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Gestern, heute, morgen Februar 27, 2024, 20:29

Posted by Lila in Persönliches.
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Gestern war ein sehr unruhiger Tag. Ich war den ganzen Tag unterwegs und hatte nicht viel Zeit für die Nachrichten, aber abends holte mein Mann mich ab und gab mir seine Zusammenfassung. Außerdem meinte er: morgen wird´s schlimmer.

Heute hatten wir beide frei, weil Kommunalwahlen waren. In unserer Gegend wird nicht gewählt. Die Wahlen sind verschoben, weil ein großer Teil der Einwohner immer noch evakuiert ist. (Nicht, als ob das international irgendjemanden kümmern würde!) Wir haben einen ruhigen Tag verbracht, und von der langen Liste von Dingen in Haus und Garten, die wir unbedingt machen müssen, haben wir einfach gar nichts gemacht. Wir sind spazieren gegangen (waren auch bei der Post – mein Adventskalender ist angekommen und ein Paket Lebkuchen! seit November unterwegs…) und haben die milde Luft genossen. Der Februar ist ja mein Lieblingsmonat, und er hat dieses Jahr so viel Regen gebracht, dass alles grünt und blüht. Einfach wunderschön. Im Ort liefen Familien herum, in den Gärten spielten Kinder.

Mein Mann hat sein meisterliches Shakshuka gemacht, und dann hat er sich Nachmittagsruhe gegönnt. Gegen vier hörte ich draußen laute Geräusche, und Sekunden später gingen draußen die Sirenen. Das Smartphone heult, vibriert und blinkt bei Alarm, und die Katzen flohen entsetzt unter unser Bett. Ich weckte meinen Mann, wir sprangen in den Schutzraum und schlugen die Tür zu, während über uns die Hölle los war. Das dauerte ein paar Minuten.

Wir versuchten, die Explosionen zu zählen und abzuschätzen, ob es Iron-Dome-Abschüsse waren oder Raketeneinschläge, und wir kamen zum Ergebnis, dass es wohl beides war. Nach zehn Minuten war es still und wir konnten wieder raus. Insgesamt war zweimal Alarm in Manot, oder war es dreimal? Es war so kurz hintereinander.

Draußen war es wieder still und ruhig, aber die Kinder riefen an und der Schwiegervater, ob bei uns alles okay ist. Ja, klar. Dann sahen wir die Clips, die erst per Whatsapp in der Nachbarschaftsgruppe geteilt wurden, dann auf Twix auftauchten und schließlich im Fernsehen. Um die 20 Raketen in unserer Gegend, einige davon abgefangen, andere auf freiem Feld oder einer Straße eingeschlagen.

Das war auf der Straße 89 von Maalot nach Nahariya, die auf dem Hügel uns gegenüber verläuft. Die Leute im Auto verhalten sich nicht nach den Anweisungen des Homefront-Kommandos – sie hätten aussteigen, sich vom Auto entfernen und hinlegen sollen, beide Hände über dem Kopf. Aber wenn man den Clip bis zum Schluß sieht, ist klar, dass das u.U. auch gefährlich gewesen wäre.

Autofahren ist einfach ein Risiko im Moment, weil Iron Dome nur für besiedelte Gebiete eingesetzt wird. Straßen gehören nicht unbedingt dazu.

Die große Qualmwolke im Clip ist über der Kabri-Kreuzung, ein bißchen weiter südlich von uns, wo wir jeden Tag vorbeikommen. Auch in Kfar Yassif,Abu Snan, Julis und Yirka, wo Drusen, Christen und Muslime leben, war Alarm. Glücklicherweise ist niemand verletzt worden.

Der Schreckensruf „immale!“ ist übrigens typisch, Mütterchen!, das ruft man hier, wenn man einen Schrecken kriegt. Mein Deutsch ist schon so rostig, dass mir gar nicht mehr einfällt, was man eigentlich statt immale ausstößt. Vermutlich ach du Scheiße oder so ähnlich 🙂

Die Eskalation ist im Gang, Israel greift aggressiver und weiter nördlich an, immer Stellungen der Hisbollah. Gestern in Baalbek, einer Hochburg der Hisbollah, 100 km nördlich der Grenze. Hisbollah reagiert dann wieder, und wir reagieren, und so geht es weiter. Wenn man aber in der Zeit zurückgeht, ist klar: den ersten, zweiten und dritten Schuß hat Hisbollah abgegeben, nicht erst am 7.10., sondern schon zu Pessach. Und wenn Hisbollah aufhört, hört Israel auch auf. Es ist also eine einseitig vorangetriebene Eskalation, in der Israel reagiert, und noch lange nicht mit voller Härte. Aber Israel de-eskaliert auch nicht, und dass ich viel weniger Artillerie höre, bedeutet bestimmt kein Nachlassen des Drucks auf Hisbollah. Ich höre dafür viel mehr Flugzeuge.

Ich kann mich nicht erinnern, seit dem 7.10. einmal richtig entspannt gewesen zu sein. Soldaten – Geiseln – Krieg – Raketen, eine Litanei der Sorgen und Ängste. Aber ich habe auch nie hysterisch reagiert wie die Leute in dem Clip, stellt euch das nicht so vor, dass es immer so ist. Das waren junge Leute, die mit der Situation überfordert waren und echte Angst hatten. Wir haben ruhig im Schutzraum gesessen und gewartet, bis es vorbei war. Im Schutzraum fühle ich mich tatsächlich geschützt, obwohl schon klar ist, dass ein Direkttreffer gefährlich wäre. Mein Mann sagte trocken: immerhin sehen wir, dass Iron Dome noch funktioniert.

Aber auch am 7.10., als wir Quarta aus Tel Aviv abholten und unterwegs Alarm war, sind wir ruhig geblieben. Angehalten, hinter ein Mäuerchen gelaufen, Quarta in die Mitte genommen und auf den Boden gegangen, bis es vorbei war. Man muß immer zehn Minuten warten, weil sonst noch Trümmer von Raketen oder Iron Dome runterfallen können. Auch als ich an der Bushaltestelle im Winter von einer Rakete überrascht wurde, habe ich nichts weiter getan, als zuzugucken, wie Iron Dome sie abfängt. Der Bus kam auch pünktlich, und ich war nicht die einzige aus Manot, die eingestiegen ist.

Das war also unser Tag heute. Keiner weiß, wir morgen wird. Ich hoffe, wir behalten alle die Nerven. In einem Nervenkrieg sind Nerven ein hohes Gut.

Mir tut es gut zu schreiben, ich schreibe mir die Sachen von der Seele und das hilft. Danke an alle, die lesen, kommentieren und meine Tee-Kasse freundlich bedenken. Ich würde gern alle Kommentare beantworten, das habe ich früher immer getan, aber jetzt fällt es mir schwer, obwohl es mich freut, dass es ganz überwiegend positive Kommentare sind. Die Trolle sind wohl alle zu Twitter-X umgezogen und toben sich da aus, und da stört es mich auch nicht, denn es fühlt sich nicht so persönlich an.

Familie, Arbeit, Alltag, Schreiben, und wissen, wofür man lebt. So überstehen wir die Zeit.

Kommentare»

1. brigwords - Februar 27, 2024, 20:38

Liebe Grüsse und viele gute Gedanken und Hoffnungen and dich und euch alle
Brig

2. Rika - Februar 28, 2024, 0:19

„Wissen, wofür man lebt.“

Wofür man kämpft, arbeitet und was man erhofft.

Dass Euch der Mut und die Hoffnung nicht ausgeht, das wünsche ich Euch.

3. Hein - Februar 28, 2024, 0:41

Danke für Deine Zeilen. So können wir wenigstens gedanklich an Eurer Seite stehen.

4. jim11111 - Februar 28, 2024, 0:50

Lila, wenn man Dich bzw Euch und Euer Schicksal über die Jahre verfolgt, so über geschätzte 25 herum, entwickelt man ein ganz besonderes Empfinden, ein Gefühl der Zuneigung oder so, wenn Du verstehen kannst, was ich damit meine.

Nun, wenn nun aber hier auf rungholt, gegenwärtig, so ein- zwei oder sogar drei Tage lang nix von Dir kommt, ehrlich, da macht man sich schon Sorgen, wenn du verstehen kannst, was ich meine.

Da hat sich ganz offensichtlich was entwickelt, was tiefergehendes, man macht sich Sorgen, denkt an Dich, denkt an Euch, an Dein Mann, an Eure Kinder …

5. Marion - Februar 28, 2024, 9:42

Vielen Dank für Deine ausführlichen Informationen, was es bedeutet, in Israel zu leben und ständig von allen Seiten bedroht zu werden. Das ist unvorstellbar, wenn man so sicher leben kann, wie wir hier in Deutschland. Wenn Du und andere Israelis uns nicht informieren würdet, wüssten wir nicht, was in Israel passiert. Das ist nicht zu fassen, wie selbstverständlich ein Volk bedroht und zerstört werden darf und die Welt schaut zu und stellt sich hinter die Terroristen.
Wie Ihr mit all diesen schrecklichen Lebensumständen umgeht und Euer Leben bestreitet, zeigt, was Ihr für ein starkes Volk seid.

Wir stehen zu Euch und wünschen Euch und uns allen ein friedliches Leben.

6. ha220782 - Februar 28, 2024, 17:49

Haltet die Ohren steif.Weiterhin Hals und Beinbruch.

7. madeleine - Februar 28, 2024, 21:15

Liebe Lila

Danke für Dein Schreiben, die Richtigstellungen, das Erinnern, das uns Teilhabenlassen.

Seid behütet und ausgrüstet mit Drahtseilnerven…

Herzlich…

8. Julia - Februar 28, 2024, 21:21

Danke für deine so persönlichen Informationen! Wo findet man denn deine Tee- Kasse?

9. Hanna Ringena - Februar 29, 2024, 17:05

Liebe Lila, meine Gedanken sind immer bei Euch!!!!

10. Frank - März 3, 2024, 16:40

Shalom, mein Name ist Frank, und meine Frau Eva liest regelmäßig deine Blogbeiträge, schreibt aber nie irgendwelche Kommentare. So möchte ich dir jetzt mal eine kurze Rückmeldung geben (auch in ihrem Namen🙂)

Vielen Dank, dass du uns deine Gedanken schreibst und uns ein Stück an deinem Leben teilhaben lässt.

Ich bin am Freitag nach 3 Wochen Volontariat bei SAR EL aus Israel zurückgekommen. Vor 14 Tagen bin ich genau auf der Straße gefahren, die im Video zu sehen ist. Ziemlich genau an der Stelle habe ich zu meinem Freund gesagt, er soll langsamer fahren weil es an dem Tag so stark geregnet hat. Wir hatten das Grab des gefallenen deutschen Soldaten, Urija Bayer, und seine Eltern in Maalot besucht. Sicher hast du von ihm gehört.

Eva wird weiter deine Beiträge lesen und mir berichten😉
Liebe Grüße aus dem Allgäu und STAY SAVE!

11. Schaschlik | abseits vom mainstream - heplev - März 3, 2024, 23:41

[…] Haftung– Nein, die meisten Menschen im Gazastreifen sind nicht “so wie wir”.– Gestern, heute, morgen– Flutfolgen– Ist Yuval Avraham ein „Antisemit“? Oder Claudia Roth? Oder ich?– […]


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