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Wie geht es uns jetzt? April 1, 2020, 13:08

Posted by Lila in Persönliches.
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Uns allen? Langsam haben wir alle kapiert, daß diese Corona-Geschichte wohl nicht so schnell vorübergeht, wie wir gern hätten. Und selbst wenn die erste Welle, möge sie flach sein, durchgerollt ist, müssen wir schon die nächste verhindern, die, glaubt man Experten, wohl kommen wird.

Wie wenig die westliche Welt, trotz aller Beteuerungen, wirklich gewapnnet war, zeigt das Mundschutz-Debakel. Erst versichern, wir brauchen so ein Ding nicht – dann, nach Wochen, kleinlaut zugeben, doch, wir hätten sie wohl gebraucht, nur leider waren sie nicht da. Wenn man dann darüber nachdenkt, was sonst noch ans Licht kommen wird, könnte man geradezu trübsinnig werden. Natürlich kann kein Staat solche Dinge, die wohl auch nicht endlos haltbar sind, nicht für den Fall eines Falles in Mengen bunkern, die für die gesamte Bevölkerung reichen. Aber daß die Produktion solcher Artikel nicht für den Notfall heimisch eingeplant sind, und daß zu Anfang nicht die Wahrheit gesagt wurde, ist ein kleines Fragezeichen.

Jetzt weiß ich nicht, ob die vielen Anleitungen im Internt wirklich nützlich sind und wir in die klassische Rolle der Mullbinden-wickelnden, Scharpie-zupfenden und Pulswärmer-strickenden Zivilistinnen im Krieg zurückverwiesen sind (wobei sich nähende, strickende Männer selbstverständlich mitgemeint fühlen sollen), oder ob das der nächste SelbstberuhigungsHoax ist, über den wir später lachen werden (abgeklebte Fenster und nasser Aufnehmer unter der Tür, ich meine euch, ja).

Die Zahlen steigen, die Medien konzentrieren sich auf bestimmte Themen, die sie zu Tode reiten (hier bei uns die regelmäßige Empörung über die Ultra-Orthodoxen, die die Epidemie so lange ignoriert haben, bis wichtige Rabbiner aus Brooklyn erkrankten, und von denen immer noch ein Teil medizinische Teams mit Steinen bewirft und sich trotzig zu Dutzenden oder Hunderten versammeln).

Für mich als Laiin ist es praktisch unmöglich zu entscheiden, welche Expertin nun Recht hat und welche Prognose eintreffen könnte. Manche sehen uns ab sofort in einem endlosen Kampf gegen ständig mutierende Corona-Viren, andere sagen, nach Pessach wird langsam Normalität einkehren, ich höre allen zu und fasse mich in Geduld, was kann ich sonst tun?

Daß sich der politische Knoten hier in Israel gelöst hat, ist erstmal gut. Eine vierte Wahl wäre katastrophal gewesen. Ob der Corona-Ausbruch nun reine Ausrede für Gantz war oder er wirklich den Druck fühlte, politische Auseinandersetzungen beiseite zu tun, weiß keiner. Aber die vielen Zusammschlüsse verschiedener Listen und Parteien, die sich bei den letzten und vorletzten Wahlen gebildet hatten, um mehr Einfluß auszüben, sind nun alle wieder zerplatzt, und zwar noch weiter zersplittert als vorher. Auch innerhalb der Bestandteile von Blau-Weiß haben sich Weggefährten getrennt, die Arbeitspartei ist in sich selbst gespalten (so klein wie sie geworden ist, so spaltungsfroh bleibt sie), alle sind miteinander verkracht, und die frühere treue Weggefährtin Gantz´, Orna Barbivai (die als hohe Offizierin viele Jahre unter ihm gedient hat und von ihm gefördert wurde) hielt eine bittere Rede der Enttäuschung und Desillusionierung, die Gantz versteinerten Gesichts anhörte.

Vielleicht hat er Israel durch sein Selbstopfer auf dem Altar des Bibitums gerettet, seine politische Karriere wird kaum zu retten sein, zu kraß war der Wortbruch den Gefährten gegenüber. Ob er sich daraus noch retten kann? Ich kenne fast nur Leute, die ihn gewählt haben bzw eine Partei, die für ihn gestimmt hätte, und nur Leute, die sagen: nie wieder Benny Gantz.

Aber wir kriegen eine Regierung, leider bleibt der inkompetente Litzman Gesundheitsminister, aber in Likud und Blau-Weiß gibt es ganz gute Leute, die hoffentlich gute Arbeit leisten werden. Zum Himmel schreit allerdings, daß aus koalitionstechnischen Gründen das Kabinett weiter anschwillt. Über 30 Minister! ein Skandal, wenn so viele Israelis arbeitslos sind und am Existenzminimum entlangschrammen werden, wenn die Wirtschaft sich nicht schnell erholt. Von 4% Arbeitslosigkeit im Februar sind wir jetzt auf fast 25%. Alle Notprogramme der Regierung können uns auf die Dauer nicht retten. Jeder Shekel, den die Regierung einsparen kann, wird benötigt.

Mein Mann hat Arbeit, das ist gut, aber das Loch, das meine Arbeitslosigkeit reißt, merken wir deutlich. Ich hoffe, daß ich irgendwann weiterarbeiten kann, glaube aber nicht, daß das schnell gehen wird. Verglichen mit anderen geht es uns sehr gut. Die Familien mit kleinen Kindern oder Menschen mit Behinderungen aller Arten, deren Arbeitsplätze, Schulen oder Therapieeinrichtungen geschlossen sind – die isolierten, alleinlebenden Alten, die Holocaustüberlebenden ohne Angehörige, nach denen niemand fragt, die kleinen Selbständigen, die nicht wissen, wie sie die Miete für den Friseursalon zahlen sollen, der keine Einnahmen mehr bringt – mir fallen ohne Ende Menschen ein, denen es deutlich schlechter geht als uns, von Infizierten, Kranken und deren Freunden und Angehörigen mal ganz abgesehen.

Und wer kann ausdrücken, wie viel Respekt man spürt für die Menschen, die direkt mit den Kranken arbeiten? Ich selbst hätte gern einen pflegerischen Beruf ergriffen und die Entscheidung, Geisteswissenschaften oder ein Zweig der Pflege, den ich bis heute wunderbar finde, war so knapp wie keine andere Entscheidung in meinem Leben, und mich hat die weitverbreitete Mißachtung dieses Berufs immer schon geärgert und wütend gemacht. Jetzt scheinen einige andere auch begriffen zu haben, daß diese ganzen „unproduktiven“ Berufe, in denen Menschen gepflegt, am Leben erhalten, unterrichtet, betreut, ins Leben und zur Gesundheit zurückgeführt werden, dieselbe Anerkennung verdient haben wie Ärzte, die bisher allen Respekt für dieses Genre auf sich versammelten.

Vermutlich tun wir alle, die im Moment keine Arbeit haben, ähnliche Dinge, sortieren die Hülsenfrüchte im Küchenschrank nach Farbe, Form und Größe, gehen dann zu den Socken über, und fragen uns, was wir im Mai sortieren sollen.

Doch zum Thema Mundschutz, um das wohl in Deutschland mal wieder eine Grundsatzdiskussion entbrannt ist – wir haben über Gurtpflicht, Mülltrennung und die Abschaffung der Anrede Fräulein auch mal diskutiert. Eines habe ich in Israel gelernt, und das ist klare Prioritätensetzung. Ein Menschenleben retten, und wenn es EIN einziges ist, hat oberste Priorität. Wenn wir durch Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, ob selbstgemacht oder gekauft, uns selbst und vor allem andere schützen können, dann sollten wir das selbstverständlich tun, ohne eine Diskussion über Freiheit daran zu knüpfen, die ihre Argumente aus ganz anderen Diskussionen bezieht. Heutzutage tragen alle Zahnärzte solche Masken, in meiner Jugend war das noch nicht so, doch meiner Meinung nach haben dabei Patienten und Zahnärzte keinerlei Freiheiten eingebüßt. Es ist eine Frage der Rücksichtsnahme. Weiß ich, ob der Mensch neben mir eine Vorerkrankung hat?

Ich habe das glaube ich schon gesagt, egal, aber ich sage es noch mal. Auch ich war sorglos, habe Grippe, an der jedes Jahr Menschen sterben, Kinder und Alte, nicht ernst genug genommen. Zwar habe ich über die egoistischen Impfgegner, die ihre Kinder nicht impfen lassen und darauf bauen, daß alle anderen geimpft sind, immer ordentlich geschimpft, aber ich selbst habe  mich nie gegen die Grippe impfen lassen. Dabei habe ich viel Kontakt zu Menschen über 70, auch weit über 70. Es hätte mir selbstverständlich sein sollen, mich zum Schutze dieser Menschen, aber auch der Kinder meiner Umgebung, gegen Grippe impfen zu lassen.

Wir waren sorglos, wir waren egoistisch, und ich hoffe sehr, daß nicht nur ich in mich gehe, daß wir alle rücksichtsvoller werden. Daß wir aktiv die Bemühungen derer unterstützen werden, die für ihre „systemrelevante“ (Unwort des Jahres!) Arbeit mehr Geld und Anerkennung erkämpfen werden. Daß wir uns öfter und gründlicher die Hände waschen, Mundschutz benutzen, ohne uns deswegen zu genieren, bei Erkältung ganz besonders!, und vielleicht die vielen Reisen reduzieren. Daß wir regional und saisonal kaufen werden, um die einheimischen Landwirte zu unterstützen, daß wir kleine Geschäfte besuchen werden, statt die Riesen zu unterstützen, die es viel weniger brauchen. Daß uns das Gefühl erhalten bleibt: wir sind eine Spezies, und bei allen Unterschieden gibt es Gefahren, die uns alle zugleich betreffen. Wenn wir nicht füreinander einstehen, schaden wir uns selbst. Auch wenn der Bumerang uns erst Jahrzehnte später treffen mag.

Irgendwelche positiven Folgen muß dieser Albtraum doch haben.