ein Durchgang November 12, 2019, 14:13

Posted by Lila in Land und Leute, Qassamticker (incl. Gradraketen), Uncategorized.
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Ihr seid es leid, wir sind es leid, die Israelis im Süden haben es bestimmt noch viel leider.

Ich habe meinen Kassam-Ticker hier sehr vernachlässigt, was ich jetzt ein bißchen bedaure – aber wer mir auf Twitter gefolgt ist, hat mitgekriegt, wie oft in den letzten Monaten im Süden die Alarmsirenen und -lautsprecher losgegangen sind, wie viele Raketen Iron Dome abgeschossen hat, wie viele auf freiem Feld gefallen sind. Die israelische Reaktion war immer sehr gedämpft. Die Hamas hatte Zeit, ihre Gebäude zu räumen, bevor IDF dann entweder das leere Gebäude oder eine Düne beschoß.

Dabei wußten alle Beteiligten, daß es nicht die Hamas war, die hinter dem Raketenbeschuß stand. Aber Israel mischt sich nie in innere Streitigkeiten ein. Auch wenn Anti-Assad-Rebellen die Golanhöhen beschießen, liegt für Israel die Verantwortung dafür bei Assad, und ebenso ist die Hamas dafür verantwortlich, dafür zu sorgen, daß aus ihrem Gebiet nicht geschossen wird. Eine Regierung kann nicht einfach sagen: tja, über diese Leute haben wir leider keine Kontrolle, laßt uns in Ruhe, die schießen eben. Das funktioniert in keinem Land. Die Regierung trägt die Verantwortung. Wenn also der Islamische Jihad Israel beschießt, obwohl die Hamas ausdrücklich Ruhe versprochen hatte, dann schießt Israel nicht auf den Islamischen Jihad, sondern auf die Hamas. Als Zeichen dafür, indirekt, daß Israel die Hamas als Hausherren dort akzeptiert. Natürlich auch in der Hoffnung, daß die Hamas sich von dem Raketenbeschuß irgendwann mal offen distanziert und sagt: liebe Jihadisten, wir wollen diese Raketenschießerei nicht mehr, sie bringt uns nur Ärger.

Über Monate hinweg häuften sich die Vorfälle. Ein Musikfestival in Sderot wurde beschossen – mehrere Privathäuser wurden getroffen – eine äthiopischstämmige Familie wurde nur gerettet, weil die Mutter alle Kinder rechtzeitig in den Schutzraum brachte – seit einem Jahr kann man sich nie sicher fühlen (eigentlich viel länger, denn die ersten Raketen flogen noch vor der Räumung – es sind mehr als 15 Jahre).

Gleichzeitig fliegen seit März 2018 ständig Drachen oder Ballons mit Brand- und Sprengsätzen über die Grenze und richten dort Schaden an, auf Feldern, in Naturschutzgebieten und auch oft in der Nähe von Ortschaften.

Es war also klar, daß irgendwann Israel reagieren muß. (Übrigens: wäre Bibi tatsächlich so ein Hardliner, wäre das schon viel eher und schärfer passiert.) Israel weiß, wer der Strippenzieher im Islamischen Jihad ist, der auch von der Hamas keine Befehle annahm und immer wieder Vereinbarungen brach. Und heute früh ist dieser Mann, hm, wie nennt man das auf Deutsch? Auf Hebräisch nennt man es chissul, Ausschaltung, oder sikul memukad, gezieltes Aus-dem-Verkehr-Ziehen, also nennen wir es liquidieren? Sowohl im Gazastreifen als auch in der Nähe von Damaskus wurden Köpfe des Jihad von IAF-Flugzeugen angegriffen und getötet.

Ja, da kann man in deutschen Medien die Köpfe schütteln und sagen: das ist ja wie im Krieg! Ist es auch, und für die Zivilisten in Kfar Aza, Kerem Shalom, Sderot und Mefalsim fühlt es sich schon lange wie Krieg an. Die Kinder dort erinnern sich nicht mehr an eine Zeit ohne „Code Rot“. Natürlich – da der ständige Beschuß in deutschen Medien nicht vorkommt, denken Leser dort vielleicht, daß Israel unvermittelt und zu aggressiv vorgegangen ist. Aber irgendwann muß man dann mal was tun. Wer alternative Ideen hat, die Israel noch nicht ausprobiert hat, der kann sie gern in den Kommentaren aufschreiben.

Das Kalkül hinter: diesen Liquidierungen den Jihad so schwächen, daß er sich von der Hamas in die Pflicht nehmen läßt. Denn interessanterweise spielt im Gazastreifen die Hamas die Rolle des vernünftigen Erwachsenen. Okay, ein einäugiger König, aber immerhin. Auch die ägyptischen Vermittlungsbemühungen haben die Hamas vielleicht beeinflußt.

Es hängt also nun alles von der Hamas ab. Die empört sich zwar gegen Israel, läßt den Jihad auch ordentlich Raketen abfeuern (150 seit heute früh), tut aber sonst nichts. Wenn die Hamas sich an die Seite des Jihad stellt und selbst anfängt, Israel anzugreifen, dann haben wir eine Eskalation wie lange nicht mehr. Wenn die Hamas es schafft, den Jihad kaltzustellen und sich lieber Wirtschaft und Infrastruktur widmet, haben wir eine Grundlage für eine dauerhafte De-Eskalation.

Wer immer up to date sein will, sollte mal bei Rotter.net reingucken. Dort werden die wichtigsten englischsprachigen Medien verlinkt – von der linken Haaretz über Times of Israel bis zu den eher konservativen Jerusalem Post und Arutz 7. Die Seite sieht zwar nach nichts aus, ist aber übersichtlich und man kann sich jederzeit informieren, und zwar aus mehreren Blickwinkeln.

Wer wissen möchte, wie oft die Alarme kommen, kann sich sowas wie Red Alert aufs Telefönchen holen. Wobei man sagen muß: nicht jeder gemeldete Alarm ist auch eine Rakete. Israel ist in so viele Warngebiete eingeteilt, och nee, es ist schon wieder am rappeln, Alumim, Nahal Oz, Beeri!, daß ein Alarm mehrere Gebiete betreffen kann. Dann löst eine Rakete drei oder vier Alarme aus.

Twitter ist auch eine gute Informationsquelle. Vor allem, wenn ihr mir folgt 🙂 Lauter Filmchen von Unvorsichtigen, die lieber filmen und hochladen, statt sittsam in die Schutzräume zu gehen.

Ich folge im Internet den Nachrichten von Kan11 – bin zu dem Schluß gekommen, daß das die besten Nachrichten in Israel sind, sachlicher als Platzhirsch 12. Und sie senden einfach einen Livestream, was ich sehr nett finde. Aber Hebräisch sollte man schon können, sonst hat man wenig davon. Auch immer interessant für Hebräischversteher: das Armeeradio, Galey Zahal (Galatz) oder Galey Zahal al galgalim (Galgalatz).

Es ist schwierig, sich in solchen Zeiten einen kühlen Kopf zu bewahren. Auf die Angaben der Armee muß ich mich verlassen, ich kann sie nicht überprüfen. Und auch darauf, daß Verteidigungsminister Netanyahu dem Premierminister Netanyahu richtig geraten hat (seit 11 Uhr früh ist der Job auf Naftali Bennett übergegangen), daß politische Erwägungen keine Rolle gespielt haben und nicht auf dem Rücken der Bürger Ego-Spielchen ausgetragen werden.

Benny Gantz, der davon was versteht, hat Netanyahu jedenfalls Unterstützung ausgesprochen. Wenn er es für gerechtfertigt hält, dann muß ich annehmen, daß die Entscheidungen von Bibi und IDF angemessen und richtig waren. Leicht fällt das nie, besonders nach einem Jahr der politischen Spielchen. Und eigentlich ist Bibi ja nur Übergangs-PM. Als solcher in einen, chalila, Krieg einzusteigen, wäre ziemlich gewagt. Wie Bibi sehr wohl weiß – er hat es bisher geschafft, uns ohne größere Auseinandersetzung durch Phasen heftiger Aggression von außen zu manövrieren.

Aber so ist es nun wieder. Red Alert grummelt regelmäßig, alle Nachrichtensender haben Leute vor Ort, und seit die Alarme auch Tel Aviv erreicht haben, nehmen alle die Lage ernst. Ich hoffe sehr, niemand weiter kommt zu Schaden (das kleine Mädchen, das heute früh vor Schreck ohnmächtig wurde, hat immer noch Herzrhythmusstörungen und liegt auf der Intensivstation – höre ich gerade), und eine weitere Eskalation bleibt aus.

Von Schlußstrichen November 10, 2019, 23:21

Posted by Lila in Deutschland, Persönliches.
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In letzter Zeit lese ich zu viel über die NS-Zeit, die Regale entlang. Dabei bin ich auf die englische Ausgabe von Stephan Leberts „Denn du trägst meinen Namen“ gestoßen (ich meine, ich hätte vor Ewigkeiten mal die deutsche Fassung gelesen). Das Buch ist 20 Jahre alt, also beim heutigen Lesen eine dreifache Zeitreise. Der Autor interviewt Kinder von Nazi-„Größen“ in den späten 90er Jahren, die sein Vater kurz nach Kriegsende bereits interviewt und zu ihren Erinnerungen befragt hatte. Also von heute in die 90er, dann in die 50er, schließlich in die 30er Jahre.

Zu den Befragten selbst kann ich nicht viel sagen – außer Niklas Frank hat sich keiner von ihnen richtig freigeschwommen, und ich nehme an, daß auch ihm es noch schwerer gefallen wäre, wenn sein Vater ihm auch nur ein bißchen Liebe gezeigt hätte. Wir kommen so liebebedürftig zur Welt, daß es vermutlich zu viel verlangt wäre von einer Edda Göring, sich rational von ihrem Vater zu distanzieren. Ich bin keine Psychologin. Lebert und viele andere Autoren haben zu dem Thema alles gesagt. (Ich weiß von Freundinnen, wie hartnäckig das innere Bild der Guten Eltern ist – selbst Kinder mit Hämatomen und Brandwunden, die sie ihren Eltern verdanken, suchen noch nach Anerkennung und Liebe dieser Menschen und finden Erklärungen.)

Aber dem Autor fiel einiges auf, das man verallgemeinern kann. Auch die Kinder der größten Schurken konnten ihre Väter exkulpieren, indem sie die wahre Schuld auf andere schoben. Sprich – selbst wenn ihnen dämmerte, daß die Bilanz der Nazizeit eine lange Reihe unvorstellbarer Verbrechen war, dann fanden sie noch einen Weg, ihre Väter davon irgendwie zu distanzieren.

Im Kleinen taten sie damit, was wir Deutschen alle im Großen getan haben und noch tun. Es waren die Anderen, die Parteimitglieder, die höheren Funktionäre, die Fanatiker. Keiner fühlt sich betroffen. Es war „die schlimme Zeit“, man hatte Angst vor Bombenangriffen nachts und Tieffliegern tags, man war ja selbst Opfer. Die Erinnerung reicht bis dahin – nicht bis an die Momente vor der Wahlurne, als man entscheiden mußte, welcher Zettel reinkommt.

Wie bequem für uns alle, daß es die Franks, die Görings, die Himmlers und wie sie alle heißen gab. Die waren es, die waren schuld, aber unsere Oma und Opa doch nicht. Die Oma hatte eh keine Ahnung von Politik, der Opa war sowieso dagegen, und was hätten sie schon tun sollen? Sie haben doch alle mit innerem Widerwillen die Flaggen gehißt, die Lieder gesungen, die Sonnenwendfeiern mitgemacht und die jüdischen Geschäfte boykottiert. Ja, daß es dann hinterher die Möbel und Bücher von Nathans so billig gab, wer hätte denn ahnen können, wieso?

Ich möchte nicht selbstgefällig über Leute zu Gericht sitzen, die sich mitschuldig gemacht haben, denn wer weiß, ob ich selbst nicht auch eine begeisterte Marmeladenköchin im Dienst der Deutschen Frauenschaft geworden wäre? Aber es gibt ja noch Möglichkeiten außer blinder Exkulpierung oder arroganter Verurteilung, mit der Tatsache zu leben, daß es vermutlich keine Familie in Deutschland gab, die nicht als Opfer oder im weitesten Sinne als Täter Kenntnis von Zielen, Methoden und Taten der NS-Regierung hatte. (Ich spreche hier zu Nachkommen der Täter, nicht der Opfer.) Bekanntlich war der Zugriff total. Er war raffiniert und primitiv zugleich. Aber das macht unsere Vorfahren nicht zu armen Verführten, denn auch die, die ganze Propagandakacke anrührten, waren Deutsche.

Wo war, wo ist das Entsetzen? Lebert zitiert Schmidbauer, Lewitan, Reich-Ranicki – viele haben mit Entsetzen gesehen, daß den Tätern, ihren Kindern und Kindeskindern das Entsetzen fehlt. Ja, es ist Schulstoff, man sieht Filme und geht in Konzentrationslager und Museen und findet es alles ganz schrecklich. Vielleicht kommt für einen Moment das Grauen hoch, aber man schiebt es weg. Es waren ja Andere, ja, auch Deutsche, ja, auch in unserer Stadt, aber je näher man die Täter in der Umgebung hat, desto mehr Entschuldigungen hat man für sie.

Ich wünsche mir oft, ich hätte die Kaltblütigkeit, die ganzen harschen Kritiker Israels, die mir ungefragt ihre Meinungen um die Ohren schlagen, wenn sie hören, daß ich aus Israel komme – daß ich sie ganz schlicht fragen könnte: sag mal, was haben deine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern eigentlich zwischen 1933 und 1945 gemacht? Wie habt ihr das in der Familie thematisiert, verarbeitet, besprochen? Was habt ihr daraus für Lehren gezogen?

Vielleicht würde dann mal jemand auf den Trichter kommen, daß dieselbe Verächtlichkeit, mit der Juden als Giftpilze und Ratten beschimpft wurden, heute andere Termini benutzt, aber immer noch komplett unverändert sich durch die Zeit gerettet hat. Daß die eigenen Urteile über den Nahostkonflikt vielleicht doch nicht so „unparteiisch“ sind. Weil wir Partei sind. Auch wenn wir es vor uns selbst ableugnen.

Ja, auch die Journalisten, die sich gern als Hohepriester der Ausgewogenheit feiern, haben zuhause noch irgendwo Urgroßmutters Mutterkreuz und ein Bild vom Urgroßvater in Wehrmachtsuniform. Über die nie jemand gesprochen hat. Was das damit zu tun hat, daß sie ständig passiv-aggressive Urteile über Israel fällen, abwertende Begriffe verwerten, die Glaubwürdigkeit israelischer Quellen grammatikalisch anzweifeln? Oh, nichts natürlich, das muß Zufall sein.

Und beim Nachdenken in einer Lesepause dachte ich darüber nach, wie oft ich schon gehört habe, wir sollten aufhören, über die Kreuzzüge zu reden, über das Römische Reich, über den 30jährigen Krieg, die napoleonischen Kriege, die russische Revolution. Schlußstrich darunter, alles olle Kamellen, keiner kann mehr was davon lernen, und es dient ohnehin nur dazu, anderen ein schlechtes Gewissen einzureden, sich moralisch über sie zu erheben und sie emotional zu erpressen!

Ach, erinnere ich mich falsch? Wird diese Aussage tatsächlich nur und ausschließlich über die NS-Zeit getan? Ist es möglich, daß jeder, der von Schlußstrichen faselt, das tut, weil die Einschläge zu nahe kommen, weil er oder sie nicht imstande oder willens ist, wie ein moralisch erwachsener Mensch vor dem Grauen der Geschichte zu stehen, ohne sich in Distanzierung, Relativierung, Schuldumkehr, Projektion und verlogenen Sündenstolz zu retten?

Einfach erstmal dastehen und fühlen, wie das schmerzt und drückt und unausweichlich ist. Dann daraus ehrliche Konsequenzen ziehen. Den eigenen Vorurteilen, Ressentiments, Verkürzungen und Heucheleien unerbittlich nachjagen. Und sie bei anderen erkennen.

Es ist nicht einfach. Heute traf ich, wie schon so oft, eine ältere Dame, die in alle meine Vorträge kommt. Sie erzählte mir hinterher von den Tagebüchern ihres Vaters, der aus Berlin kam, und daß ihr junge Deutsche beim Lesen und Übersetzen helfen. Sie selbst war nur einmal in Berlin. Vier Tage. Mehr konnte sie nicht.

Hätte ich ihr sagen sollen: ach, aber das hat doch mit dem heutigen Deutschland nichts mehr zu tun?

Das konnte ich nicht. Ich treffe oft Leute hier, die total begeistert sind von Berlin oder Köln oder dem Schwarzwald, und dann freue ich mich, bin erleichtert, daß sie keine negativen Erlebnisse hatten. Aber soll ich dieser Frau versichern, daß heute in Deutschland Juden willkommen sind, daß sie sich furchtlos bewegen können? Noch vor ein paar Jahren war das einfacher, vielleicht habe ich da noch die Augen verschlossen – aber ich habe mich auf die Urteile jüdischer und israelischer Freunde verlassen. Ich selbst bin ja schon länger weg aus Deutschland, als ich dort gelebt habe.

Aber wie bitter ist es, daß ich nur nicken kann, wenn eine alte Dame mir erzählt, daß sie Angst hat, in Deutschland als Israelin, als Jüdin erkannt zu werden, und ich kann nicht sagen: oh, ich bin sicher, daß diese Angst unbegründet ist!

Statt dessen sage ich, „es gibt so viele schöne Orte in der Welt – du hast das Haus gesehen, in dem dein Vater aufgewachsen ist, und wenn du nicht nochmal hinfahren willst, kann ich das gut verstehen“.

Und denke an den jungen Juden in Freiburg, dem niemand geholfen hat, als ihm im Fitneß-Center die Kippa vom Kopf gerissen wurde. Der danach in einem Interview nichts über die Täter sagen wollte, aus Sorge, Ressentiments zu bestärken, unter denen dann Unschuldige leiden müßten.

Hätten die Studenten, die drumherum standen und nicht eingriffen, anders reagiert, wenn einem Flüchtling eine vergleichbare Aggression entgegengeschlagen wäre? Wäre sie dann alle betroffen gewesen und aktiv geworden? Vielleicht. Gut zu Flüchtlingen zu sein ist ein hoher Wert, weil man sich dann moralisch auf der Seite der Guten fühlen kann. (Was übrigens ein recht schäbiger Grund ist, gut zu Flüchtlingen zu sein, und ich fühle mich etwas garstig, daß mir dieser Verdacht so oft gekommen ist – als ich diesen Rausch der Begeisterung sah, vor ein paar Jahren, der nichts mit den Bedürfnissen der Flüchtlinge zu tun hatte, aber alles mit den Bedürfnissen mancher Helfer.)

Das Entsetzen kam nicht in den 50ern, sondern statt dessen Freßwelle, Reisewelle, Dauerwelle. Dann kamen die 60er, zuerst war man auf der Seite der Guten im Kalten Krieg und dann im Protest gegen Vietnam und Muff unter Talaren. Wie muffig man selbst war, mußte man nicht sehen – Prilblumen draufgeklebt, mit Optimismus weiter. Dann waren es schon nicht mehr die Eltern, sondern die Großeltern, und wer nimmt sich schon zu Herzen, was die Großeltern getan haben? Gut, wir benutzen gern Omas altes Indisch Blau, aber mit Omas geschönten Erinnerungen haben wir doch nichts zu tun!

Und so sind wir immer weiter mit kaltem Herzen, Fingerzeigen auf andere und selbstgerechten Urteilen von einem Jahrzehnt ins nächste gepoltert. Die Bindung an unsere Vergangenheit ist eine unsicher-vermeidende, die sich als Unabhängigkeit tarnt und sich wie ein moralisch unreifer Jugendlicher an Vorschriften klammert als ein Gewissen entwickelt. Daher kommt vielleicht das nach wie vor oft gehörte, „das ist nun mal so, da kann ich ihnen nicht helfen, das ist die Vorschrift“, das Festhalten an den heiligen Kühen – unsere Miele, unsere Mülltrennung, unser Mettigel.

Ja ja, alles Unsinn, wer kann schon ein Volk von 80 Millionen analysieren, ohne überhaupt nur dort mehr Zeit verbracht zu haben als ein paar Jugendjahre? Das hat doch alles mit euch, mit mir, mit uns, gar nichts zu tun. Es waren doch die Anderen, die wirklich Bösen.

Immer noch in der Schwebe November 5, 2019, 16:39

Posted by Lila in Land und Leute.
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Später werden wir uns mal daran erinnern, wie merkwürdig das war. Das Land hat nach zwei Wahlen keine Regierung, weil diesmal alle ihre Versprechungen aus dem Wahlkampf halten und niemand, der Netanyahu abgeschworen hat, sich auf ihn einschwören möchte. Die Situation ist nach wie vor blockiert. Gantz kann seinen Auftrag der Regierungsbildung nicht erfüllen, alle Politiker zappeln in ihren Netzen. Unterdessen sind Entscheidungen blockiert, Etats sind unklar, keiner weiß, in welche Richtung es weitergehen soll, weder innen- noch außenpolitisch. Bibi spielt unterdessen weiter PM, als müßte das so sein.

Gleichzeitig sickern Informationen über Bibis diverse Anhörungen durch, und es scheint durchaus möglich, daß es zu einer Anklageerhebung kommt, aber wann? und was sagt die Tatsache, daß Informationen überhaupt durchsickern, über die Staatsanwaltschaft aus? Es wird auch geraunt, daß die Kronzeugen gegen Netanyahu unter Druck gesetzt wurden, und niemand sieht richtig frisch und rosig aus in dieser Geschichte.

Zwischendurch rappeln und brummen alle Telefone – Red Alarm löst aus, im Süden retten sich Familien in ihre Schutzräume und Raketen fallen (immer wieder mal eine auf ein Haus, obwohl Iron Dome die meisten abschießt). Dann wird spekuliert – war es der Islamische Jihad? läßt die Hamas das zu, oder würde sie es gern verhindern, weiß aber nicht wie? Israel beschießt symbolisch ein paar von der Hamas militärisch genutzte Gebäude, die die Hamas natürlich vorher schlauerweise räumt. An einer Eskalation liegt niemandem, also ist am nächsten Tag wieder spukhafte Ruhe, als wäre nichts gewesen. Bis zum nächsten Alarm.

Im Libanon wird demonstriert, in vielen anderen Ländern auch. Nach dem arabischen Frühling, der katastrophale Folgen hatte, könnte nun ein arabischer Herbst folgen. Der Iran droht, die Türkei hat ihre Interessen gewaltsam durchgesetzt, die Falschen können sich freuen, und alle Prozesse laufen weiter ab, in dieser unruhigen Gegend.

Wie konkret die Bedrohung durch den Iran ist, der vielleicht vom Yemen aus ein paar Raketlein auf unser garstig Haupt schießen will, kann ich nicht einschätzen. Man hört es ungern, Anzeichen für De-Eskalation gibt der Iran auch nicht, andererseits – was hätten sie jetzt davon? Sie möchten doch bestimmt warten, bis sie eine nette, pummelige Atombombe haben, damit es sich auch lohnt.

Ja, Bibi ist noch am Steuer, aber einen richtigen Kurs kann er nicht einschlagen, denn er weiß nicht, wer in einem halben Jahr das Steuer übernimmt. Ich tippe darauf, daß er es nicht mehr sein wird – er hat es dreimal nicht geschafft, die benötigte Mehrheit zu schaffen, warum sollte er es nach einem CHALILA dritten Wahlgang schaffen? (Ja, dreimal: 1. nach dem Abspringen Liebermans, deswegen wurden Wahlen nötig – 2. nach dem Wahlen im Frühling und 2. jetzt).

Es ist eine Situation, wie ich sie noch nie erlebt habe, und ich habe schon einiges hier erlebt. Das Leben läuft normal weiter. Ich genieße meine Arbeit, verliere regelmäßig gegen Quarta im Mensch-ärgere-dich-nicht (wir spielen das noch immer obsessiv – auf dem Sechserfeld, jede von uns mit drei Farben, immer dieselben, und ich habe in all den Jahren nur EIN jämmerliches Mal knapp gewonnen!), trinke morgens Kaffee und abends Tee mit meinem geliebten Mann, und lebe zufrieden wie ein Eichhörnchen in seinem mit Büchern vollgestopften Kobel. Und so leben alle, die ich kenne, normal weiter, im Gegensatz zu anderen Krisenzeiten, wo die tägliche Routine deutlich gestört war. Mal durch Gasmasken und Alarme, mal durch ständige Attentate, mal durch Angst um Kinder in Uniform. Diesmal ist es nicht so.

Aber der Irrsinn, daß ausgerechnet dieses Land seit einem Jahr keine funktionsfähige, stabile Regierung hat, liegt knapp unter der Oberfläche. Egal wo die Leute politisch stehen, die ich kenne – keiner will ein drittes Mal Knesset-Wahlen. Irgendwas muß geschehen. Aber schnell.