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Hör ich gerade November 30, 2006, 23:31

Posted by Lila in Muzika israelit.
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Ich hab lange keine israelische Musik mehr vorgestellt. Heute: Bet habubot, „Puppenhaus“, eine ganz junge Gruppe, die meine Kinder mit Begeisterung hören. Mein Schwager, der auf seinen endlosen Fahrten zu seiner Hi-Tech-Firma im Zentrum des Landes (die Entfernung ist klein, der Staufaktor enorm…) immer Radio hört und so informiert ist, hat ihnen die CD geschenkt. Wenn die Kinder weg sind, hör ich sie. Schön melancholisch, wie israelische Musik immer fast immer ist, mit starken südamerikanischen Einflüssen. Wie bei HaYehudim kann ich sie nur in kleinen Dosen hören, aber heute habe ich gerade Lust dazu. (Oho, zu den Yehudim gibt es ein paar Links, unerwartet!)

Oh, ich muß doch mal You tube versuchen, das ist ja ganz einfach. Obwohl Film und Musik nicht ganz zusammenpassen… aber ein kleiner Eindruck.

Nur Murks – November 29, 2006, 17:22

Posted by Lila in Land und Leute.
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wird in Israel getrieben, stöhnt heute Uzi Benziman in Haaretz. Wer Israel kennt, weiß, wovon er redet. Die Eisenbahnen kommen nicht pünktlich an oder entgleisen gar, die Klamotten ribbeln sich von innen auf, wenn im Laden was reklamieren will, muß man sich mit muffligen, inkompetenten Ladenfräuleins oder -herrleins rumärgern, und zum Kampf mit der Bürokratie möchte man gern einen Drachentöter mit dichter Rüstung schicken, so schrecklich ist das.

(Benzimans Ausführungen zu Armee und Polizei sind noch schärfer: ich habe mir zwar geschworen, die hier pausenlos be-nachrichtigte Flucht eines gefährlichen Vergewaltigers aus dem Gefängnis zu ignorieren, aber ebenso wie andere Fehlleistungen steht allzuoft diese Murks-Mentalität dahinter.)

Dann wundert einen, daß gleichzeitig israelische Ärzte geniale neue Behandlungsmethoden erfinden (und wie ironisch ist der Gedanke, daß auch die größten Boykotteure und Hasser davon profitieren können!), die Hi-Tech-Branche blüht und boomt, und unsere Wissenschaftler bringen nette kleine Nobelpreise nach Hause. Was sind wir denn nun, Wunderkinder oder Würste?

Ich weiß es nicht. Vermutlich beides. Heute früh wurde diese Frage jedenfalls ganz aktiv. Ich hatte absolut keine Lust, zur Arbeit zu gehen, weil zuhause noch so viel anderes auf mich wartete. Und da wurde doch tatsächlich in den Nachrichten verkündet: Generalstreik! Auch mein Arbeitgeber wird bestreikt. Ohne Zögern schloß ich mich dem Streik an und gab mich der Arbeit am heimischen Schreibtisch hin, innerlich das 1976er Gefühl wieder in mir spürend – erinnert sich außer Großtante Lila noch jemand an diesen Hitzefrei-Sommer? Oh Jubel! Bis irgendwann die Sekretärin anrief, wo ich denn bleibe. Wie was, ich dachte, es wird gestreikt! Hm ja, eigentlich wird auch gestreikt, aber ein paar Leute arbeiten trotzdem. Na gut, kein Beinbruch, komme ich eben morgen.

Aber da dachte ich mir, Benziman hat doch recht. Nicht mal einen vernünftigen Streik, der mir erlauben würde, den Reisberg auf meinem Schreibtisch aufzufressen, bringen diese Israelis fertig! Empörend.

Große Liebe November 28, 2006, 19:00

Posted by Lila in Kunst.
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Ach, ich liebe Emblemata, diese Bildsammlungen des Barock. Alle Tugenden, Weisheit, Ermahnungen in kernig-knappe Formeln gefaßt, dazu ein Bild und ein Vers. Das war damals allen geläufig, so wie unsereiner heute kommerzielle Logos erkennt und nicht erst nachschlagen muß, wenn uns ein swoosh begegnet. Es ist nicht immer ganz leicht, das im Unterricht zu vermitteln, ich glaube, manchmal haben meine Zuhörer mich im Verdacht, daß ich allzu leichtsinnig interpretiere – dabei bin ich methodologisch keineswegs von der Symbolsucher-Truppe. Sondern mißtraue eher Interpreten, die aus jedem Brötchen den Eucharist lesen. Da bleibt ja nichts mehr übrig, das der barocke Künstler noch malen kann, einfach aus Interesse am Bild.

Sinnepoppen, 1614

Aber bei Emblemen ist die Sache klar. Die sind symbolisch gemeint, sie beziehen sich auf antike oder christliche Quellen, und sie hinterlassen ihre Spuren in der Kunst. Natürlich ist es wunderbar, in den Originalen zu schnüffeln oder wenigstens gute Reproduktionen durchzublättern. Aber ich freue mich, daß das Internet mir ermöglicht, von zuhause aus diese wunderbaren Bilder zu sehen und sie besser zu verstehen. Wer diesen Spaß teilt, kann beim Utrechter oder Glasgower Projekt interessante Materialien finden. Übrigens kann man diese Embleme durchaus als Form der Visuellen Kommunikation sehen. Die Verfertiger der Bilder wollten allgemeinverständliche, nützliche Bilder anfertigen (und nicht etwa ihr stürmisches Innerstes zum Ausdruck bringen). Auch für Designfreaks also ganz interessant.

Ganz verrückt geht es zu bei den Hypnerotomachia Poliphilii, einem der schönsten Bücher, die je gedruckt wurden (hundert Jahre vor den barocken Iconologien und Emblemata). Oh, wenn ich eines Tages mal reich bin, dann kaufe ich mir eine prachtvolle Ausgabe dieses „Liebeskampfs im Traum“. Übrigens kann man Poliphilos Geschichte hier nachlesen, allerdings im Rahmen einer Seite, die behauptet, Alberti sei der Verfasser. Was ich für weit hergeholt halte. Doch die Bilder dieses Buchs sind überall in der westlichen Kultur wiederzufinden. So wie man beim Lesen von Shakespeare oder Goethe denkt, „der redet ja in Zitaten“, bis einem aufgeht, daß die Zitate ja genau von ihnen stammen… so geht es mir beim Betrachten der Hypnerotomachia. Sind die Emblembücher logisch, klar und moralisch, ist Poliphilos Geschichte wirr, vieldeutig und jenseits der Moral. Mir gefällt beides, das mahnende Wort und der Blick in die Traumwelt.


Hypnerotomachia Poliphilii, 1499

Janeites to the fore November 27, 2006, 22:54

Posted by Lila in Bloggen.
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Ich habe gerade Lust auf eine kleine Umfrage: Lieblingsfiguren, für die man beim Lesen (oder Filmgucken) eine Schwäche entwickelt hat, aus sämtlichen Austen-Romanen. (Andere literarische Erzeugnisse sind auch zugelassen, aber Austen ist nun mal Kult).

Hier sind meine:

S&S: Mrs. Jennings – wunderbar im Buch, wunderbar auf der Leinwand.

P&P: Lady Catherine (genial verkörpert von Leigh-Hunt, wie ich finde).

Emma: ganz klar, Mr. Woodhouse und die John Knightleys, alle beide. Ich bin ein Fan der Beckinsale-Verfilmung, in der Mr. Woodhouse nicht schlecht gelungen ist – etwas zu kräftig vielleicht. Das Hollywood-Baiser ignoriere ich hier. John und Isabella sind im Film kaum sichtbar, im Buch sind sie für mich eine Quelle ungetrübter Heiterkeit.

MP: Lady Bertram – eine Figur, die von der Welt gänzlich mißverstanden wird, und die in jeder Verfilmung enttäuschte.

Persuasion: keine Frage, die Crofts, alle beide. Im Buch sind sie wunderbar, und in der Verfilmung hat Ms Croft meiner Meinung nach die schönste Szene. „… nothing ever ailed me“. Und ihr Mann guckt gerührt zur Seite.

Also, jetzt bin ich neugierig.

Unproportional November 27, 2006, 21:07

Posted by Lila in Land und Leute.
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Und noch ein paar alte Kamellen. Heute nachmittag sind, wie JEDEN TAG, wieder zwei Raketen in Sderot gelandet. Während Olmert seine Rede hält. Eine seltsame Art der Waffenruhe.

Prime Minister Ehud Olmert speaking during a memorial ceremony for David Ben-Gurion in the southern kibbutz of Sde Boker on Monday.

A masked gunman holds a homemade rocket during an Islamic Jihad press conference in Gaza City. Islamic Jihad leader Khader Habib said that his group, Hamas, Fatah and other factions were prepared to stop firing Kassams if the IDF halted operations in Gaza and the W. Bank.

Spaßig, wenn man bedenkt, daß diese Operationen erst wegen des Beschusses begonnen wurden. Erinnert mich an die alte Geschichte von der Frau, die man fragt, wieviel sie abnehmen will. Fünf Kilo, sie will wieder 60 wiegen. Wie lange versucht sie schon, fünf Kilo abzunehmen? Oh, ein paar Jahre. Und wieviel wog sie, als sie mit dem Abnehmen angefangen hat? 60 Kilo.

Später: weiß auch nicht wieso, aber beim Küchenachtfeinmachen hab ich Nachrichten gehört, erst Channel 2, dann ein paar Minuten 1. Übereinstimmende Einschätzung der beiden führenden Innenpolitik-Journalistinnen (Rina Matzliach und Ayala Chasson): Olmert hat diese Rede nur gehalten, um den Eindruck zu erwecken, er hat eine Richtung, er hat noch ein As im Ärmel. Diese Rede war natürlich für die Außenwelt gedacht, für Abu Mazen und den Rest der Welt, aber es war recht eigentlich eine Rede an die eigenen Leute, also uns.

Interessanterweise benutzten sowohl Rina als auch Ayala das Wort Hoffnung, als sie davon sprachen, was Olmert uns damit bescheren wollte. Er will Hoffnung säen, meinten beide. Das ist doch interessant. Ein Politiker, der um sein politisches Überleben in Israel kämpft und uns per Hoffnung noch mal ködern will, welche Vision entwirft er uns? Endgültige Unterwerfung der Palästinenser, Ausbreitung unseres gigantischen Imperiums, Waffenkäufe? Nein. Er entwirft die Räumung der Westbank, die Befriedung der Grenzen, eine bescheidene, realistisch-phantastische Vision.

Abgesehen von allem anderen, ich finde, diese Analyse sagt etwas über uns aus. Unsere Hoffnung liegt, im Gegensatz dazu, was die ausländischen Zeitungen über uns schreiben (oh Süddeutsche!), nicht in der Aggression oder im Sieg. Sondern im Kompromiß. Wenn Olmert uns so einschätzt, dann nehme ich das einfach mal als Kompliment.

Breaking news! ihr wißt es als Erste! November 27, 2006, 20:51

Posted by Lila in Land und Leute.
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So steht es geschrieben:

Die Waffenlager der Hisbollah sind wieder gefüllt

Jetzt sind wir aber sprachlos, nicht wahr? Wie kann das sein? Oh nein, wer hätte das gedacht! Was nun?

Wie? Keiner ist überrascht? Keiner fällt jetzt um vor Schreck? Oh, peinlich, ich dachte, ich überrasche meine Leser mal.

Die Auf- und Nachrüstung begann bereits in den ersten Kriegstagen. Laut US-Geheimdiensten auf der Route Iran, Syrien, Libanon.

Wir erinnern uns: als die ganze Welt über die Aggressivität Israels den Kopf schüttelte, die doch tatsächlich sich das unverschämte Recht vorbehielten, die Hisbollah bei der Wiederbewaffnung zu stören!  (Ich war zu der Zeit in Deutschland, oh Mann, was hab ich mir da nicht alles anhören müssen von den Friedensfreunden…)

 Nach dem Ende der israelischen Luftblockade erreichte angeblich die erste iranische Waffenlieferung Beiruts internationalen Flughafen am 8. September.

Ja, diese Luftblockade… ein brutaler Akt der Aggression, um die Zivilbevölkerung zu schikanieren. Genau diese Luftblockade meine ich.

Mit den Waffenlieferungen während und nach Ende des Krieges wurden nur die Lager der Hisbollah wieder aufgefüllt. Ein Großteil der Hisbollahwaffen waren lange vor dem Krieg geliefert worden. Zwischen 1992 und 2005 bekam Hisbollah insgesamt 11.500 Raketen aus dem Iran. Dazu 400 Granaten, sowie entsprechende Raketen-Abschussrampen. Über die Jahre wurden rund 40 verschiedene Raketentypen geliefert. Im Jahr 2005 kamen große Mengen von Anti-Flugzeugraketen vom Typ Sam-7, die C-802 aus chinesischer Produktion und Boden-Boden-Raketen vom Typ Fajr und Shahin mit einer Reichweite von 150 Kilometern. Außerdem soll es noch Raketen neueren iranischen Typs geben, die eine Reichweite von 250 bis 350 Kilometern besitzen, mit deren Einsatz Hassan Nasrallah während des Kriegs gedroht hatte, falls Israel das Zentrum Beiruts bombardieren würde. In den Kämpfen im Juli und August benutzte Hisbollah modernste Panzerabwehrwaffen, auf die die israelische Armee offensichtlich nicht vorbereitet war.

Ob wir auf den nächsten Krieg genügend vorbereitet sind oder sein können, wage ich zu bezweifeln.  Auch bei der nächsten Runde, die so in zwei, drei Jahren zu erwarten ist, werden unsere Freunde im Norden sich wieder zwischen Zivilisten verstecken, nachdem das diesmal so gut funktioniert hat!, und auch dann werden wir von der internationalen Gemeinschaft verdammt werden, wenn wir uns wehren. Dieser Testdurchlauf im Sommer war gar nicht so dumm. Die Hisbollah weiß jetzt genau, egal was passiert, weder UNIFIL noch die libanesische Regierung tut ihnen was.

Und für ein paar Resolutionen gegen Israel ist so eine Aktion immer gut. Gerecht muß sein.

Also, das waren doch keine breaking news. Das war der immergleiche alte Blabla.

Staatsmann oder Laberfritze? November 27, 2006, 16:50

Posted by Lila in Land und Leute.
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Oder vielleicht doch einfach nur Premierminister, gewählt mangels Alternativen und aus Anhänglichkeit an Sharon, der es irgendwie geschafft hatte, uns eine Art Hoffnung zu vermitteln… doch zu Sharon und was seine Wandlungen für uns bedeuteten und bedeuten, ein andermal. Ich bin bei, äie, Olmert.

Ich finde es ja gut und lobenswert, daß er wiederholt, was schon viele Israelis gesagt haben, auch Premierminister: für echten, wahren Frieden, dafür sind wir bereit eine ganze Menge zu tun. Für den Tag, an dem der palästinensische PM und unserer einen Vertrag unterzeichnen, mit dem ein für alle Mal jeder Grund für Feindseligkeiten beseitigt ist – der Tag, an dem ein Ende der Forderungen, der Drohungen und geheimnisvollen Andeutungen gekommen ist – der Tag wird fürwahr ein glücklicher sein. Wenn ich mich an die Euphorie erinnere, an die Tränen der Freude und der Erleichterung und des Glücks, mit dem der Frieden mit Jordanien hier gefeiert wurde – dann kann ich mir Den Tag des Friedensvertrags nicht anders als nationalen Rausch vorstellen.

Mensch, stellt euch mal einen Moment vor: ein normales Land! normaler Armeedienst! ein Ende der Eiertänze und Lösungen und Erklärungen von Rechts und Links, warum NUR SIE den Frieden bringen können. Nicht zu reden von unseren Nachbarn. Wenn ich mir all die armen Kinder in Ramallah und Jenin vorstelle, die in Angst vor uns, in Unwissenheit und Haß aufwachsen, die mit Waffen spielen und nicht mal einen vernünftigen Bolzplatz haben – ich könnte bis morgen früh ausmalen, wie wunderbar die Welt für sie wäre, wenn endlich, endlich Frieden wäre. Oh ja, das wollen wir. Seit der Unabhängigkeitserklärung und schon ein bißchen früher. Ich kann mich nicht erinnern, wann das offizielle Israel je den Palästinensern mit vollkommener Vernichtung gedroht hätte – Irre gibt es überall, und Golda hat geglaubt, mit Ignorieren gehen sie weg wie ein Pickel, aber es hat nie zur offiziellen Politik Israels gehört, den Palästinensern Vernichtung anzudrohen oder sie vernichten zu wollen. Ja selbst Bibi der Vollmundige hat von Frieden geredet.

Ja, wir würden für Frieden von manchem hohen Baum wieder runterklettern müssen, wie man auf Ivrit sagt, und dabei vermutlich keine allzugute Figur machen, doch glaube ich, die Hamas-Regierung muß weitaus größere Schritte machen. Denn ihr deklariertes Ziel war ja bisher nicht mal ein rhetorischer Frieden. Und die Waffenstillstände, die wir so gern optimistischweise als Schritte zum Frieden feiern würden, sind bisher immer zur Weiter- und Wiederbewaffnung genutzt worden – machen wir uns nichts vor, sowohl in Gaza als auch im Norden werden Waffensendungen aus Iran dankend entgegengenommen. Aber trotzdem, prinzipiell ist alles möglich, und es sind auch schon andere grimmige Kerle zu Realpolitikern geworden, und für den Libanon hoffe ich, hope against hope, daß da irgendwann mal der Hausherr auf den Tisch haut. (Da UNIFIL sich dafür zu fein ist.)

Ja, was stört mich dann an Olmerts Rede? Herrje, als Gilad Shalit entführt wurde, das weiß ich noch ganz genau – da hat er nämlich sofort gemeint, der Olmert, er läßt sich auf keinen Kuhhandeln ein, und mit Terroristen verhandelt man nicht, ja und wir schon gar nicht. Wobei jeder Israeli und jeder Araber nur lachen kann, denn wie viele Deals hat es schon gegeben! und wie „unproportional“ fielen sie jedesmal aus – wie viele Palästinenser hat Israel freigelassen, auch Terroristen der übelsten Sorte, nur um ein paar Soldatenleichen jüdisch begraben zu können! Das hat noch niemand vergessen. Es ist diskutabel, ob man sowas machen soll oder nicht, eigentlich stimmt es ja, daß es auf die Dauer nur weitere Entführungen ermutigt, andererseits, wenn es eins meiner Kinder wäre oder mein Mann, der auf der anderen Seite der Grenze sitzt? Es ist fast unmöglich, hier per Kant allgemeingültige Regeln zu erstellen.

Es stört mich also nicht, daß er jetzt Versprechungen macht. Meinetwegen soll er die Leute freilassen – auch wenn ich gern Garantien hätte, irgendwelche Garantien!, daß sie sich nun zivileren Tätigkeiten zuwenden als dem Bombenbasteln, und sie nicht gern mit ihren Sprenggürteln im Supermarkt wiedertreffen würde. (Das ist ja die Crux, daß freigelassen e Terroristen zum Terror zurückkehren – nachdem sie im Knast geradezu eine Schulung durchlaufen. Wir sind ja manchmal SO schlau.) Aber vielleicht könnte jemand Olmerten mal erklären, daß es absolut fatal ist, Zickzack zu laufen? Natürlich hat auch unflexibler Starrsinn keine Meriten, aber eines ist ganz bestimmt ratsam: sich mit großartigen Drohungen und Versprechungen zurückzuhalten. Damit macht er sich keine Freunde.

Hätte er nach Shalits Entführung nichts gesagt, dann könnte man seine heutige Bereitschaft zum Austausch als eine Art Poker nach seltsamen Regeln werten. Aber jeder, der noch seine großartigen Deklarationen im Ohr hat, wird bei dieser Art Reden entweder grinsen oder den Kopf schütteln. Ich erwarte da leider gar nichts von ihm. Und ich denke nicht, daß Abu Mazen allzu begeistert ist. Wann wird es unsere Regierung eigentlich lernen, daß man den richtigen Leuten Zugeständnisse machen sollte, nicht den falschen? Na gut, auch den falschen kann man Zugeständnisse machen, wann wäre ich je gegen Zugeständnisse gewesen?, aber bitte: nicht bevor wir nicht auch denen Zugeständnisse machen, mit denen wir eigentlich zusammenarbeiten wollen.

Wie lange hat unsere Regierung Abu Mazen ignoriert? Wäre es zuviel gewesen, seine Position zu stärken, zu einem Zeitpunkt vor den Hamas-Wahlen? Auf Hebräisch gibt es so einen Spruch, „es reicht nicht, recht zu haben, man muß auch klug sein“. Olmerts Versprechungen klingen ebenso hohl wie seine Drohungen. Wer seine Drohungen nicht wahrmacht, der hält auch seine Versprechungen nicht. Ich fürchte, er ist doch ein Laberfritze. Selbst wenn er sagt, was ich eigentlich gern höre – mir wird nicht wohl dabei.

Ohne Worte November 26, 2006, 14:29

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Es ist wirklich nicht leicht.

Kleine Freuden November 26, 2006, 13:54

Posted by Lila in Bloggen.
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Jedesmal, wenn ich WordPress öffne, fällt mein Auge auf das Wort „Dashboard“. Und jedes, ja jedes einzelne Mal höre ich Mrs. Bennets Jennings´ Stimme in meinem Ohr, von größter, aufgeregter Liebenswürdigkeit: Mrs Dashwood! Mrs Dashwood!!! (in der Ballszene). Und dann freue ich mich.

Ja, ja, Kaltmamsell, Du hattest recht und ich unrecht. Das ist wirklich ein guter Film, und ich kann gar nicht mehr verstehen, was ich anfangs zu meckern hatte.

Und wie kühl Fanny dann den Fächer hebt. Hat man je ein aasigeres Lächeln gesehen?

Märchenstunde November 26, 2006, 1:25

Posted by Lila in Land und Leute.
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Neulich kam Quarta ganz verwirrt nach Hause und fragte, „Mama, wer ist nun eigentlich das Mädchen: Ättel oder Grättel?“ „Wer bitte????“ „Na im Märchen von Ättel und Grättel, wer ist das Mädchen?“ Ich brauchte eine Weile, bis ich kapiert hatte, daß irgendjemand aus Hänsel und Gretel Ättel-ve-Grättel gemacht hatte, und konnte ihr erklären, daß leider kein Ättel und kein Grättel im Original vorkommt. Auf Hebräisch heißen die Kinder nämlich Ami und Tami, und wer das ausgedacht hat, der hat das Märchen eigentlich gar nicht richtig kapiert. Denn Hänsel und Gretel, Hans und Grete, sind ja eigentlich die aller-verbreitetsten Namen, sie reimen sich nicht und ähneln sich nicht, aber sie stehen für einen großen Teil der damaligen Bevölkerung. Während Ami und Tami zwar recht verbreitet sind, aber keinesfalls so wie Hans und Grete zu ihrer Zeit. (Na, immerhin mehr als Ättel und Grättel, unbestreitbar).

Daraufhin habe ich mir Gedanken gemacht über die Bezeichnungen von Grimms Märchenfiguren im Hebräischen. Aschenputtel zum Beispiel ist Lichluchit, vom Wort lichluch, Schmutz. Also mehr ein Schmutzputtelchen. (Oh ja, und ich kannte mal eine, die hieß tatsächlich Gachlilit – das Glühwürmchen, die hatten ihre Eltern tatsächlich so genannt! und natürlich wurde im Kindergarten Lichluchit daraus). Hab ich nicht auch mal irgendwo gelesen, daß es im Italienischen und Französischen mehrere Versionen ihres Namens gibt? Also, hier heißt sie Lichluchit.

Schneewittchen heißt Shilgia, vom sheleg, dem Schnee. Logisch. Dornröschen heißt ha-yafeifia ha-nirdemet, das kommt direkt aus dem Englischen, Sleeping Beauty. Schade, ich finde Briar Rose eigentlich hübscher. Die schlafende Schönheit. Yafa heißt schön oder die Schöne, yafeifia ist die Steigerung (allerschönste), nirdemet kommt von hardama, was Betäubung oder Tiefschlaf heißt, oder lehiradem, einschlafen.

Rumpelstilzchen heißt Utzligutzli, was so richtig griesgrämig klingt. (Wobei das Rumpelstilzchen, verglichen mit dem geldgierigen König, der lügenden Mutter und der leichtsinnigen Müllerstochter eigentlich die sympathischste Figur des Märchens ist!) Es gibt eine schöne Dramatisierung des Märchens auf Hebräisch, die haben wir mal im Theater gesehen. Wie im Deutschen sagt man auch im Hebräischen von einer bestimmten Sorte Wüteriche, eyse utzligutzli, was für ein Rumpelstilzchen! Klingt besonders gut, wenn Lispler es aussprechen.

Rotkäppchen ist Kippa aduma, die rote Kappe. Der gestiefelte Kater wird ebenfalls wörtlich übersetzt, als chatul be-magafaim, Katze in Stiefeln. Na ja, Puss in boots eben.

Etzbaonit, um zu Andersen zu wechseln, ist Däumelinchen – dabei ist etzba der Finger, nicht der Daumen. Etzbaonit bedeutet auch Fingerhut. Und wenn ich nicht ganz schief liege, dann wird auch Daumesdick Etzbaoni genannt. Die Prinzessin auf der Erbse ist natürlich ha-nessicha al ha-afuna, die kleine Meerjungfrau bat-ha-yam ha-ktana, kleine Tochter des Meeres.

Oh, und Kinderbücher! Pünktchen und Anton sind Pitzponet und Anton, Lotte und Luise heißen Li und Ora (und ihre Mutter natürlich Liora), wer fällt mir sonst noch ein? Pippi Langstrumpf heißt hier Bilbi bat-gerev, Bilbi Strumpftochter, Michel und Madita sind unter ihren den originalen Namen, Emil und Madicken, bekannt.

Die Freude am Übersetzen von Namen für Kindergeschichten kann ich ja noch verstehen. Aber was erwachsene Menschen dazu bewegt, die Rolling Stones ha-avanim ha-megalgelot (die rollenden Steine) zu nennen oder gar die Beatles ha-chippushiot (die Käfer! oh weh!) – das ist mir schleierhaft. (Ein Besserwisser hat die Beatles denn auch chippushiot ha-ketzev genannt, die Rhythmus-Käfer. VIEL besser!). Da wird es dann vollends rätselhaft. Vielleicht sollte da der Prozeß der Hebraisierung, der aus so manchem Silberberg einen Caspi oder Goldberg einen Harpaz machte, da auch an britischen Musikern vollzogen werden? Seltsam, seltsam.

(Wobei ich mich noch von meinen Klassenfahrten in grauer Vorzeit erinnere, wie wir beflissenen Deutschen verblüfft waren, daß die Franzosen eiskalt sämtliche damals coolen Gruppen französisch aussprachen. Ja Wahnsinn.)

Wie finde ich jetzt den Bogen zurück zu Ättel und Grättel? Gar nicht. Aber wem noch weitere Hebraisierungen einfallen… bitte sehr. (Mal sehen, Vered und Ruth, womit Ihr noch rausrückt…)

Sie kommen wieder, November 25, 2006, 22:01

Posted by Lila in Land und Leute.
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nächste Woche: Eretz nehederet, „Wunderbares Land“ (eine Zeile aus einem patriotischen Lied…), die einzige Sendung im Fernsehen, die auf unsere müden Züge ein Lächeln zaubern kann. Na gut, sie sind nicht immer messerscharf politisch, sondern blödeln auch mal einfach so rum, aber immer ist es ein Charakterzug der Bewohner des Wunderbaren Lands, den sie erbarmungslos aufs Korn nehmen. Es ist vollkommen zwecklos, erklären zu wollen, was an ihnen so komisch ist – es ist der Humor der Verzweifelten und Hoffnungslosen, aber wirklich, wirklich komisch. Gestern wurde ein Promo gesendet – bei uns war der Ton noch aus (Werbealarm! da stell ich gleich auf stumm), aber wir sanken beide auf dem Sofa zusammen und begannen wie die Hühner zu lachen. Die Truppe von Eretz nehederet unter Wasser, das war alles, aber sie sind einfach solche Kultfiguren, daß man nicht anders kann als lachen.

Selbst mein Schwiegervater, der der Meinung ist, seit den 1960ern ist die kulturelle Produktion des Lands erbärmlich verflacht (er hört eisern nur Musik von Gevatron), strahlte heute und erklärte, er freut sich drauf und wird jede Woche gucken.  Und der frühere Knesset-Abgeordnete Shaul Yahalom, religiös, Siedler und oft in Eretz Nehederet wegen seiner Neigung zu Nickerchen verlacht, brachte eine offizielle Anfrage vor, Eretz Nehederet mitten in der Woche zu wiederholen – weil religiöse Juden es am Freitagabend nicht sehen können, wegen Shabat.

Außerdem, und da ist sich wohl ganz Israel einig, haben die letzten Monate ein unerschöpfliches Potential für bitteren Witz angespült. Ob es nun Ahmenijad ist oder Peretz, der uns in den Abgrund treibt, ob es der geile Präsident ist oder der arrogante Ramatkal – sie hatten sie schon alle vorher auf dem Kieker, aber wer hätte gedacht, daß sie so willig Material für neue Witze liefern würden?

Während des Kriegs kehrte Eretz Nehederet für eine Sendung aus ihrer kreativen Pause zurück. Da waren auch ein paar sehr komische Dinger dabei, so wie der Sänger David Broza, der den Leuten in den Luftschutzräumen so lange die Ohren vollspielte, bis sie um Gnade baten.
Eigentlich ist es mir noch nie passiert, daß ich nach einer Sendung aufstehe und sage, na ja, das hätten wir nicht gucken brauchen. Sie ziehen das Ganze wie eine Nachrichtensendung auf, in denen sämtliche Politiker unvergeßlich scharf und treffend karikiert werden. Es geht zu wie in einem Irrenhaus, nur der Anchor, Eyal Kitsis, hebt die Stimme der Vernunft. Natürlich vergeblich. Wer Tal Friedman als Olmert gesehen hat, wird immer bemerken, wie oft der „äie“ sagt, wer Orna Banai als Limor Livnat gesehen hat, wartet auf den Wutausbruch auch bei der echten, und wer gesehen hat, wie Eli Finish als Dan Halutz alle abbürstet („wo hast du eigentlich gedient, Jung?“), der kann ihn nicht mehr ernstnehmen. Er ist auch Präsident und Ahmenidijad besser als die Originale. Und Amir Peretz könnte Mariano Edelman zu Auftritten schicken, da käme er auf jeden Fall besser bei weg, als wenn er selbst seine Phrasen drischt. Oh, und Alma Zak gibt eine recht gute Angela Merkel.

Allerdings meint Y., manchmal ist die Realsatire bei uns in den Nachrichten so absurd, daß sie kaum zu übertreffen ist. Doch da verlaß ich mich ganz auf die Truppe von Eretz nehederet. Niemand kann so sarkastisch wie Eyal Kitsis die Schlußworte sagen: „und vergeßt es nicht – wir haben ein wunderbares Land“. Ve al-tishkechu, yesh lanu eretz nehederet.

Listig, listig November 25, 2006, 1:38

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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kann ich auch sein.  Tertia, das arme Kind, hat ihre Zähne von Y. und mir geerbt, und so umwerfend wir auch beide aussehen – die Zähne sind nicht unsere starke Seite. Kurz, sie braucht eine Klammer, und zwei ihrer Zähne müssen geopfert werden, so lautete das Verdikt des Kieferfritzen. Aber sie will nicht, nein, sie hat Angst, das tut weh, und nein, das kommt nicht in Frage. Die geballte Logik von Vater, Zahnarzt, Kieferorthopäden und Zahnarzthelferin prallte an ihr ab wie am Suppenkaspar. Nein.

Bis die listige Mutter kam und sagte, „nein, Tertia, du brauchst keine Klammer. Du bist so ein hübsches Kind, das wäre ja geradezu unfair, wenn du auch noch perfekte Zähne hättest wie meine Schwester.  Laß mal, andere Leute müssen sonst ja verzweifeln.  Ich hab dich auch mit krummen Zähnen lieb, und wenn du später mal so viel Ärger mit deinen Zähnen hast wie ich heute – ach was, das ist ja noch lange hin, das wirst du schon aushalten. Komm, wir vergessen es einfach“.

Muß ich noch erwähnen, daß sie heute die erste Zahnziehung mit Bravour hinter sich gebracht hat und meinte, es war wirklich gar nicht schlimm? Beim Gedanken an ihre zukünftigen Zähne „wie Tante Perfektschön“ strahlte sie sogar. Dabei ist sie sonst gar nicht eitel. Ja, vielleicht war meine Methode nicht vom Feinsten, aber … es ist ja nur zu ihrem Besten!

Schwimmen mit Haifischen November 23, 2006, 19:47

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen, Land und Leute.
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Ich wußte es schon seit Mai, doch seit gestern ist es raus: in unserer Fabrik wird entlassen auf Teufel komm raus. Im Mai saß ich nämlich in einer Sitzung der Kibbuzleitung, wo darüber diskutiert wurde, wie viele Entlassungen der neue Investor wohl verlangen würde, und wie man das durchziehen kann. Auch Y. hat davon gehört, bevor die Entlassungen ausgesprochen wurde. Es war für uns beide sehr schwierig – für mich aus der Ferne, und weil ich ganz und gar der Meinung bin, eine Kibbuz-Fabrik sollte wenigstens so weit wie möglich die Prinzipien der Kibbuzbewegung ehren und Arbeiter nicht ausbeuten – und Y. von ganz nah dran, weil er mit Leuten arbeitet, die noch nicht wußten, daß sie bald vor die Alternative gestellt werden, entweder durch eine Zeitarbeits-Agentur beschäftigt zu werden oder gar nicht. Und viel Erfolg beim weiteren Berufsleben.

Er rief mich gestern alle paar Stunden an und seine Stimme klang ganz traurig. Im Flur vor seinem Büro standen Leute, die schon zu seiner Kindheit in der Fabrik gearbeitet haben, und weinten. Y. hat, soweit es Arbeiter anging, die für seine Abteilung arbeiten, wie ein Löwe gekämpft und immer wieder gesagt, daß es keineswegs eine Effizienzsteigerung bedeutet, wenn man Arbeiter gehen läßt, die jede Maschine und jedes Produkt durch und durch kennen, und statt dessen zeitlich begrenzt dieses Wissen einkauft. Noch dazu von Agenturen, die ihre Leute ausbeuten können. Natürlich sind mal wieder vorwiegend blue collar workers davon betroffen, während die Büro-Etage unangetastet blieb. Der neue Investor will es so. Obwohl natürlich gestern das Gerücht umlief, daß heute auch die white collar workers dran sind.

Ähnlich war es auch, als ich im Altersheim arbeitete und dafür verantwortlich war. Irgendwann waren nicht mehr genügend Kibbuzniks da, die dort arbeiten wollten, und wir fingen an, durch eine Agentur für Pflegekräfte Leute zu beschäftigen. Das war mir immer unbehaglich, weil keine Verpflichtung unsererseits war, diese Arbeitskräfte vernünftig einzuarbeiten oder ihnen eine Chance zu geben, wenn etwas schiefging – gerade bei der Arbeit mit alten, kranken Leuten kann es dauern, bis sich eine neu angelernte Kraft eingearbeitet hat. Aber wenn man einfach anrufen kann und sagen, „hört mal, die Svetlana schickt mir aber nicht mehr“, dann geht einfach etwas verloren. Und die Svetlanas selbst, die ständig in Angst leben, weggeschickt zu werden, sind dann allzu bedacht darauf, es mir recht zu machen. Ich mochte das nicht, ich hätte mich lieber verpflichtet und den PflegerInnen das Gefühl gegeben, sie haben einen sicheren Platz. Mehrmals habe ich versucht durchzudrücken, daß Leute, mit denen ich gut zusammenarbeiten konnte, direkt vom Kibbuz angestellt würden, aber ein Mann in der Verwaltung hat mir erklärt, das geht nicht, es würde die Zusammenarbeit mit der Agentur beschädigen und es gibt nun mal die Entscheidung, mit der Agentur zu arbeiten. Und ich soll mich nicht um Dinge kümmern, die mich nichts angehen. Sicher richtig. Aber trotzdem gefiel es mir nicht.

Nun ist es so, daß in der Fabrik auch Leute arbeiten, für die es nicht immer Arbeit gibt – Wartungsspezialisten zum Beispiel. Wenn sie bei einer Agentur arbeiten, dann müssen Y. und seine Kollegen nicht immer Arbeit für sie aus der Luft schnappen, sondern sie können in ruhigeren Zeiten bei anderen Fabriken eingesetzt werden. Ich will sehr, sehr für sie hoffen, daß es so kommt – daß sich letzten Endes diese Entwicklung als positiv für sie selbst herausstellt, daß sie nicht weniger verdienen und mehr Möglichkeiten dazu haben. Doch wird die Agentur sie alle übernehmen?

Einen Teil bestimmt nicht- die Leute, die „zu alt“ sind (darunter auch eine ganze Anzahl Kibbuzmitglieder, es werden durchaus nicht nur Leute „von draußen“ entlassen). Das höre ich besonders ungern, weil ich genau gestern selbst ein Gespräch hatte, in dem mir klipp und klar gesagt wurde, „du bist brillant und hast alle Voraussetzungen für den Posten, aber mit 42 bist du zu alt. Wir wissen, daß wir keine Bessere als dich finden werden, aber du bist zu alt“. Für mich war das zwar mehr eine narzißtische Kränkung als ein echtes Unglück, weil ich nicht wirklich auf der Suche bin und die Unterhaltung mir noch viele andere, darunter sehr positive Dinge, brachte – aber brutal ist das schon. Na gut, dann bin ich eben 42, aber ich weiß eben auch vieles, für das man erstmal 42 werden muß. Die Mengen von Wissen, die man aufnimmt, die lassen sich gerade in den Geisteswissenschaften nicht schneller reinschieben – auch wenn es Frühstarter gibt. Aber manches verstehe ich heute erst, auch wenn ich es mit 25 schon gewußt oder gelernt habe. Mancher Groschen fällt eben erst mit zunehmender Reife und kann durch Fleiß oder Brillanz nicht beschleunigt werden. Aber darum geht es eben bei der Besetzung von Stellen nicht. Und daß ich gern anderen eine gute Vorlage gebe (es haben schon mehrere Leute mit meinen Ideen ganz nette Pokale gewonnen…), selbst aber davor zage, mich ins Rampenlicht zu begeben – dafür kann ich niemand anders verantwortlich machen.

Tja, Y.s Berichte, die alle paar Stunden bei mir einliefen, waren also nicht dazu angetan, meine Stimmung zu heben. „Zu alt“ in der Fabrik bedeutet aber nicht 42 (auch für Neueinstellungen nicht unbedingt – auch in der Industrie zählt Erfahrung doch noch manchmal…), sondern Rentenalter. Früher gab es das für Kibbuzniks nicht – sie arbeiteten weiter, bis sie keine Lust mehr hatten oder krank wurden, und selbst als sie schon sehr alt und krank war, stand bzw saß Y.s Oma noch an der Drehbank – einer, die von der geschützten Werkstatt extra für sie angeschafft wurde, nachdem sie in der Fabrik nicht länger arbeiten konnte. So blieb das schockartige Ausscheiden mit der bitteren Erkenntnis, daß jeder ersetzbar ist, Kibbuzniks erspart.

Aber in der Fabrik weht ein kalter Wind. Respekt für die Alten, für die Gründergeneration, und der Wunsch, sie zu schonen, spielt natürlich keine Rolle – das muß der Kibbuz dann auffangen, deswegen gab es von Anfang an Beratungen zwischen der Leitung der Fabrik und dem Kibbuz, wo die Entlassenen dann eingesetzt werden.

Ich weiß nicht, ob die Experten, die sagen, Entlassungen sind das Mittel der Wahl, um ein Unternehmen wieder auf die Beine zu stellen, recht haben oder nicht. Ich verstehe nichts von BWL und den diversen Theorien. Ich weiß nicht, ob es nicht doch sinnvoller ist, die ständig wachsenden Gehälter des Vorstands, ihre enorm teuren Statussymbol-Autos und die dauernden Forderungen nach Büro-Umbau ein bißchen einzudämmen. Da sehe ich Laienperson durchaus Raum für Einsparungen, ohne daß jemand nach Hause gehen müßte. Daß wir nun wie alle anderen auch die Manager in Hummer-Jeeps durch Shimshit fahren lassen, die erprobten Arbeiter aus Nazareth und Migdal Ha Emek aber nach Hause schicken, tja, muß das sein? Oder kriegt man heutzutage ohne diese Reverenz ans goldene Kalb keine guten Führungskräfte mehr? Oder war das schon immer so, nur daß früher die Statussymbole einfach weniger sichtbar waren? Ich weiß es nicht, mag mir kein Urteil anmaßen, ich verstehe davon ja wirklich nichts und würde die Meinung eines solchen Managers zu las meninas auch nur mit Vorsicht genießen (mit Neugier allerdings, mit Neugier!).

Y. meint, vermutlich zu Recht, daß niemand was davon hat, wenn die Fabrik zusammenbricht, und daß es wirklich im Moment schwierig ist – Rohstoffe sind teuer, auch wenn der Shekel sich erholt, und müssen erst mal verzollt werden, der Wettbewerb gegen die internationalen Multis, die in den letzten Jahren auf den kleinen israelischen Markt drängen, ist brutal. Nun wird also gekürzt und entlassen. Mir hat seit Mai davor gegraut, und Y. noch mehr. Er kennt die Fabrik seit seiner Kindheit und hat ein ganz anderes Verhältnis zu ihr als die Manager von draußen oder der neue Investor. Vielleicht braucht man beides. Noch ist eine ganze Schicht von Leuten wie Y. in der Fabrik – zwischen der neuen Managerschicht und den Arbeitern, mit einem Fuß im Büro und einem in der Produktionshalle. Kibbuzniks, die zwischen Armee und Studium an den Maschinen gearbeitet habe, die die Geschichte eines jeden Produkts kennen und sich noch erinnern, wie der isländische Ingenieur in den 70er Jahren extra angereist ist, um eine besondere Produktionslinie zu entwerfen, patentiert und einzigartig, und ohne die Erinnerung an den Isländer und seine Erklärungen kaum zu reparieren. Thorgeyers Röhre heißt das.

Noch eine Geschichte zu Y. und seiner Arbeit, bevor ich mich an meine eigene Arbeit begebe… an den Stapel, der still auf mich wartet. In der Zeit, als er für die sog. Infrastruktur der Fabrik verantwortlich war, mußten in einer Abteilung neue Toiletten errichtet werden – genauer gesagt, eine zusäztliche Damentoilette, weil eine Frau eingestellt wurde. Irgendjemand hatte eine irrsinnig teure Idee ersonnen, mit Boden-aufreißen und Rohrverlegung und allem Drum und Dran. Y. sah sich die Stelle an und meinte, „hm, soweit ich mich aus meiner Kindheit erinnere, stand hier mal eine kleine Baracke, in der produziert wurde. Da müßte doch noch Kanalisation liegen“. Ging ins Archiv und suchte eine alte Karte raus, und in der Tat: die alte Kanalisation war noch da, mußte nur mit geringen Kosten auf Vordermann gebracht werden und die Damentoilette steht immer noch (obwohl schon längst keine Frau mehr in der Abteilung arbeitet – aber es könnte ja mal wieder eine kommen).

So, und jetzt ist es aber wirklich gut mit unseren Sorgen. Was die Überschrift bedeutet? Na, es gibt doch Delphin-Therapien, nicht wahr, wo man mit diesen Meersäugern schwimmt und ganz glücklich wird? In der Fabrik wird eben gerade die Haifisch-Therapie durchgezogen, ein ganz neuartiges Konzept. Übrigens ist Y. heute erleichtert nach Hause gekommen, weil er mit dem Leiter der Agentur gesprochen hat, ihm warm alle Leute empfohlen hat, die die Fabrik entlassen hat, und der Mann gesagt hat, die übernimmt er alle.

Eine Dienstagsgeschichte November 21, 2006, 17:01

Posted by Lila in Land und Leute.
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Ja, heute war ich wieder unterrichten, und immer habe ich dabei Erlebnisse! In der Pause schob ich an den Dias für die zweite Hälfte des Vormittags rum,  ich bin ja nie zufrieden und optimiere den Fluß von Bild zu Bild bis zum nächsten Moment. Außer mir war nur eine Frau in der Klasse zurückgeblieben, eine der aus Deutschland stammenden Damen, die mein liebstes Publikum sind. Man würde ihr wohl so um die sechzig Jahre zugestehen, weil sie ganz weiße Haare hat und zwar wenige Falten, sie geht auch ganz aufrecht, aber… über sechzig sollte sie schon sein, meint man, wenn man sie sieht. Das ist sie auch, aber gut über sechzig, nämlich fast neunzig Jahre alt. Sie kommt aus einer Stadt im Rheinland, hat einen verschlungenen Weg über Holland und Frankreich hinter sich und viel mehr weiß ich nicht. Übrigens hat sie die Ausstrahlung einer Gräfin aus dem 18. Jahrhundert, ein ganz feines, aristokratisches Gesicht, dabei war sie jahrzehntelang Leiterin des Babyhauses vom Nachbarkibbuz.

Sie meinte versonnen, „was du alles weißt, da staunen wir ja immer, das ist wirklich toll“. Da mußte ich natürlich sofort erklären, daß ich wirklich während einer Stunde oder Unterrichtreihe einiges weiß, aber das sofort vergesse. „Frag mich mal über byzantinische Kunst, die wir vor einem halben Jahr dran hatten, da weiß ich nichts mehr von!“ Nein, nein, meinte sie, „das macht schon einen Unterschied,wenn jemand studiert hat. Mir hat ja leider der Herr Hitler einen Strich durch die Rechnung gemacht“. Das sagte sie ganz ohne Bitterkeit, ein bißchen spöttisch. Ich wollte mehr hören. Wie war das denn genau? „Na ja, ich war an einer sehr guten Schule, aber irgendwann wurde es für uns jüdische Mädchen schwierig. Unsere Klassenlehrerin hielt uns einmal nach der Stunde zurück – die war kein Nazi, das war eine ganz feine Frau, und sie fragte uns, was haben eure Väter im Krieg gemacht? Im Ersten Weltkrieg also. Zwei Mädchen hatten Väter, die Offiziere waren, mein Vater war zwar im Krieg gewesen, aber nicht an der Front. Die Lehrerin hat wohl versucht, Gründe zu finden, uns an der Schule zu lassen, aber bald war klar, das geht nicht, und sie hat uns geraten, an die jüdische Schule zu wechseln. Die gab es, die jüdische Schule, aber meine Schule hatte eigentlich einen besseren Ruf. Meine Mutter ist dann zur Direktorin gegangen, und die hat zu ihr gesagt: wenn ich Sie wäre, würde ich das Kind auf die jüdische Schule tun, bevor das aus Zwang geschieht. Na ja, an der jüdischen Schule war es eigentlich ganz nett, aber viel gelernt haben wir nicht.Alle waren in Jugendbewegungen aktiv und bereiteten sich auf die Auswanderung vor, ich dann auch. Ich habe dann nicht mal die Mittlere Reife machen können, wir sind nach Holland geflohen, dann nach Frankreich. Da mußte ich eine Zeitlang für eine deutsche Behörde arbeiten, als Schreibkraft. Wir sind dann aber auch aus Frankreich geflohen, über die Pyrenäen. Und dann auf Umwegen nach Palästina. Im Kibbuz habe ich dann das Babyhaus übernommen, und eigentlich merke ich jetzt erst, daß ich gern studiert hätte, daß mir doch Allgemeinbildung fehlt.  Hätte ich ganz ungestört weiter die Schule machen können, Abitur, wie viele andere, die älter waren, als sie ausgewandert sind… das wäre anders. Aber ich habe die Babies geliebt und auch so mein Leben genossen. Und jetzt sitze ich eben hier und höre dir zu und denke, meine Güte, was sie alles gelernt hat, das hätte ich auch gern gelernt…“

Ja, das sind die Lebensgeschichten, die ich so höre. Sie hat sie mir auf Hebräisch erzählt, nur deutsche Dialoge  oder Worte eingestreut. Auch ich antworte nie auf Deutsch. Es muß sich für einen Außenstehenden komisch anhören, weil wir beide mit unüberhörbarem deutschem Akzent sprechen – wir sprechen über Deutschland – und doch bleiben wir im Hebräischen. Als wäre es zu intim, zu persönlich, in unsere Muttersprache zu wechseln.

Jede solche Geschichte ist ein Mosaikstein des Landes, des Volks. Ich bin froh, daß es mir vergönnt ist, sie zu hören, und ich schreibe sie auf, auch wenn sie klein, banal, unwichtig klingen. Diese feinen, stillen Damen in ihren pastellfarbenen Strickjacken, die ihr Leben lang im Kibbuz gearbeitet haben, obwohl ihre Jugend so bürgerlich und deutsch wie möglich  war – irgendwann wird ihre Stimme nicht mehr zu hören sein. Deswegen schreibe ich hier vieles auf, was ich noch höre.

Und: ja, mein Gatte Schlaufuchs hat den Laptop wieder ans Laufen gebracht, und die geretteten Dateien sind installiert, mein Desktop ist wieder grau, meine Docks funktionieren und alles ist wieder so, wie ichs zum Arbeiten brauche. Die einzigen Dateien, die wir nicht mehr retten konnten, sind Email, Terminkalender und Adreßbuch. Das bedeutet, daß ich bei Null anfange, aber das macht eigentlich nichts, denn irgendwann muß man doch mal viel löschen. Und das habe ich jetzt eben getan.  Der destruktive Charakter ist ja bekanntlich jung und heiter – ganz so jung bin ich nicht mehr, aber reinen Tisch machen, das macht immer noch Spaß.

Wenn Liisa fragt… November 21, 2006, 0:12

Posted by Lila in Bloggen.
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…. dann antworte ich, auch wenn vielleicht ein paar Tage später.

  1. Interessierst Du Dich für das Thema Feminismus?

Hm, als solches vielleicht nicht, aber in Zusammenhang mit anderen Themen (Lebenswelten, Geschichte…) ja. Und das Thema Feminismus allein ist mir allein darum zu heavy, weil die vielen Ungerechtigkeiten, die Frauen im Laufe der Geschichte einstecken mußten oder sogar wollten, mir auf den Magen schlagen.

2. Nenne (möglichst) spontan drei Begriffe, die Dir zum Thema Feminismus einfallen

70er Jahre, kämpferisch, Frau

3. Wer oder was hat Dein Interesse für Feminismus oder Frauenfragen geweckt?

Ganz klar, meine Tante. Ich habe das Glück, in einer Familie mit starken, warmherzigen Frauen aufgewachsen zu sein – Tanten, Omas, Mutter, jede hat ihren Lebensentwurf gewählt und vorgelebt. Aber meine feministisch engagierte Tante hat mir manches erklärt, was ich sonst als junges Mädchen vielleicht einfach so hingenommen hätte. Aber ich habe gelernt, daß das, was wir heute als unser gutes Recht ansehen und vielleicht sogar bereit sind, für ein Kompliment zu verspielen, von vielen tüchtigen, ernsthaften Frauen und auch Männern erkämpft wurde

4. Gibt es eine Frau (außer der eigenen Mutter), die für Dich ein Vorbild ist? Wenn ja, wer und warum?

Oh, ich habe viele Vorbilder. Als junges Mädchen hatte ich eine ganze Liste von Frauen, die mir Vorbilder waren – ich fange besser gar nicht erst an, sie aufzuzählen. Aber ich habe mich mein Leben lang nach Frauen orientiert, auch nach Nicht-Feministinnen – wenn sie nur glaubwürdig, interessant und mit sich selbst im Reinen waren. Und das nicht etwa, weil Männer mich nicht interessiert hätten – jahrelang war Hölderlin der wichtigste Mann in meinem Leben! Aber als Vorbilder taugten mir Frauen immer besser. Vielleicht, weil ich mir gar nicht vorstellen kann, wie es wäre, ein Mann zu sein.

5. Welche/s Problemstellung, Frage oder Thema innerhalb des Feminismus hältst Du heutzutage für besonders dringlich?

Die Bereitschaft vieler Frauen, sich mit dem Zweitbesten bereitzugeben und auf gutes Aussehen, Charme und Anpassungsbereitschaft zu setzen – was sich letztendlich weder in Partnerschaft noch Beruf auszahlt

6. Engagierst Du Dich irgendwo praktisch speziell für Mädchen/Frauen (Organisation, Vereine, Frauenhäuser, etc.)?

Ja, für Frauen aus Minderheiten, aber ich mag hier keine Einzelheiten angeben.

7. Nenne Deine Hauptinformationsquelle was feministische Themen angeht (Zeitung, Magazine, Webseiten, Blogs etc.)

Bücher! Ich habe die Klassiker des Feminismus alle gelesen, außerdem auch feministische Kunstgeschichte, die Klassiker: Pollock, Alpers, Nochlin… und verdanke ihnen viel. Das sind einfach Themen, die mich interessieren und bereichern.

8. Wenn Du für einen Abend eine Frau aus der Geschichte treffen könntest, wen würdest Du gerne warum treffen?

Oh, nur eine? Kaiserin Friedrich oder Vicky. Eine ganz kluge, begabte Frau mit großen Plänen. Sie hat viel für Mädchen- und Frauenbildung getan, war außerdem in meinen Augen eine sehr sympathische Frau. Meta Moller. Sophie Mereau. Florence Nightingale. Isabella d´Este. Elisa von der Recke…

9. Wenn Du eine Sache dauerhaft für die Frauen ändern könntest, welche wäre das und warum gerade diese?

Strukturell würde ich vermutlich nichts ändern, das wäre nur Oberflächen-Murkserei. Aber ich würde die Einstellung ändern: würde die grausame Kritik, die wir aneinander üben, in Verständnis verwandeln. So daß wie Lamm und Löwe die Hausfrau und die Karrierefrau, die junge und die ältere Frau, die Putzfrau und die Managerin, die Unverheiratete und die Ehefrau, die Vielfachmutter und die Kinderlose, friedlich gemeinsam ihren Kaffee trinken können. Ohne sich gegenseitig zu beharken und zu bekämpfen.

10. Wenn Du den Mädchen/Frauen dieser Welt einen Rat geben könntest, welcher wäre das?

Habe den Mut, Dich Deines Verstands zu bedienen. Und sei froh, eine Frau zu sein – bedenke die gräßliche Alternative!!!!

Tagesthema November 20, 2006, 21:01

Posted by Lila in Land und Leute.
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Normalerweise kriege ich, wenn ich den Kopf im Buch oder Computer habe, von nichts was mit (…und da könnense misch für aangucken!). Doch heute merkte selbst ich ein seltsames Summen in der Luft. Iran, Iran, Iran. Die Bedrohung wächst, niemand wird etwas dagegen unternehmen, das ist klar. Wie ernst sind die Drohungen? Leider haben wir keinen Anlaß, Drohungen als reine Rhetorik auf die leichte Schulter zu nehmen, allzu viele wurden schon wahr. Die Aussichten sind schlecht, so oder so. Ich mag mir nicht ausdenken, was passiert, wenn die iranische Regierung wirklich mit der Atombombe in unsere Richtung wedelt. Aber auch die Aussicht eines israelischen Schlags läßt hier niemanden jubeln. Alle, die ich heute darüber diskutieren hörte, sprachen mit Graus und großer innerer Unruhe. Die Gerüchteküche brodelte heute, wie ich es lange nicht mehr erlebt habe. Allerdings waren keine wirklich zuverlässigen Quellen dabei, aber die allgemeine Stimmung – miserabel.

Eigentlich ist das Image des iranischen Volks nämlich recht gut in Israel. Die iranischen Juden, mit ihrem wunderbaren, charakteristischen Akzent, rechnen den Iranern hoch an, daß sie dort vergleichsweise gut behandelt wurden. Zwar sind dort nicht mehr viele Juden übrig, aber z.B. Esthers Grab wird dort gut gehalten und gepflegt, was ebenfalls von Israel sehr gewürdigt wird. Sollte es zu einer Auseinandersetzung zwischen Israel und Iran kommen, wäre hier wohl niemand froh darüber. Aber ich glaube nicht, daß Ahmenidijad Vernunft annehmen wird, unsere Existenz akzeptieren wird und einfach Ruhe aus der Richtung herrschen wird.

Ich glaube, es stellt sich in Deutschland keiner vor, was hier los wäre, wenn die iranische Regierung uns die Hand reichen würde. Ich versuche ja immer zu erzählen, daß wir keinesfalls vor Haß zitternde tollwütige Hunde sind, verweise auf Hoders Besuch in Israel (der von der Herzlichkeit, mit der er aufgenommen wurde, beeindruckt wurde – desto mehr fiel ihm der einmalige muffige Empfang auf, der ihm irgendwo begegnete, finde jetzt den Link nicht mehr, aber Hoders Blog ist immer lesenswert, sucht selbst!), erzähle vom Tod des marokkanischen Königs, und wie marokkanische Einwanderer vor der marokkanischen Botschaft Kerzen anzündeten und ganz versöhnlich vom guten König erzählten. Einwanderer aus aller Welt leben hier, manche haben bittere und harte Erinnerungen an die Behandlung, die den Juden widerfuhr, andere dagegen warme und freundliche Erinnerungen. Djerba war möglich, die friedliche Koexistenz von Juden, Christen, Moslems (gerade darum war der Anschlag in Djerba ja so barbarisch). Und ich habe auch schon oft erzählt, mit welchem Respekt und welcher Rührung wir alle den Flug des jordanischen Königs Hussein verfolgten, der selbst sein Flugzeug durch den israelischen Luftraum steuerte, von einer Ehrengarde unserer Luftwaffe begleitet, und über Funk uns grüßte. Uns! Unser ehemaliger Feind. Das war ein Moment, an den man sich noch lang erinnert.

Ich würde so gern, so gern unsere Zukunft als Staat von solchen Gesten und Gefühlen begleitet sehen (und JA, ich weiß, daß Politik nicht nur aus Gesten und Gefühlen besteht – und doch ist ihr Anteil vielleicht größer, als manche glauben). Der Glaube daran, daß das eines Tages geschehen wird, trägt mich durch – und Ruth hat natürlich recht, wenn sie mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt, aber auch ich habe ein bißchen recht. Ohne die Vision der Versöhnung ist die Gegenwart nicht auszuhalten. Besonders, wenn so viel bedrückte Ausweglosigkeit in der Luft liegt wie in Hinblick auf Iran, die Atombombe und den Gebrauch, der diese Bombe zugeführt werden soll.

Ach, ach, ach… November 19, 2006, 20:56

Posted by Lila in Bloggen.
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… nun liegt er darnieder, der Laptop, auf dem die Fruechte meines unverdrossnen Fleisses gesammelt liegen, und auch meine Umlaute! Gestern nacht hat er mit diabolischer Tuecke den Dienst verweigert, und der fuer heute vorbereitete Vortrag war katapper, katapper, den Berg hinunter. (Hab ich ihn eben heute neu gemacht, natuerlich VIEL besser, wie gut, dass saemtliche eigentlich kommen wollende Gaeste selbiges dann doch nicht taten! Leichte verbale Ausfallerscheinungen bitte verzeihen.)

Nun, wir haben meine Dateien retten koennen,  ist jetzt alles schoen auf USB-Stick zwischengelagert, und Y. versucht, meinem Laptop wieder das Laufen beizubringen. Der Vortrag ging (er war beim Neumachen viel zu lang geworden), und ich merke jetzt erst, wie man sich an so ein Geraet gewoehnt. Bis alles wieder so laeuft, wie ich es gewoehnt bin, wird das Arbeiten ein bisschen umstaendlich. Und auch die Internetbenutzung.

Ah, Winter! oder Herbst? November 18, 2006, 21:17

Posted by Lila in Land und Leute.
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Die klassischen vier Jahreszeiten, die in der westlichen Kultur allgemein als existierend vorausgesetzt werden (ob in der Landschaftsmalerei, Symbolik oder einfach nur in der Aufteilung des Kalenders) stimmen hier einfach nicht. Ich muß immer lachen, wenn die Schulkinder wieder wie in Deutschland „fallende Blätter“ malen müssen, denn die Blätter hier wollen partout nicht fallen. Vor meinem Fenster ist es noch grün. Weder im September noch im Oktober gibt es hier goldenen Farbrausch, Mörike wäre sehr enttäuscht. Im Januar fallen die Blätter hastig und verstohlen, um schon im Februar wieder nachzuwachsen. Der Herbst, das bedeutet hier nicht Nebel und Regen und Blätterfall, sondern einfach nur Trockenheit, Hitze in Form von Chamsin, und das Warten auf Regen. Gewissermaßen ein Spätsommer, der dann in den Frühwinter übergeht. Ich stöhne jedes Jahr, wenn zwischen der ekelhaften Hitze des spätsommerlichen Chamsins und den schubbigen Frühwinter-Morgentemperaturen nur ein paar Wochen liegen, in denen man weder Klimaanlage noch Heizung braucht.

Geregnet hat es schon vor ein paar Wochen, und sofort wurde die braune Erde hellgrün. Noch sind die Winterblumen nicht raus, aber ich weiß, daß wir im Dezember sehen werden, wie sie sich regen und vorbereiten. Es ist angenehm kühl nachts, sonnig und klar tagsüber, und alle paar Tage fällt Regen. Jetzt bricht die beste Zeit an, die mich für den grellen, hellen Sommer entschädigt. Keine Wolke haben wir den ganzen Sommer über gesehen, nur Sandwolken, die sich wie häßliche, gelbe Streifen am Horizont entlangzogen. Doch jetzt bringt jeder Tag neue, wunderbare Wolkenbilder, an denen ich mich freue. Jeder Sonnenuntergang in unserem Wohnzimmerfenster bietet ein neues Spektakel, das wir uns zusammen angucken (um fünf Uhr nachmittags, na gut, und kurz ist es auch, aber mußte ich denn SO nah an den Äquator?).

Im Kindergarten, das weiß ich aus alter Erfahrung, auch wenn meine Kinder aus dem Alter raus sind, fängt jetzt die Zeit der Winterthemen in der Naturecke an. Die Schnecken- und Regenwurmwoche ist der Schrecken aller zimperlichen Mütter, die sich ungern diese Tierchen von ihren begeisterten Kindern auf die Hände setzen lassen. Ich habe mich natürlich nie lumpen lassen, ich weiß ja noch, wie ich im Wäldchen hinter unserem Haus mit Klaus und Lothar und Evi Schnecken gesucht habe, und eigentlich sind sie ja wirklich nicht eklig.

Doch das schönste, liebste und feinste Winterthema ist natürlich eßbar: pri etz hadar, die Früchte vom schönen Baum, auch als Zitrusfrüchte bekannt (der Wortgebrauch leitet sich von der Frucht Etrog ab, die zu Sukkot gehört). Israel hat mir Zitrusfrüchte in einer Auswahl beschert, die mich um diese Jahreszeit geradezu in einen Rausch versetzt.

Um unser Haus herum wachsen Zitrusbäume aller Arten, wir pflücken und kommen mit dem Essen nicht hinterher. Auch die Kinder lieben Zitrusfrüchte, und da Secundus und ich auch gern schälen und verteilen, verbringen wir die Abende schmausend, und meine Finger riechen den ganzen Winter über wunderbar. Ich bin eine pingelige Schälerein und lasse kein weißes Fiddelchen übrig, die Kinder müssen mir die Früchte geradezu aus den Händen reißen, sonst schäle ich sie  immer nackiger.

(Übrigens tun uns die atzei hadar, die Bäume der Schönheit, auch im Frühjahr einen Gefallen: dann duften ihre Blüten einfach wunderbar, der Garten liegt geradezu unter einer Wolke.)

Manche dieser Früchte gibt es natürlich überall, so wie Apfelsinen, auf Hebräisch tapuz, was eine Abkürzung für tapuach zahav, also goldener Apfel, ist. Auch klementinot und mandarinot sind allgemein bekannt, obwohl ich in Deutschland nie so leckere, grüne Mandarinen gegessen habe, wie in unserem Garten wachsen. Sie haben eine dünne Schale, aber dicke Kerne, und wir machen aus sauren Saft draus. Zitronen, limonim, presse ich ebenfalls aus, aber die Mädchen lutschen sie auch so.

Kumquat heißen hier tapuzonim und Limquat, hm, keine Ahnung. Aus denen mache ich Marmelade, und zwar nicht mit Gelierzucker (den gibt es hier gar nicht), sondern mit normalem Zucker. Hinterher schwimmen in einer unbeschreiblich leckeren, orangen Flüssigkeit die halbierten tapuzonim und schmecken so gut in Joghurt oder auf einem Quarkbrot.

Außerdem gibt es Pomelo, eine Art dicke Kusine der Grapefruit, weniger bitter als diese und trockener. Das heißt, man pellt erst die enorm dicke Schale ab, dann die Häutchen, und legt dann die Fasern frei, die sich auch ohne Saft zu ziehen transportieren lassen. Pomelos kann ich eine nach der anderen schälen und vorbereiten, und sie gehen schneller weg, als ich gucken kann. Pomelit ist die kleine Schwester der Pomelo, saftiger und süßer als diese, aber man ißt sie ähnlich wie die Pomelo, also in Stücken. Macht eine wunderbare Schweinerei (soll auch angeblich sehr gesund sein, schmeckt aber trotzdem). Anders als die eshkolit, Grapefruit, die man ja aufschneidet und auslöffelt, hm, besonders gut die rote eshkolit aduma. (Übrigens kenne ich die Grapefruit als Pampelmuse in Deutschland, auch wenn ich zu meinem Erstaunen sehe, daß die Pomelo auf deutsch eine Pampelmuse sein soll. Sehr rätselhaft!) (Hm, Wikipedia weiß alles, oder tut wenigstens so.)

Außerdem gibt es natürlich noch jede Menge Neuzüchtungen, die mit den seltsamsten Namen bedacht werden, und die man kaum auseinanderhalten kann. Kein Wunder, daß die KindergärtnerInnen und GrundschullehrerInnen das extra zum Thema machen. (Zwar keine Zitrusfrucht, doch der absurdeste Name, den ich je für so eine Kreuzung gehört habe, ist der hebräische Name für die Nektarine, also die Kreuzung von Pflaume und Pfirsich. Pfirsch heißt afarssek, Pflaume shezif, demzufolge heißen die nichtsahnenden Nektarinen doch tatsächlich: afarshezifim…weswegen die meisten dann doch lieber nektarina sagen.)

Ja, das ist der israelische Winter. Regen, relativ milde Kühle (ich lache ja jedes Jahr über meine Israelis, die bei 5 Grad über Null einander bibbernd zurufen: Ssibir! was Sibirien heißt), Blumen und tapuzonim. Ma ra?

Eine Antwort November 17, 2006, 18:09

Posted by Lila in Land und Leute.
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auf das todesmutige Manifest der 25 wollte ich hm, eigentlich gar nicht geben. (Wie sich diese Intellektuellen doch der allgemein herrschenden Meinung mit irrsinniger Zivilcourage entgegenwerfen, was? „Das muß doch mal gesagt werden….“)

Natürlich halte ich die ewige Gleichung „Holocaust – Gründung des Staates Israel“ für kurzsichtig und unwissend und würde gern darauf hinweisen, daß der jüdische Staat schon 1917 in der BalfourDeklaration erstmals wenn auch vage anvisiert wurde, und daß er seine Existenz mehr der post-kolonialen Neuordnung des gesamten Nahen Ostens zu verdanken hat – wer Israel von der Landkarte tilgen möchte, kann gleich Jordanien und noch ein paar andere Länder auslöschen. Und sich aussuchen, welche Jahreszahl er auf die Landkarte schreiben will… aber man sollte aufhören, immer so zu tun, als hätten „die Juden“ den Holocaust dazu benutzt, die Palästinenser (die es damals noch gar nicht gab – Palestinian hieß jeder, der im Mandatsgebiet lebte, wie die Geburtsurkunde meines Schwiegervaters zeigt, der als Palestinian geboren wurde) zu enteignen. Das ist Geschichtsklitterung.

(Fragt mal den durchschnittlichen Israel-Gegner, was für ein Land den Juden denn da zugesprochen wurde. Ich habe schon öfter Leute getroffen, denen unbekannt war, daß es nicht etwa der Staat Palästina war! Was sie natürlich nicht daran gehindert hat, eine feste Meinung zu haben.)

Diese Unterstellung, daß die Juden ihren Staat nur dem Holocaust „verdanken“, geht allzu gern Hand in Hand mit der Unterstellung, daß die Juden dieses bedauerliche Mißgeschick ja auch sonst for all its worth melken, und gipfelt gern in der Anschuldigung von Leuten wie Ahmedinijad, „ihr Europäer habt die Karre in den Dreck gefahren, wieso sollen WIR (welche WIR?) das ausbaden?“ Also, der jüdische Staat wurde schon lange vor der Wannsee-Konferenz anvisiert, und auch sonst… na ja, wenigstens haben diese 25 tapferen Schneiderlein zum Ausdruck gebracht, was das gesunde Volksempfinden schon lange mal sagen wollte.

Die bedachtsam-intellektuellen Phrasen, mit denen in diesem Manifest operiert wird, die kann Liza einer genauen Analyse unterziehen, ich habe dafür nicht die Kraft und weiß zu genau, daß ich diese Argumente nun bis zum Erbrechen hören werde, wenn ich wieder nach Deutschland komme. Deswegen habe ich mir gedacht, vergiß es, man muß auch nicht auf alles antworten, das einem schmerzhaft aufstößt, und jeder hat ein Recht auf seine Meinung, und daß das nun so pompös als Manifest zelebriert wird, als würden nun die Tabus massenweise gebrochen und ein Aufschrei der Solidarität mit Israel, mit den Juden durch Deutschland hallen… nun, jeder hat auch ein Recht auf seine Posen und Gesten.

Aber dann habe ich die Antwort in einem Artikel auf Ynet gefunden. Ein junger Deutscher hat sie gegeben. Ein junger Mann, der seinen Opa auf Familienfotos in SS-Uniform sah und hörte, daß dieser Opa in einem Konzentrationslager gefangene Frauen, Jüdinnen, bewachte. Der junge Mann, ein Arbeiter (nicht etwa ein Soziologieprofessor oder Friedensforscher!), vergaß das nicht. Er beschloß, auf seine Art und Weise das besondere Verhältnis Deutschlands und Israels zu ehren, stieg in ein Flugzeug und fuhr geradewegs in das Altersheim, in dem (wie er durch Nachforschungen rausgefunden hatte) eine Überlebende des Lagers heute lebt. Ging hin und bat sie um Vergebung.

„Obviously I was very moved when the young German came here,“ she said. „At first I couldn’t understand what he wanted and didn’t know how to behave. But gradually I understood his motives and by lunchtime we had already become friends.“

Ja, vielleicht hatte der junge Mann erwartet, daß die Vergebung nicht so einfach zu erlangen war, ich weiß es nicht. Aber die Worte der alten Dame stimmen genau mit meinen Erfahrungen überein: keine Ressentiments, keine alten Rechnungen, sondern herzliche Offenheit für Menschen, die nach dem Holocaust geboren sind. Da war keine Barriere zu überwinden, keine Kühle, kein Mißtrauen. Sie mußte ihm nicht vergeben, denn er hat ja nichts getan.

Residents reported that Parkircher said that since they were mostly Holocaust survivors, he would like to take the opportunity to express his regret and apologize for what had happened during the war. „It was so moving, we cried,“ said Margalit the security guard.

Das ist eine Antwort, die einem wirklich den Atem nimmt. Dieser eine junge Mann freut mich so, daß ich die 25 Manifestler latent und manifest vergessen kann.

Lang erwartet, November 17, 2006, 9:23

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen.
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nicht gerade heiß ersehnt, da sind sie nun endlich: zwei Bände Zahlen und Worte, einer in hellblau, der andere in hellgrün gebunden. Überschrift: Entwurf einer Reform des Kibbuz – für Wachstum und Wohlstand oder so. Als wollten sie gewählt werden, die Schreiber, dabei steht der Plan zur Wahl. Drinnen steht genau, wie viel wir nun abgeben müssen, was vorher der Kibbuz bezahlt hat, eine endlose Kolonne, die selbst meinen kaltblütigen Ehemann verschreckt hat. Und dabei verdienen wir noch recht gut, was machen Leute, die nur ein Mindesteinkommen haben?

Tja, das wollten sie, die lieben Mit-Kibbuzniks: leben wie in der Stadt. In der Stadt hat alles seinen Preis. Die alte Geschichte „mir steht aber dies und das zu“ oder „wenn Shlomi und Romi sowas haben, warum dann ich nicht? ich bin schon ein halbes Jahr länger hier!“, das ist vorbei (und es waren ja immer dieselben, die mit ihren Ansprüchen die Gemeinschaft in den Wahnsinn trieben). Stadt wollt ihr, Stadt kriegt ihr. Kibbuzniks sind es gewöhnt, daß umsonst tropfende Wasserhähne, streikende Drucker und platte Fahrräder repariert werden. Die Yossis, Avis und Meirs, die sich darum kümmern, werden vom Kibbuz bezahlt. Im Januar, wenn dieser Plan durchkommt, ist das vorbei, und Yossi, Avi und Meir werden anfangen, Rechnungen auszustellen. Die naive Vorstellung, daß die Leute in der Stadt Geld in rauhen Mengen haben, weil sie ja ihr Gehalt direkt bekommen, während das unsere an den Kibbuz geht. Ja ja, aber der Kibbuz übernimmt dafür unsere Steuern, Krankenkasse, Zahnarztkosten, Praxisgebühren, Schulgelder, Strom, Miete, Benzinkosten… unterm Strich werden wir alle durch die Privatisierung ärmer. Wenn das den Kibbuz vorm Ruin bewahrt, adraba. Aber ich glaube, die Leute haben sich das anders vorgestellt. Ich nicht, ich verstehe zwar nicht viel von Geld, aber ich komme von draußen und weiß, daß die gebratenen Gänse nun mal nicht in dichten Formationen fliegen.

Eines aber brachte meinen Mann zum Schmunzeln. „Guck mal“, meinte er, „wer diese Heftchen rausgegeben hat, der ist entweder sehr naiv oder sehr zynisch.“ Und er wies auf die alten Verse, die vorne auf der Titelseite prangen:

אז איך עושים קיבוץ

לוקחים ותיק חלוץ

ועץ אחד קטן ירוק

וכוכב נוצץ רחוק

עם חלום אחד גדול

וזה עוד לא הכל

וזה עוד לא הכל

wie macht man einen Kibbuz?

man nehme einen Vatik-Chalutz (Pionier)

einen kleinen grünen Baum

einen funkelnden Stern, ganz fern

und einen großen Traum

und das ist noch nicht alles,

das ist noch nicht alles….

Dieser alte Kibbuz-Hit paßt auf diese Hefte wirklich wie die Faust aufs Auge.

Denn dieser Traum vom Kibbuz wird schon lange von einer Mehrheit nicht mehr geträumt. Bis vor ein paar Jahren war es wirklich noch so, daß kein Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen bestand. Jeder chaver kibbuz (also jedes gewählte Mitglied der Gemeinschaft – niemand ist automatisch Mitglied, sondern muß dazu erst von der VV gewählt werden) bekam sein persönliches Budget, den sogenannten takziv ishi.

Der takziv setzte sich aus allem zusammen, was man nach Berechnung des Kibbuz so braucht: Grundeinkommen, für alle gleich (Singles bekamen das anderthalbfache Grundeinkommen, weil sie in vieler Hinsicht dieselben Grundbedürfnisse haben wie Paare), und zusätzlich feststehende Summen für Kleidung, Berufskleidung (nach Bedarf), Schuhe, Möbel, Reisen… und für jedes Kind ebenfalls eine Summe, nach Alter gestaffelt. Dazu kamen kleine Zuschläge für Länge der Zugehörigkeit zum Kibbuz (vetek), für Frauen („Hygiene und Kosmetik“), und noch alles mögliche andere.

Das Essen war umsonst. Der Dining room und die Küche waren offen, die Kühlschränke mit Milch und der Brotschrank ebenfalls. Im Laden waren alle Grundnahrungsmittel (Gemüse, Milch, Mehl, Zucker, Öl…) und Grundbedürfnisse (Seife, Shampoo, Zahnpasta…) umsonst, alles andere sehr billig. Wäscherei war umsonst, Flickdienst für Klamotten, Kosmetikbehandlung, Fußpflege, Friseur, alternative Klinik… war für Kibbuzniks alles umsonst. Das hat sich geändert, wir zahlen im Dining room und im Laden, und auch in all den anderen „Service-Zweigen“.

Doch manches blieb umsonst. Miete zahlt ein Kibbuznik nicht, Strom, Wasser, Gas, Medikamente, alles auf Kosten des Kibbuz. Die Autos gehören dem Kibbuz, der sie unterhält, wäscht, repariert, die Versicherung bezahlt und die Benzinkosten an der kibbuz-eigenen Tankstelle subventioniert. (Inzwischen sind es geleaste Autos, eine große Flotte, die regelmäßig ausgetauscht wird – Autos aller Größen, so daß man sich mal einen großen, mal einen fixen kleinen Wagen nehmen kann, je nach Bedarf). Der Kibbuz bezahlt unsere Steuern (und ich dürfte eigentlich nicht gegen Siedler eifern, weil auch wir steuerliche Vergünstigungen haben, die uns Städter sehr übelnehmen), unsere Gesundheitsvorsorge, die teuren Kindergärten und unsere Privatschule, das Internat und die Teilnahme an Aktivitäten der Jugendbewegung, Kurse, Studiengebühren – alles, alles wird aus der gemeinsamen Kasse gezahlt, und der einzelne Chaver so weit wie möglich entlastet. Das Prinzip, das dahinter steht, heißt aravut adadit, „gegenseitige Verantwortung“ oder „Bürgschaft“.

Ich habe schon oft erzählt, daß ein neu geborenes Kind als Kind des ganzen Kibbuz gefeiert wurde – die Leiterin des Babyhauses baute für Mutter und Kind einen großen Geschenketisch auf, der außer Bett und Wagen (Leihgaben) auch Kleider, Betttzeug, ja sogar Schnuller, Flaschen, Babykosmetika und jede Menge anderer Sachen umfaßte, dazu auch kleine Geschenke für die älteren Geschwister. Auch bei Trauerfällen stehen sofort die Mitglieder der vaadat hanzacha, des Gedenkkommittees, auf der Matte, um der trauernden Familie die Bewirtung der Gäste, allen Formalkram und was sonst noch gebraucht wird abnehmen. Jeder ist für die anderen mit verantwortlich. Man bildet Fahrgemeinschaften, spricht sich ab, das ist noch immer so.

Der Kibbuz sorgt auch dafür, daß seine Mitglieder in bestimmten Läden bessere Preise oder Rabatte kriegen, ach, so viele Vorteile, die ein Kibbuznik hat. Es wundert mich nicht, daß jeder Kibbuznik automatisch den Zusatz „Kibbutz So-und-so“ nach seinem Namen nennt, „Yossi aus En haBalagan“, während Städter seltener sagen, „Yossi aus Petach Tikva“. Außerdem hören andere Kibbuzniks schon am Namen, was für ein Kibbuz das ist – ein echter alter Sozialisten-Kibbuz der ersten Stunde so wie unserer, oder so ein Wischi-Waschi-Kibbuz der Arbeiterpartei (Vorsicht, Ironie). Na ja, Israelis kennen sich ja sowieso untereinander, aber Kibbuzniks noch mehr. In allen Lebenslagen habe ich schon Wildfremden erzählen müssen, „wie es eigentlich der Zilla geht“, „was der Giora heutzutage macht“, und habe hinterher Grüße ausrichten müssen, „von Shlomit, mit der du in den 1950ern in Gvulot gearbeitet hast“. Auch mein Mann meldet sich automatisch am Telefon mit Vornamen und Kibbuznamen, das ist wichtiger als der Nachname in dieser vornamen-nennenden Welt Israel.

Tja, das war der alte Kibbuz. Irgendwann wurden wir vom Privatisierungs-Virus befallen (hafrata, vor prati, privat). Zeitungen wurden nicht mehr bestellt, sondern abonniert, im Dining room wurden Kassen aufgestellt, ja sogar für Kondome und Tampons, die vorher umsonst in einem Schrank in der Wäsche-Verteilung zu haben waren, mußte bezahlt werden. (Oh, welche Diskussionen es darum gab!!!) Und jeder Kibbuznik bekam einen Anteil seines Einkommens (15% des Nettogehalts) auf den takziv aufgeschlagen. Der alte takziv shivioni, der gleiche takziv, der war damit kaputt. Manche Leute hatten nur den takziv, weil ihr Einkommen niedrig war, andere hatten einen kleinen Zuschlag, andere wiederum, die ein hohes Einkommen hatten, merkten die 15% richtig nett. Es reicht, durch den Kibbuz zu spazieren, um diese Unterschiede zu sehen. Manche haben ihre Häuser nett oder protzig, je nach Geschmack, um- und ausgebaut, andere wohnen nach wie vor in der bescheiden-praktischen Bauart des originalen Kibbuz-Hauses.

Und dieses Zwischending wird nun also endlich endlich, von manchem lang erwartet!, abgeschafft. Wir marschieren fröhlich auf die komplette hafrata zu, die vollkommene Privatisierung. Wir müssen für alles selber zahlen, von unserem Einkommen, wie Leute in der Stadt. Nur eine Grundsteuer für die Bedürfnisse der Gemeinschaft, mass kehilla, müssen wir zahlen. Damit fällt jeder Grund für gegenseitige Verantwortung weg. Wenn ich Quartas Reitstunden selbst bezahlen muß, was kümmert mich dann, ob meine Nachbarn genug Rente zum Überleben haben, nicht wahr? Jede Schicht denkt nur noch daran, wie sie aus der Gemeinschaft höhere Abgaben für ihre eigenen Bedürfnisse zwackt. Die jungen Eltern verlangen Unterstützung für die enorm hohen Kosten der fabelhaften Kinderbetreuung (die ja für uns bisher umsonst waren, während Eltern aus Yokneam sich krummlegten, um ihre Kinder bei uns erziehen zu lassen), die Rentner dagegen wollen die Grundrente aufgestockt sehen, chronisch Kranke wollen die Selbstbeteiligung bei Medikamenten abgeschafft sehen, und so weiter.

Die Arbeit an diesem Grundlagenpapier hat lange gedauert, und mehrere Kommittees haben daran gefeilt. In diesen Kommittees sind Vertreter aller Altersstufen beteiligt, und jedes Mitglied konnte daran teilnehmen. Es war kein Geheimnis, was uns bevorstand. Wir persönlich, das muß ich betonen, gehören auch durchaus nicht zu den Verlierern. Im Gegenteil, zynisch gesagt könnten wir froh sein, daß unsere Kinder aus dem Gröbsten (sprich Teuersten) raus sind, daß der Kibbuz uns unsere Studien gezahlt hat, die daraus resultierenden diskutablen Einkommen aber jetzt direkt zu uns fließen sollen – der Kibbuz hat unser Haus renoviert und wir werden plus minus dieselbe Summe zum Leben haben wie vorher. Für andere Leute ändert sich viel mehr: die Leute, die kein hohes Einkommen haben.

So wie meine liebe, kluge Schwiegermutter, die ihre eigenen Pläne immer wieder zurückstellte – nicht wegen der Familie, sondern für den Kibbuz. Wann immer sie um eine Ausbildung bat, hieß es, „arbeite erst mal zwei Jahre im Kindergarten“ oder „die Diätküche braucht dich, warte noch“. Und sie, gutmütig wie sie ist, wartete eben. Als sie dann endlich drankam und ihre Ausbildung machte, konnte sie in ihrem Beruf nur ein paar Jahre arbeiten, dann wurde der Zweig geschlossen, und sie stieg woanders ungelernt ein. sie macht ihre Arbeit sehr, sehr gut, aber eine andere Frau, die es gelernt hat, ist die Chefin. Meine Schwiegermutter erhält somit nur Mindesteinkommen, und auch mit den Zuschlägen, die der Kibbuz solchen Fällen zahlt, wird sie knapsen. Das ist total ungerecht, denn von dem Geld, das sie erarbeitet hat, sind unsere Studien bezahlt worden – und deswegen war ich von Anfang an dagegen. Natürlich denken die meisten Leute nicht so wie ich und machen sich wenig Gedanken wegen Ungerechtigkeiten, die ihnen persönlich zum Besten ausschlagen – aber ich bin nun mal als echter INFJ damit geschlagen, auch solche Ungerechtigkeiten schlecht ertragen zu können.

Es wird uns nichts helfen. Die Monate November und Dezember werden jede Woche in der VV einen anderen Themenkomplex diskutiert sehen, obwohl die Zeit kaum reicht. Wer die Heftchen durcharbeitet, so wie mein Mann, kann sich entweder an Pfennigbeträgen aufhalten (wieso ausgerechnet 120 Shekel für Medikamente zahlen? wieso nicht 100 oder 150?) oder das dahinterliegende Prinzip beseufzen. Er hat sein Leben lang umsonst für die Gemeinschaft alles mögliche geleistet (angefangen bei seinen 17 Jahren als Leiter der Tontechnik, was Beteiligung an allen Ereignissen des Kibbuz bedeutet, die ein Mikrofon erfordern – und das sind Dutzende pro Monat!), und es widerstrebt ihm, daß nun auf allem ein Preisschild klebt.

Ich habe nicht aktiv mitgewirkt an den Veränderungen. Ich habe mich in die Idee der aravut adadit verliebt und kann nur hoffen, daß die Veränderungen einen friedlichen Schlußpunkt unter endlose Diskussionen bedeuten. Die alte Frage „was hat die Yuchzi für mich getan, daß ich ihr nun den Rollstuhl finanzieren muß?“, immer wieder gestellt von denen, die überzeugt sind, daß allein IHRE Arbeit alle anderen am Leben erhält… die kann nun endgültig zu den Akten gelegt werden. Das alte Lebensgefühl, da geht es dahin. Ich bin froh, daß ich es wenigstens gebloggt habe. Vielleicht ändert sich ja auch nicht SO viel, die Veränderungen sind ja teilweise schon da.

Doch ich halte es immer schon mit dem alten Mr. Woodhouse, der mit Lady Bertram zu meinen Lieblingsfiguren im Austen-Universum gehört. Why do things have to change? I wish they wouldn´t.