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In einer Zeitkapsel März 1, 2024, 21:17

Posted by Lila in Persönliches.
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Der 6. Oktober war mein letzter Arbeitstag im Kindergarten. Ich wurde nett verabschiedet, eine junge Kollegin, die mich ersetzen sollte, war schon eingearbeitet, und ich hatte schon eine andere, weniger körperlich anstrengende Arbeit angefangen. Es war ein Freitag, und wie immer bereitete ich, nachdem alle schon gegangen waren, den Kindergarten für Sonntag vor – deckte schon die Tabletts mit Frühstücksgeschirr und räumte alles auf. Ich bin immer gern die Erste, die morgens kommt, und die Letzte, die mittags geht. Und ich erinnere mich noch genau, wie ich zum letzten Mal die Tür abschloß. Es war abgemacht, dass ich weiterhin freitags, der sowieso ein kürzerer Tag ist, aushelfe.

Aus alledem wurde natürlich nichts, denn am Samstag brach der Krieg aus. Der Kindergarten wurde geschlossen, der Kibbuz evakuiert, und ich war die einzige aus dem Team, die Arbeit hatte. Ich blieb in Kontakt mit den Kolleginnen, wir whatsappen uns und haben uns ein paarmal in Nahariya in einem Cafe getroffen. Die Kindergärtnerin, eine junge und hochmotivierte Frau, wohnte mit ihrer Familie bis vor zwei Wochen weiter südlich, ist aber jetzt in den Kibbuz zurückgezogen. Der Kindergarten ist wieder eröffnet worden, aber in einem anderen Gebäude, das sicherer ist.

Ich hatte auch versprochen, die Geburtstagsgeschenke für die Kinder herzustellen. Im Jahr davor hatte ich für jedes Kind ein Gänschen gehäkelt, eine kleine Handpuppe, über die die Kinder sich sehr gefreut hatten. Ga-Ga! Ga-Ga! haben sie gerufen, wenn sie ihre Gans auspacken durften. Für dieses Jahr war unser Plan, jedem Kind drei Fische zu malen, auf Stöckchen zu kleben, und ihnen die mit dem Text eines beliebten Lieds zu schenken. Drei Fische, die durchs Meer schwimmen, höchst originell, aber wie Kinderlieder eben so sind.

Am Tag des Kriegsausbruchs, als das Ausmaß der Katastrophe klar war, aber noch nicht, was danach kommt, habe ich mir meinen Aquarellkasten geschnappt, mir im Internet tropische Fische angeguckt und die buntesten, fröhlichsten Fische gemalt, die man sich vorstellen kann. Dieses Projekt hat mich die ganze erste, sehr stressige Zeit des Kriegs begleitet. Ich habe mehr gemalt, als wir eigentlich brauchten, es waren am Ende fast 80 Fische. Dann habe ich sie ausgeschnitten und aufbewahrt.

Zwischendurch hatten wir ein Treffen mit den Kindern, die in einem anderen Kibbuz aufgenommen worden waren, weiter südlich. Dort war es friedlich und schön, und die Kinder haben sich gefreut, mich zu sehen. Ich war so froh, dass sie sich noch an uns alle erinnerten und sich sofort auf meinen Schoß setzten.

Auch an ein paar Zoom-Treffen mit den Eltern habe ich teilgenommen, und meine Tipps, welche kreativen Sachen man mit Kindern im Schutzraum machen kann, wurden dankbar aufgenommen. Eine der Mütter erzählte mir später, dass sie tatsächlich eine Wand leergeräumt hat, damit die Kinder sie bemalen dürfen, wenn sie Alarm haben.

Heute nachmittag bin ich in den leeren Kindergarten gefahren, um die Fische zu laminieren und auf Stöckchen zu kleben, denn am Dienstag ist der erste Geburtstag der zurückgekehrten Gruppe.

Ein paar Schränke und die große Spielküche fehlten, denn die sind wohl in das neue, raketensichere Gebäude gebracht worden. An der großen Tafel hing noch das Plakat zum Laubhüttenfest, mit Papierketten und Granatäpfeln. Auf dem Boden im Bad lagen noch die Packungen mit Pampers, jedes mit Namen. Und in der Küche – die Tabletts mit dem Frühstücksgeschirr, das ich am 6. Oktober vorbereitet hatte.

Es war so ein trauriger Anblick, das ich keine Fotos machen konnte, nur von den Fischen. Unser Leben ist stehengeblieben, für uns ist immer noch am 7. Oktober.

Gestern, heute, morgen Februar 27, 2024, 20:29

Posted by Lila in Persönliches.
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Gestern war ein sehr unruhiger Tag. Ich war den ganzen Tag unterwegs und hatte nicht viel Zeit für die Nachrichten, aber abends holte mein Mann mich ab und gab mir seine Zusammenfassung. Außerdem meinte er: morgen wird´s schlimmer.

Heute hatten wir beide frei, weil Kommunalwahlen waren. In unserer Gegend wird nicht gewählt. Die Wahlen sind verschoben, weil ein großer Teil der Einwohner immer noch evakuiert ist. (Nicht, als ob das international irgendjemanden kümmern würde!) Wir haben einen ruhigen Tag verbracht, und von der langen Liste von Dingen in Haus und Garten, die wir unbedingt machen müssen, haben wir einfach gar nichts gemacht. Wir sind spazieren gegangen (waren auch bei der Post – mein Adventskalender ist angekommen und ein Paket Lebkuchen! seit November unterwegs…) und haben die milde Luft genossen. Der Februar ist ja mein Lieblingsmonat, und er hat dieses Jahr so viel Regen gebracht, dass alles grünt und blüht. Einfach wunderschön. Im Ort liefen Familien herum, in den Gärten spielten Kinder.

Mein Mann hat sein meisterliches Shakshuka gemacht, und dann hat er sich Nachmittagsruhe gegönnt. Gegen vier hörte ich draußen laute Geräusche, und Sekunden später gingen draußen die Sirenen. Das Smartphone heult, vibriert und blinkt bei Alarm, und die Katzen flohen entsetzt unter unser Bett. Ich weckte meinen Mann, wir sprangen in den Schutzraum und schlugen die Tür zu, während über uns die Hölle los war. Das dauerte ein paar Minuten.

Wir versuchten, die Explosionen zu zählen und abzuschätzen, ob es Iron-Dome-Abschüsse waren oder Raketeneinschläge, und wir kamen zum Ergebnis, dass es wohl beides war. Nach zehn Minuten war es still und wir konnten wieder raus. Insgesamt war zweimal Alarm in Manot, oder war es dreimal? Es war so kurz hintereinander.

Draußen war es wieder still und ruhig, aber die Kinder riefen an und der Schwiegervater, ob bei uns alles okay ist. Ja, klar. Dann sahen wir die Clips, die erst per Whatsapp in der Nachbarschaftsgruppe geteilt wurden, dann auf Twix auftauchten und schließlich im Fernsehen. Um die 20 Raketen in unserer Gegend, einige davon abgefangen, andere auf freiem Feld oder einer Straße eingeschlagen.

Das war auf der Straße 89 von Maalot nach Nahariya, die auf dem Hügel uns gegenüber verläuft. Die Leute im Auto verhalten sich nicht nach den Anweisungen des Homefront-Kommandos – sie hätten aussteigen, sich vom Auto entfernen und hinlegen sollen, beide Hände über dem Kopf. Aber wenn man den Clip bis zum Schluß sieht, ist klar, dass das u.U. auch gefährlich gewesen wäre.

Autofahren ist einfach ein Risiko im Moment, weil Iron Dome nur für besiedelte Gebiete eingesetzt wird. Straßen gehören nicht unbedingt dazu.

Die große Qualmwolke im Clip ist über der Kabri-Kreuzung, ein bißchen weiter südlich von uns, wo wir jeden Tag vorbeikommen. Auch in Kfar Yassif,Abu Snan, Julis und Yirka, wo Drusen, Christen und Muslime leben, war Alarm. Glücklicherweise ist niemand verletzt worden.

Der Schreckensruf „immale!“ ist übrigens typisch, Mütterchen!, das ruft man hier, wenn man einen Schrecken kriegt. Mein Deutsch ist schon so rostig, dass mir gar nicht mehr einfällt, was man eigentlich statt immale ausstößt. Vermutlich ach du Scheiße oder so ähnlich 🙂

Die Eskalation ist im Gang, Israel greift aggressiver und weiter nördlich an, immer Stellungen der Hisbollah. Gestern in Baalbek, einer Hochburg der Hisbollah, 100 km nördlich der Grenze. Hisbollah reagiert dann wieder, und wir reagieren, und so geht es weiter. Wenn man aber in der Zeit zurückgeht, ist klar: den ersten, zweiten und dritten Schuß hat Hisbollah abgegeben, nicht erst am 7.10., sondern schon zu Pessach. Und wenn Hisbollah aufhört, hört Israel auch auf. Es ist also eine einseitig vorangetriebene Eskalation, in der Israel reagiert, und noch lange nicht mit voller Härte. Aber Israel de-eskaliert auch nicht, und dass ich viel weniger Artillerie höre, bedeutet bestimmt kein Nachlassen des Drucks auf Hisbollah. Ich höre dafür viel mehr Flugzeuge.

Ich kann mich nicht erinnern, seit dem 7.10. einmal richtig entspannt gewesen zu sein. Soldaten – Geiseln – Krieg – Raketen, eine Litanei der Sorgen und Ängste. Aber ich habe auch nie hysterisch reagiert wie die Leute in dem Clip, stellt euch das nicht so vor, dass es immer so ist. Das waren junge Leute, die mit der Situation überfordert waren und echte Angst hatten. Wir haben ruhig im Schutzraum gesessen und gewartet, bis es vorbei war. Im Schutzraum fühle ich mich tatsächlich geschützt, obwohl schon klar ist, dass ein Direkttreffer gefährlich wäre. Mein Mann sagte trocken: immerhin sehen wir, dass Iron Dome noch funktioniert.

Aber auch am 7.10., als wir Quarta aus Tel Aviv abholten und unterwegs Alarm war, sind wir ruhig geblieben. Angehalten, hinter ein Mäuerchen gelaufen, Quarta in die Mitte genommen und auf den Boden gegangen, bis es vorbei war. Man muß immer zehn Minuten warten, weil sonst noch Trümmer von Raketen oder Iron Dome runterfallen können. Auch als ich an der Bushaltestelle im Winter von einer Rakete überrascht wurde, habe ich nichts weiter getan, als zuzugucken, wie Iron Dome sie abfängt. Der Bus kam auch pünktlich, und ich war nicht die einzige aus Manot, die eingestiegen ist.

Das war also unser Tag heute. Keiner weiß, wir morgen wird. Ich hoffe, wir behalten alle die Nerven. In einem Nervenkrieg sind Nerven ein hohes Gut.

Mir tut es gut zu schreiben, ich schreibe mir die Sachen von der Seele und das hilft. Danke an alle, die lesen, kommentieren und meine Tee-Kasse freundlich bedenken. Ich würde gern alle Kommentare beantworten, das habe ich früher immer getan, aber jetzt fällt es mir schwer, obwohl es mich freut, dass es ganz überwiegend positive Kommentare sind. Die Trolle sind wohl alle zu Twitter-X umgezogen und toben sich da aus, und da stört es mich auch nicht, denn es fühlt sich nicht so persönlich an.

Familie, Arbeit, Alltag, Schreiben, und wissen, wofür man lebt. So überstehen wir die Zeit.

Gibt es Neuigkeiten? Nein Februar 23, 2024, 18:46

Posted by Lila in Land und Leute, Persönliches.
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Wir gehen durch den Alltag, manche Leute kommen wieder nach Hause, sofern sie in einem nicht-ganz-grenznahen Ort leben. Ich treffe viele Menschen im Laufe der Woche, sie haben alle Geschichten zu erzählen. Jeder kennt Betroffene, jeder fühlt sich betroffen, dieser Krieg geht alle an und läßt keinen kalt.

Eine freundliche ältere Dame, handarbeitsbegeistert und engagiert, gibt mir Tipps, wo man das beste Garn kaufen kann. Sie war in Tel Aviv, und im Dizengoff Center gibt es wohl einen sehr guten Laden. Dort hat sie sich mit Makramee-Material eingedeckt. Jetzt macht sie pastellfarbene Spiegel mit Makramee-Rahmen, für die Mädchen, die noch immer Geiseln sind. In Tel Aviv, am Platz der Geiseln vor dem Museum, kann man Geschenke für die Geiseln abgeben. Sie arbeitet viele Stunden am Tag an ihren Geschenken für die Mädchen, und denkt dabei pausenlos an sie, knüpft ihre guten Wünsche in jeden Knoten.

Ein älterer Herr, früher hoher Offizier und im Libanonkrieg I schwer verwundet, erzählt mir von seinem Foodtruck, den er regelmäßig in den Süden fährt, für die Soldaten dort. Alles Spenden, die Soldaten sollen was Besonderes zu essen kriegen und merken, dass das ganze Land an sie denkt.

Die Raketen im Süden haben deutlich abgenommen, im Norden bleibt es sich in etwa gleich. Die Hisbollah schießt mit Anti-Tank-missiles, die von Iron Dome nicht abgeschossen werden können. Es gibt wohl Lösungen dagegen, aber sie schützen nur Panzer, nicht Dörfer.

Israel hat sich den Beschuß aus dem Libanon lange angesehen und punktuell reagiert. Irgendwann in den letzten Wochen ist dann wohl die Entscheidung gefallen, nachdem die Drohnen der Hisbollah immer weiter südlich flogen und die Angriffe auf die Grenze nicht aufhörten, aggressiver zurückzuschlagen. Dabei werden nach wie vor nur Hisbollah-Ziele angegriffen, aber IAF fliegt weiter nördlich als zuvor. Der Kipppunkt (komisch, drei p hintereinander zu schreiben, aber so is es) kann jederzeit erreicht sein, wir werden es erst wissen, wenn er überschritten ist und es hier so richtig losgeht.

Inzwischen sind wir alle ganz schön abgehärtet. Ich habe heute in Nahariya unterrichtet, zwischendurch rappelten die Handys, alle guckten schnell nach – Alarm weiter östlich, kein Grund, in den Schutzraum zu gehen. Also weitergemacht.

Vor ein paar Tagen saß ich zuhause und unterrichtete per Zoom, da hörte ich draußen wieder das typische Gerumpel. Die Katzen, vorher um mich herum drapiert (wo aber die Heizung ist, da werden auch die Katzen sein), sprangen empört auf. Ein Blick aufs Handy – Alarm in Shlomi und Metzuba, 2 km entfernt. Tür zugeschmissen und weiter unterrichtet.

Mein Mann hatte ein oder zwei Tage ein ähnliches Erlebnis. Lärm draußen – eine Drohne der Hisbollah fiel vom Himmel. Alarm war nicht, also arbeiteten alle weiter.

So ist der Mensch, man gewöhnt sich an alles. Auf dieser Eskalationsstufe kann es noch eine Weile weitergehen, was wir machen, wenn es schlimmer wird, werden wir dann sehen.

Woran wir uns nie gewöhnen werden, das sind die Terroranschläge, die Menschenleben kosten, die Soldaten, die mit ihrem jungen Leben für uns einstehen und von Eltern begraben werden, die jünger sind als wir. Und es gibt keinen Moment, in dem ich nicht an die Geiseln denke. Sie sind in den Händen von Bestien, denen keine Tat zu abscheulich ist, die nicht tiefer sinken können, als sie schon sind.

Wir wissen, wie grausam die Sportler in München mißhandelt wurden. Wir wissen, wie Terroristen gewütet haben, in den Häusern vieler jüdischer Familien. Doch jetzt sind wir in einem fast fünf Monate andauernden Terrorangriff mit Geiselnahme (pigua mikuach), und die Nervenanspannung hört nicht auf. Ich kann von mir sagen, dass ich seitdem keinen Moment mehr unbeschwert genossen habe. Ich schlafe abends mit den Gesichtern vor Augen auf, den Namen, ich habe Albträume und höre Schreie und Rufe, und ich wache erschöpft auf. Wie es den Angehörigen geht, kann ich nicht ermessen – wenn es eines meiner Kinder wäre, das in den Händen der Hamas leidet, ich weiß nicht, was ich tun würde.

Dazu die Gleichgültigkeit der Welt, die ewigen Appelle an Israel, ja nicht etwa an die Hamas, sondern an UNS, den Kampf aufzugeben, bevor er gewonnen ist, die Ausbrüche des entfesselten Antisemitismus auf Straßen und in Hörsälen in aller Welt, die Lügen, die pausenlos in die Welt gesetzt werden – auch das ist schwer zu ertragen.

Wir wußten, dass wir nicht mit Solidarität rechnen konnten, und sind dankbar für die Solidarität, die wir erfahren haben. Dass wir darauf nicht auf Dauer bauen konnten, war klar. Israel hat den Siegeszug der palästinensischen Ideologie zugelassen, das war ein Fehler, und jetzt glaubt die ganze junge Generation, was ihnen auf Tiktok erzählt wird. Dass nichts davon wahr ist, zählt nicht. Wahrheit steht überhaupt im Moment nicht hoch im Kurs, es ist schwer, mit Fakten und komplexen Rekonstruktionen einer verzwickten Vergangenheit gegen einfache Lügenmärchen vorzugehen, die in sich logisch sind und in die ideologischen Weltbilder passen.

Die Medien in aller Welt haben beschlossen, dass das höchste Gut das Wohl der palästinensischen Zivilisten ist, dass es eine saubere Trennung zwischen einigen wenigen bösen Terroristen und einer harmlosen, hilflosen Zivilbevölkerung gibt, die mit Terror nichts am Hut hat. Die Bilder vom 7.10. beweisen das Gegenteil, die Beweise gegen UNRWA liegen vor, die Verstrickung der Zivilbevölkerung in den Feldzug gegen Israel ist unwiderlegbar, aber das ist egal. Das Narrativ, das den Pro-Palästina-Demonstranten erlaubt, sich als die Guten zu sehen, die für Menschenrechte einstehen, siegt über die Realität, in der palästinensische Familien junge Mädchen in ihren Häusern festhielten und bedrohten. Die Realität, in der Menschenmengen auf israelische Leichen einprügelte und auf Geiseln spuckte. Die Realität, in der kein Haus im Gazastreifen ohne Waffen oder Tunnel-Eingänge war. Die Realität, in der UNRWA-Lehrer und -Sozialarbeiter aktiv am Massaker teilnahmen und es feierten.

Von alldem findet sich nichts in den öffentlichen Diskussionen. Es geht nur darum, dass Israel seine militärische Überlegenheit bitte nicht einsetzen darf, um sein Überleben zu sichern.

Tausende Raketen sind auf Israel abgeschossen worden. Ohne Zivilschutz, Einhaltung der Regeln, Schutzräume und Systeme wie Iron Dome gäbe es hier Tausende Tote. Das zählt nicht, es sind nicht die israelischen Zivilisten, für die das Herz der Welt blutet, es sind immer nur die Palästinenser. Israelis sind Roboter, keine vollwertigen Menschen, sie sind zu resilient, zu sehr bereit, ihr Fell teuer zu verkaufen.

Pallywood produziert lächerlich durchsichtige Filmchen, über die in westlichen Medien Tränen vergossen werden. Die Hamas produziert Opferzahlen, die unhinterfragt übernommen werden. Die Hamas hindert Zivilisten daran, Kampfzonen zu verlassen, nachdem Israel mit allen Mitteln warnt, aber Israel ist schuld, wenn es Tote gibt. Videos aus Syrien werden als Gaza ausgegeben, keiner überprüft es. Wie sollen wir gegen diesen stinkenden Tsunami von Lügen ankommen?

Ich sage es seit Jahren. Um diesen Konflikt zu lösen, müssen mehrere Dinge geschehen. Die internationale Gemeinschaft muß Qatar und die Islamische Republik Iran verwarnen und in die Schranken weisen. Die UNRWA, dieser korrupte Laden, muß aufgelöst werden, die Geldströme müssen verfolgt werden, Mißbrauch aufgedeckt werden. Der vererbbare Flüchtlingsstatus der Palästinenser, dieses sinnlose Alleinstelllungsmerkmal, muß aufgehoben werden, und die Länder, in denen es Nachkommen der Flüchtlinge gibt, müssen verpflichtet werden, Palästinensern gleiche Rechte einzuräumen.

Und die Palästinenser müssen endlich anfangen, eine wahre zivile Gesellschaft aufzubauen. Eine Gesellschaft, die nicht nur, wie im Gazastreifen, eine Fassade ist, hinter deren Hotels und Krankenhäusern, Geschäften und Villen (ja, es gab dort ganze Villenviertel) sich keine Terrortunnel und Raketenschmieden mehr verbergen. Sie müssen anfangen, ihren Kindern Mathe, Englisch, Literatur und Geschichte beizubringen – die echte Geschichte, nicht ihr erlogenes Narrativ von Landraub und Unterdrückung. Sie hatten 2005 die Chance dafür und haben sie vertan.

Wenn die internationale Gemeinschaft, die die Palästinenser mit unvorstellbaren Summen alimentiert hat, ohne zu überprüfen, wohin das Geld fließt (IDF hat ganze Pakete von Geld in den Tunneln gefunden), wenn diese „Gemeinschaft“ den Palästinensern irgendetwas schuldet, dann dieses: darauf zu bestehen, dass sie zu einer produktiven, lebensbejahenden, friedlichen und kooperationsfähigen Bevölkerung werden.

Die Zweistaatenlösung ist kein Instant-Geschenk für Terrorismus, sondern ein Langzeit-Angebot. Gebt uns fünfzehn, zwanzig Jahre ohne Terror, ohne Lügen, mit bilateralen Beziehungen und Zusammenarbeit nach Stef Wertheimers Modell der gemeinsamen Industrieparks, mit Schüleraustausch und gemeinsamen ökologischen Projekten. Nach einer solchen Zeit, in der nicht Aggression, sondern Zusammenarbeit herrschen, ist eine Zweistaatenlösung ein realistisches Ziel.

Aber so wie es heute aussieht? Warum sollte Israel sich dieser Gefahr aussetzen? Hamas und Fatach haben beide immer wieder gesagt, dass sie keine Zweistaatenlösung wünschen, sondern Israel ausrotten wollen und den 7.10. als Blaupause für zukünftige Aktionen sehen. Wenn die internationale Gemeinschaft diese Aussagen und den täglichen Terror einfach übersieht, um an ein Phantasieprojekt zu glauben, den friedlichen, kompromißbereiten Palästinenser, der ja so gern ein guter Nachbar sein will – dann stehen wir eben isoliert da. Schade, aber dann hat die Welt eben noch nicht, noch immer nicht, eingesehen, was uns seit Jahren klar ist.

Die Palästinenser wollen keinen Staat und sie können es auch nicht. Gaza hätte das Modell sein können. Das Ergebnis haben wir gesehen. Wir spüren es in unseren Knochen, die ganze Härte dieser Realität. Wir gehen einen schweren Weg. Aber es gibt keinen anderen, wenn wir überleben wollen.

Shigrat cherum – die Routine der Notlage Februar 5, 2024, 22:49

Posted by Lila in Persönliches.
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Eine charakteristische Sprachregelung. Wir sind im Ausnahmezustand, aber der ist schon längst zur Routine geworden. Shigrat cherum bedeutet, dass alles so normal wie möglich weitergehen soll, auch unter ungewöhnlichen Umständen. Und das tut es, zumindest habe ich das Gefühl, dass es nicht nur mir so geht. Wenn es draußen ballert, gucke ich nicht mehr sofort nach, was mir das Sicherheitsteam per Whatsapp mitteilt – ich kann selbst abschätzen, wo es an der Grenze gekracht haben muß, und führe meinen Alltag weiter, und so tun es auch die anderen, die ich kenne.

Eine Bekannte aus Hanita findet sich langsam damit ab, dass ihr Kibbuz so schnell nicht wieder zu bewohnen ist, und sie hat mir erzählt, dass sich junge Kibbuzfamilien anderswo dauerhaft niedergelassen haben. Sie selbst (genau mein Alter) und ihr Mann sind auch bereit, unter schwierigen Umständen in den Kibbuz zurückzugehen, der direkt an der Grenze liegt, aber mit Kindern ist das natürlich was anderes. Für sie hat sich mehr geändert als für uns.

Eine Freundin aus Gesher HaZiv ist mit ihren Kindern zurückgekehrt, und es ist geplant, die Schulen und Kindergärten langsam wieder aufzumachen. Die Evakuierung der 5 km-Zone verwischt sich, und ich nehme an, wenn diese instabile Lage noch länger anhält, werden viele zurückkehren, nur die in den ganz grenznahen Orten nicht.

Die Hisbollah hat den Überraschungseffekt, den sie am 7. Oktober eindeutig gehabt hätte, verpaßt. Ich habe den Verdacht, dass sie jetzt auf unsere Gewöhnung an den Ausnahmezustand setzt, und ich kann nur hoffen, dass die IDF sich nicht ein zweites Mal überraschen läßt. Es ist jederzeit möglich, dass die Lage sich verschärft.

Es ist ein Nervenkrieg, es ist ein Abnutzungskrieg, und wir können uns nicht leisten, die Nerven zu verlieren oder uns abnutzen zu lassen.

Ich trage meine Erkennungsmarke jeden Tag, und sehr viele andere tun das auch. Für die Geiseln müssen die letzten Wochen, mit kaltem, nassem Winterwetter, sehr schwierig gewesen sein. Auch für die Soldaten sind sie kein Vergnügen. Es ist gut möglich, dass mit Frühlingsanfang und wärmeren Temperaturen die IDF die Initiative ergreift und der Routine des Kriegs auf kleiner Flamme ein Ende macht. Ich persönlich hoffe auf eine diplomatische Lösung, denn die Meinungsverschiedenheiten mit dem Libanon sind lösbar. Aber der Vernichtungswille der Hisbollah wird sich damit vermutlich nicht zufriedengeben. Das sind inner-libanesische Entscheidungen, auf die wir wenig Einfluß haben, wer sich durchsetzt – Pragmatiker oder Fanatiker. Bei den Palästinensern haben leider die Fanatiker das Sagen.

Seit ein paar Wochen verfolge ich das Kriegsgeschehen weniger intensiv. Einmal am Tag Nachrichten reicht mir, und manchmal lasse ich auch die ausfallen. Inzwischen arbeite ich täglich, das ist gut, besonders, weil ich in den Abendstunden arbeite, wenn die Nachrichten am intensivsten kommen. Oft verlasse ich mich auf eine Kurzfassung durch meinen Mann, der dann alles auch gleich für mich einordnet und mit sarkastischen Anmerkungen versieht. Bisher lag er immer richtig.

Eigentlich ist die Lage (ha-mazav) unmöglich, aber wir leben trotzdem so normal wie möglich weiter. Also nichts Neues von uns, weswegen ich auch weniger schreibe. Manchmal frage ich mich, wie wir uns später an diese Zeit erinnern werden. Ob der Konflikt sich verläppern wird oder die düsteren Prophezeiungen eintreten werden.

Der Februar ist mein liebster Monat, alles ist grün, und dieses Jahr haben wir viel Regen. In normalen Jahren verfolgen alle obsessiv, wie hoch der See Genezareth gestiegen ist, aber dieses Jahr scheint das niemanden zu interessieren.

Ich unterhalte mich mit vielen Menschen, und ohne Ausnahme würden alle gern einen Regierungswechsel sehen. Netanyahus Koalitionspartner haben keine Fans in meinem Umfeld, auch bei konservativeren Gesprächspartnern nicht. Sie machen Politik für ihre Wähler, nicht für das ganze Volk, und dass wir auch internationale Beziehungen haben, scheint ihnen noch nicht klargeworden zu sein. Sie machen den Eindruck verantwortungsloser Populisten, und das besorgt nicht nur mich. Die Legislaturperiode ist noch lange nicht vorbei, und diese Regierung wird sich trotz ihrer katastrophalen Bilanz an die Macht klammern.

Seit der Freilassung der Geiseln im November ist viel Zeit vergangen, und wie viele der verbleibenden Geiseln noch am Leben sind und wie es ihnen geht, weiß keiner. Die Welt scheint sie vergessen zu haben, Hobelspäne eines Konflikts, der den meisten zum Hals heraushängt und der überwiegend durch die Linse des palästinensischen Narrativs gesehen wird. Dass dieses Narrativ nicht der historischen Wahrheit entspricht, interessiert viele nicht, die Geschichte ist zu komplex.

Wie bedrückend die Feindseligkeit Israel und Juden gegenüber auf der ganzen Welt ist, kann ich gar nicht ausdrücken. Täglich neue Meldungen von körperlichen und verbalen Angriffen, Haß-Graffiti und Demonstrationen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich zu meinen Lebzeiten noch erleben muß, wie dieser uralte Haß wieder ans Tageslicht kommt. Dass er unterschwellig weiter gepflegt wird, das war mir klar, und auch, dass er größer ist, als wir wußten. Aber was sich jetzt Bahn bricht – das ist erschütternd.

Die Zeit vor dem 7. Oktober liegt jetzt weit zurück. Wir leben in einer Zeit der Unsicherheiten und offenen Fragen.

Die Lage, die Lage Januar 15, 2024, 16:17

Posted by Lila in Persönliches.
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Auf Hebräisch nennt man es „ha-matzav“, die Lage oder Situation. Wie ist die Lage? ma ha-matzav? Ja, wie ist sie?

Wir waren am Wochenende in Tel Aviv. Übernachtet haben wir bei Quarta, sie hat für uns gekocht und es war richtig schön und gemütlich. Wir haben im Zimmer eines Mitbewohners übernachtet, der seit dem 7. Oktober Reservedienst leistet und nur selten nach Hause kommt.

Quarta hat zwar keinen Schutzraum, aber immerhin hätten wir im Falle eines Alarms genügend Zeit gehabt, uns im Treppenhaus in (relative) Sicherheit zu bringen. Es blieb aber still.

Am Shabat waren wir dann am „Platz der Verschleppten“, dem großen Platz in Tel Aviv zwischen der großen Bet-Ariella-Bibliothek, dem Gericht und dem Museum für moderne Kunst, das ich natürlich sehr gut kenne (und empfehle). Der Platz, der vorher ziemlich leer war, von ein paar interessanten Skulpturen abgesehen, ist jetzt sehr voll.

Der lange Tisch mit den leeren Gedecken, mehrere Zelte, und überraschend viele kleinere Arbeiten von Menschen, die ihren Schmerz über das Schicksal der Geiseln visuell ausdrücken.

Es war schon ziemlich voll, am Abend fing dann die 24 Stunden währende 100-Tage-Kundgebung an.

Später waren wir auch am Dizengoff-Platz. Quarta geht dort oft hin, die Bilder der Menschen ansehen, die sie kannte. Jeder von uns kennt Opfer, ich habe noch niemanden getroffen, der nicht vom 7. Oktober oder vom Krieg direkt oder indirekt betroffen gewesen wäre.

Der berühmte Brunnen von Yaacov Agam wird gerade restauriert, und um den Brunnen herum sind Andenken an die Toten verteilt. Viele Menschen gehen langsam herum und versenken sich in die Bilder und Briefe, die dort ausliegen. Die Atmosphäre ist traurig. Ein Mann mit einem bildschönen Golden Retriever bietet allen an, den Hund zu umarmen, und das freundliche, zutrauliche Tier bietet Trost.

Unter dem Brunnen liegen Löwen und Lämmer aus, eine Erinnerung an die Vision des Friedens, wie sie der Prophet Jesaja schildert.

Überall in Tel Aviv sitzen zerrissene, mit roter Farbe bespritzte große Teddybären, die an die entführten Kinder erinnern, aber auch die ermordeten Kinder.

Abends waren wir dann mit Quarta und Secundus essen, es war schön. Die Diskrepanz zwischen dem familiären Frieden und der inneren Unruhe ist an solchen Tagen besonders stark.

Ich unterrichte weiter, im Haus ist es warm und friedlich, draußen ballert die Artillerie regelmäßig, und gestern sind in Obergaliläa in einem grenznahen Ort durch Beschuß der Hisbollah zwei Menschen ums Leben gekommen, Mutter und Sohn. Der Vater ist schwer verletzt. Landwirte, die sich um ihren Betrieb kümmern wollten.

Die Armee ist weiter im Gazastreifen, in den Gebieten brodelt es, täglich gibt es Terroranschläge – vorhin in Raanana, mit vielen Verletzten und einer Toten. Einer der Terroristen ist noch auf freiem Fuß.

Im Süden gibt es deutlich weniger Raketen als vorher, auch im Zentrum hat es sich sehr beruhigt, aber Terrorgefahr ist natürlich allgegenwärtig. Nach wie vor ist das Vertrauen in die politische Führungsriege nicht groß, und deren interne Rangeleien tragen nicht dazu bei, dass das Vertrauen wieder wachsen könnte. Und wie es hier im Norden weitergeht, ist unklar – d.h., es ist klar, dass eine große Auseinandersetzung kommen wird, aber wie bald das sein wird, wie es genau aussehen wird und wer daran teilnehmen wird, wissen wir nicht.

Der Winter ist so schön, alles ist grün, Regen und Sonne wechseln sich ab und von Zeit zu Zeit sehe ich einen Regenbogen, immer ein Zeichen der Hoffnung.

Ich trage die Erkennungsmarke, die ich in Tel Aviv gekauft habe, und werde sie nicht ablegen, bis nicht alle Geiseln und alle Soldaten zuhause sind.

Ein Treffen Januar 9, 2024, 22:27

Posted by Lila in Persönliches, Uncategorized.
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Heute vormittag saßen wir wieder zusammen, das Team vom Kindergarten Charuv. Seit dem 6. Oktober das erste Mal, dass wir wieder vollzählig waren. Großes Hallo zur Begrüßung, und alle gucken auf die Uhr: so, jetzt müßten wir eigentlich in den Sandkasten!, und dann erzählten alle, was sie nun machen. Der Kibbuz ist noch immer fast leer, aber langsam kehren einige Familien wieder. Bis dort wieder Kindergärten aufmachen, wird es noch eine Weile dauern. Die meisten Familien haben ihre Kinder in weiter südlich gelegenen Kindergärten angemeldet, in Lochamey Ha-Gettaot or Regba, näher an Akko als an Nahariya.

Sowohl Familien als auch Teile unseres Teams wohnen inzwischen auch woanders. Eine Kollegin war erstmal einen Monat im Ausland, dann wieder zuhause, dann wieder unterwegs. Sie kam braungebrannt und mit neuer Haarfarbe. Ich bin die einzige, die nahtlos weiter arbeitet, die anderen leben von Arbeitslosenunterstützung. Eine junge Kollegin hat morgen ein Vorstellungsgespräch.

Eine andere junge Kollegin, die den Krieg von 2006 in traumatischer Erinnerung hat, ist wieder bei ihren Eltern eingezogen und nimmt Medikamente gegen Panik und Angst. Sie würde gern zu ihren Tanten nach Frankreich fahren, aber die haben sie gewarnt – keine guten Zeiten für Juden in Paris.

Wir tauschen uns aus, wie wir den 7.10. erlebt haben. Die Kindergärtnerin saß den ganzen Tag mit einer der Mütter zusammen, die aus Kibbuz Beeri stammt, und zusammen weinten sie um die Familienmitglieder, die sich in verzweifelten Hilferufen per Whatsapp meldeten und irgendwann verstummten. Das war das Schlimmste, was sie je erlebt hat. Später ist die Geschichte dieser Großfamilie durch alle Medien gegangen, aber als es geschah, saßen zwei Frauen zusammen auf dem Sofa, während auf der Terrasse kleine Kinder spielten, und niemand konnte den Familienmitgliedern in Beeri helfen.

Wir erinnerten uns an den Vater, der Lokalpolitiker ist und uns schon im Juni warnte, dass es im Spätsommer losgeht. Das Szenario, das wir im Süden gesehen haben, hat er uns für August oder September prophezeit. Die Familie ist mit Sack und Pack ins Ausland gezogen, er kann es sich leisten.

Die Kindergärtnerin ist in Kontakt mit allen Familien, auch denen der Gruppe, die wir im August verabschiedet haben, und wir haben mit Erstaunen gehört, dass unser zartestes Blümchen, das so viel Aufmerksamkeit gebraucht hat, jetzt vergnügt allein spielt, dass die Krabbelkinder alle laufen und sie sich alle gut eingelebt haben in ihren neuen Kindergärten. Die Leiterin der Erziehung im evakuierten Kibbuz würde gern am 1.2. wieder öffnen und uns alle dabeihaben, aber sie glaubt auch nicht, dass die Kinder noch einmal zurück wechseln werden, nachdem sie sich nun eingewöhnt haben. Nichts ist sicher.

Die Zukunft wurde noch unsicherer, weil wir ständig vom Rappeln der Telefone unterbrochen wurden. „Alarm in Yiftach“, „jetzt auch in Dishon“, so ging es ununterbrochen. Zwischendurch auch Nachrichten über IAF-Angriffe im Libanon. Es fühlte sich schon ganz schön krisenhaft an.

Dann die Diskussion, wo es denn jetzt sicher sei. Ist Tivon sicher? Haifa? die Krayot-Städte? (Kiriyat Bialik, Kiriyat Yam, Kiriyat Motzkin) Nein, zu nah an den Raffinerien der Bucht von Haifa, und Tivon auch zu nah an der Luftwaffenbasis Ramat David. Da hat Nasrallah schon 2006 drauf gezielt, und er wird es wieder versuchen.

Was ist mit den Golanhöhen? Beschuß aus Syrien. Tel Aviv ist sowieso nicht sicher. Sollten die Gebiete den Aufstand proben, ist auch Jerusalem nicht sicher, außerdem sind beide großen Städte Ziel für Raketen. Wo könnte es sicher sein? Im Negev? Nein, die Houthis. Ich zitierte wieder meinen Mann, dass es da am sichersten und unsichersten ist, wo man sich gerade befindet. Die reiselustige Kollegin meinte, Thailand sei schon sehr gemütlich, und darum fliegt sie nächste Woche hin.

Beim Abschied haben wir uns alle in den Arm genommen und auf die Uhr geguckt und gesagt: so, wer geht jetzt in die Küche und bereitet die Tabletts fürs Mittagessen vor, und wer übernimmt den Mittags-Stuhlkreis?

Ich werde nicht wieder in die Früherziehung zurückgehen, zumindest nicht in absehbarer Zeit, denn das Unterrichten macht Spaß und meine Woche ist pickepackevoll. Aber ich werde mich immer gern daran erinnern, an das schöne Gefühl, wenn sich morgens kleine Ärmchen nach mir ausstreckten. Die Beratungen darüber, wie man einem kleinen Jungen helfen kann, dessen Eltern durch eine schwierige Trennung gehen, oder dem kleinen Mädchen, in dessen Familie gesundheitliche Probleme nicht viel Aufmerksamkeit für die Jüngste übrigließen. Es war schön, wenn wir am Freitag den Shabat singend in Empfang nehmen konnten, mit unserem selbstgebackenen Challah und den zwei Kerzen.

Der 6.10. war mein letzter Arbeitstag dort, ich hatte gekündigt und die Kollegin, die mich ersetzen sollte, war schon eingearbeitet. Einen Tag später ist diese ganze Welt, die im Nachhinein so idyllisch war, versunken.

Eloge auf ein kleines Zimmer Januar 3, 2024, 1:44

Posted by Lila in Land und Leute, Persönliches.
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In unserem Haus gibt es ein kleines Zimmer, so groß wie ein Kinderzimmer. Es war tatsächlich, als wir hier einzogen, ein Kinderzimmer. Quarta war, als wir hier einzogen, noch keine zehn Jahre alt, und es war ihr Zimmer. Nach ein paar innerfamiliären Veränderungen (große Kinder zogen vorübergehend aus, wieder zurück, wir wohnten für ein paar Jahre in einem doppelt so großen Haus und zogen dann, als die Söhne endgültig aus dem Haus waren, wieder hierhin zurück…) diente das kleine Zimmer erstmal als Kammer, in dem sich alles stapelte, was wir nicht sofort einräumen konnten. Zwischen den Kartons brachte eine Katze ihre Kleinen zur Welt, und irgendwann gaben wir uns einen Ruck, die Töchter und ich, und verwandelten das kleine Zimmer in mein Arbeitszimmer.

Hier stehen die Bücher, die ich immer griffbereit haben möchte, unsere Aktenordner und Dokumente. Der Reserve-Kühlschrank, mein Schreibtisch mit Laptop, und all die Paraphernalia, die ich für nötig halte, um einen Arbeitstag vor dem Computer unbeschadet zu überstehen. Es ist gemütlich hier, und ich habe alles griffbereit. Durchs Fenster sehe ich auf die Zitronenbäume, die gerade so voll hängen, dass ich tütenweise Zitronen verschenke und trotzdem nicht weiss, wohin damit. Nein, falsch – ich sähe auf diese Zitronenbäume, wenn das Fenster denn offen wäre. Aber das ist es nicht.

Seit letztem Pessach, als wir hier saßen, während draußen Raketen auf unsere Gegend fielen, sind die Stahlläden allerhöchstens einen kleinen Spalt offen, und seit dem 7.10. fest verrammelt. Die Gummidichtung in der Tür haben wir in Ordnung gebracht, und der Kühlschrank ist gut gefüllt. In einer Ecke stapeln sich Wasserflaschen, und es gibt Essensvorräte, mit denen man es schon drei Tage aushalten könnte, wenn man müßte. Die Wände sind dick, die Tür aus Stahl und öffnet sich nach außen. Das Fenster zeigt nach Südwesten. Nach Norden wäre nicht ratsam.

Wer durch Nord-Israel fährt, kann an Mehrfamilienhäusern an der Süd- oder Westwand die Reihe von Stahlläden sehen, je nach Lage offen oder geschlossen. Im Süden zeigen die Fenster nach Norden, denn dort droht die Raketengefahr aus dem Süden.

Seit dem Irak-Krieg muß jedes Haus so einen Schutzraum haben. Er heißt Mamad, merchav mugan dirati – geschützter Bereich der Wohnung. In Mehrfamilienhäusern, die keine Mamadim bieten, gibt es Schutzbereiche in jeder Etage, Mamak genannt – merchav mugan komati. Wer weder das eine noch das andere hat, und für wen die Luftschutzräume nicht schnell genug erreichbar ist, dem rät das Homefront commando, sich im Treppenhaus eine Etage tiefer zu begeben, möglichst weit entfernt von Fenstern. In Bädern, wo Fliesen splittern könnte, sollte man sich auf keinen Fall aufhalten.

Schulen, Kindergärten und öffentliche Gebäude, auch Einkaufszentren, haben alle ausgeschilderte Wege in Schutzbereiche, und die meisten israelischen Krankenhäuser haben unterirdische Stationen. Im Notfall wird so viel wie möglich in diese aufwendigen unterirdischen, gut geschützten Bereiche verlegt.

Wer jetzt in Israel Google maps nutzt, kann sich die Lage der öffentlichen Luftschutzbunker ansehen, aber weil auch in Tel Aviv die Warnzeit nicht üppig bemessen ist, sollte man im Falle eines Alarms lieber in ein Gebäude sehen. Die Türen von Mehrfamilienhäusern sind in Krisenzeiten immer offen, damit Passanten sich dorthin flüchten können. (Natürlich besteht auch das Risiko, dass Terroristen eindringen könnten – alles schon passiert.)

Wenn man mit dem Auto unterwegs ist – anhalten und auf den Boden legen, Hände über den Kopf und abwarten. Nach jedem Alarm muß man mindestens zehn Minuten warten, bis auch die Gefahr von herabfallenden Trümmerteilen von Raketen, die Iron Dome zerschießt, vorbei ist. Bei einem Direkteinschlag nützen einem die Hände wenig, aber im Fall von Splittern ist es wichtig, so niedrig wie möglich zu liegen.

In arabischen Medien wird gern darüber gelacht, wenn Israelis in Deckung gehen, aber wir lieben das Leben und liegen lieber zehn Minuten am Boden, um dann wieder aufzustehen, als dass wir uns aus falschem Stolz Splitter einfangen.

Natürlich gibt es viele, die sich so auf Iron Dome verlassen, dass sie bei Alarm auf die Balkone eilen und das Spektakel filmen. Das ist aber gefährlich. Meine deutsche Sozialisation schlägt voll durch, und ich befolge alle Anweisungen genau. Auch an meinen Arbeitsplätzen weiß ich genau, wohin ich mein Volk schicken muß, und habe immer im Hintergrund die Warn-App laufen. Ich würde in so einem Fall als Letzte aus der Klasse gehen und abschließen, das habe ich mir alles schon überlegt und der Schlüssel liegt immer auf dem Tisch.

Doch am sichersten fühle mich in meinem kleinen Arbeitszimmer. Dort verbringe ich die meisten Stunden,und eigentlich sollte ich hier schreiben, denn natürlich sitze ich auch jetzt in unserem Mamad. Wenn hier in der Gegend Alarm ist, bekomme ich sofort eine Whatsapp-Nachricht vom Sicherheitsteam des Moshavs, normalerweise mit der Empfehlung, mich in der Nähe des Schutzraums aufzuhalten. In unserer Gegend, bekanntlich mit 0 Sekunden Vorwarnzeit, sollte man kein Risiko eingehen. Ich lasse dann die Wäsche Wäsche sein und setze mich wieder an den Computer.

Die Stahltür lasse ich offen, damit ich hören kann, was draußen vorgeht. Bei mir sind ja immer alle Fenster offen, und oft auch die Türen, weil ich gern frische Luft im Haus habe und es genieße, dass wir jetzt ohne Klimaanlage leben. Ich habe gute Ohren, und wenn die nördlichen Fenster offen sind, höre ich das Rumoren an der Grenze ganz gut, obwohl es 5 km weit weg ist. Die Akustik ist hier irgendwie sehr gut, und normalerweise irre ich mich nicht. Wenn es in der Ferne rumpelt, kommt in der Nähe Alarm, Eli vom Sicherheitsteam postet eine kurze Sprachnachricht oder einfach nur ein Warnbild, und die Artillerie fängt an zu böllern. Inzwischen bin ich so abgehärtet, dass ich einfach weiterarbeite.

So ist es schon geschehen, dass Yaron mich von der Arbeit (weit entfernt) anruft, ob alles okay ist. Ich war bis über beide Ohren in ein Buch versunken und habe glatt verpaßt, dass in Metzuba Alarm war und in Shlomi auch. Er verpaßt die Stoßzeiten meist, denn die sind vor- und nachmittags. Gegen Abend und nachts ist es meist ruhiger.

Das einzige Mal, dass die Stahltür für längere Zeit geschlossen war und wir drinnen, war zu Anfang des Kriegs, bei dem großen Fehlalarm, der ganz Nordisrael in die Schutzräume geschickt hat. Ich sehe es jetzt als große Übung an, aber an dem Tag verbreiteten die Medien ohne Beweise die Warnung, dass die Hisbollah mit Paraglidern zu Dutzenden eindringt. Nach dem 7.10., der nur ein paar Tage zurücklag, kam das den meisten nicht unwahrscheinlich vor, und warum die Hisbollah das nicht schon längst versucht hat, weiß ich nicht. Wir saßen jedenfalls im Dunkeln, draußen summten die Drohnen (wir haben „unsere“ Überwachungsdrohne, die wir immer hören und vermissen, wenn sie mal woanders rumschwirrt) und keiner wußte, was nun eigentlich los ist.

Ich hatte Angst, mein Mann nahm das Ganze nicht ernst, und natürlich hatte er wieder mal Recht. Als die Nachricht durchkam, daß es ein Fehlalarm war, waren wir alle wütend und erleichtert zugleich. Der Soldat, der das versemmelt hat, sollte das besser weiterhin geheimhalten, weil ihm viele Leute gern die Ohren langziehen würden. Bis das Adrenalin aus meinem System ausgeschieden war, hat es bestimmt ein paar Tage gedauert. Seither habe ich haber keine Angst mehr gehabt, obwohl ich das Geböllere, die Raketen, die Iron-Dome-Abschüsse, Flugzeuge und Drohnen immer noch ungern höre.

Es ist natürlich klar, daß bei einem direkten Angriff, besonders mit größeren Raketen, so ein Schutzraum keinen totalen Schutz bietet. Auch bei chemischen oder biologischen Angriffen nicht, obwohl es alle möglichen Filtersysteme gibt, die wir nicht haben. Und wenn Terroristen in ein Dorf eindringen, eine Stadt oder einen Kibbuz, wie es die Hamas am 7.10. getan hat, dann braucht man eine extra Schutzeinrichtung, um die Tür zu verriegeln, die dafür gar nicht gedacht ist. Findige Bastler haben alle möglichen Dinge dazu benutzt. Mein Ingenieur, dem tatsächlich nichts zu schwör ist, hat zu diesem Behufe ein kräftiges Metallrohr zusammengeschraubt, mit dem sogar ich die Tür verriegeln kann. Aber das sollte man nur im Notfall tun, wenn es wirklich nötig ist, denn die Tür hat aus gutem Grund kein Schloß. Rettungskräfte können dann nämlich auch nicht rein.

Bei kleineren Raketen und Splittern bieten die Mamadim aber wirklich Schutz. In Sderot haben ganze Familien überlebt, nachdem ihr Haus durch eine Rakete zerstört wurde. Ohne die Disziplin, diese Räume tatsächlich immer aufzusuchen, wenn es Alarm gibt, wären viel mehr Menschen in Israel verletzt oder getötet worden. Der Aufwand ist groß, die ganzen defensiven Maßnahmen sind teuer (von Iron Dome und ähnlichen Systemen fange ich gar nicht erst an…) und am Ende ruft die Weltöffentlichkeit: ihr seid die Bösen, denn auf der anderen Seite sterben mehr, also sind sie die Opfer und ihr die Täter. Egal wie kraß wir angegriffen werden, für viele Menschen sind Israelis eben grundsätzlich Täter.

Wir hier im Norden haben seit 2006 viel weniger unter Raketen zu leiden gehabt als der Süden. Dort sind die Familien-Mamadim wirklich Zufluchtsort, so wie mein Arbeitszimmer für mich. Ich fühle mich dort wohl und geborgen und kann ungestört arbeiten, lesen oder malen.

Daß die Familien im Süden in diesen Schutzräumen überfallen, gequält und getötet worden, ist darum besonders schockierend. Nicht als ob es im Wohn- oder Schlafzimmer besser gewesen wäre. Aber in einer Welt voll Alarme und Raketen haben diese Räume eine besondere Bedeutung. Daß sie die Menschen in Nir Oz und Beeri nicht schützen konnten vor der Barbarei, daß der Tod viele dort ereilt hat, daß sie in Brand gesetzt wurden, um die Familien nach draußen zu treiben, wo sie erschossen oder verschleppt wurden, macht es irgendwie noch schlimmer.

2010 – Quartas Zimmer

2015 – nach dem Wiedereinzug, das Katzenparadies

2016 – Arbeitszimmer. So herrlich leer müßte es hier mal wieder werden!

2021

Bittere Tage November 17, 2023, 0:08

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Nachts sind die Gedanken schwer. Ich denke an die Geiseln und ihre Familien, denen die Dunkelheit über dem Kopf zusammgeschlagen ist, und wann kommt Morgenlicht? Und ich denke an die Soldaten und Soldatinnen, an ihren Mut, an ihre Motivation, an ihre Jugend. Wir wissen, daß im Lauf des Morgens die Namen bekanntgegeben werden, und gleichzeitig die Einzelheiten zur Beerdigung.

Heute früh ging dann durch Twitter das Bild des jungen Assaf Mester, dessen Name mir nichts sagte, obwohl ich um ihn traurig war wie um die beiden anderen, deren Namen ebenfalls bekanntwurden. Etwas später dann: ein Tweet von Assaf und seinem Urgroßvater. Shmuel Gogol.

Gogol war in ganz Israel bekannt. Als Kind war er im Waisenhaus von Janusz Korczak, und irgendwie hat er Auschwitz überlebt. Er konnte Mundharmonika spielen, spielte an der Rampe, mit geschlossenen Augen, damit er niemanden erkannte von den Menschen, die an ihm vorüberzeogen.

Nach dem Überleben kam der Wiederaufbau seines Lebens, Heirat mit einer Überlebenden, Ruthi aus Deutschland, dann gemeinsam Aliyah nach Israel, und der Aufbau des Mundharmonika-Orchesters in Ramat Gan. Ruthi und Gogol suchten nach überlebenden Verwandten, und in den 60er Jahren fanden sie endlich eine verschwundene Nichte wieder.

Diese Nichte war meine spätere Schwiegermutter. Sie war glücklich, in Gogol einen Verwandten ihres verschollenen Vaters gefunden zu haben. Die kleine, durch den Holocaust grausam dezimierte Familie hielt zusammen. Ruthis und Gogols Sohn war ein paar Jahre älter als mein späterer Mann.

Als ich in die Familie einheiratete, bangte mir ein bißchen, die vielen Überlebenden der Familie kennenzulernen, aber das war überflüssig. Alle nahmen mich herzlich auf, und viele Jahre waren die Beziehungen eng. Aber als bei den Gogols Enkelkinder kamen und bei uns Kinder, sahen wir uns nur noch auf Beerdigungen und Hochzeiten. Die alten Gogols starben, Shmuel zuerst, kurz nachdem er mit Yitzhak Rabin in Warschau war, wo er wieder mit seiner Mundharmonika an der Rampe spielte. Diesmal mit seinem jungen Orchester und geöffneten Augen. Ruthi blieb der Familie noch viele Jahre erhalten, reiste auch in ihre Heimat, wo ein Stolperstein für ihre gesamte Familie enthüllt wurde.

Alle paar Jahre fand eine „Gogoliada“ statt, ein großes Familientreffen aller Gogols, wo auch meine Schwiegermutter dabei war.

Kurz – als ich sah, daß ein Urenkel von Shmuel Gogol letzte Nacht im Gazastreifen gefallen ist, war mir klar, daß ich entweder seine Mutter oder seinen Vater kenne. Und daß mein Mann unbedingt zur Beerdigung muß. Also habe ich schnell recherchiert und der Name von Assafs Mutter sagte mir auch, welche Gogol-Tochter es war, die letzte Nacht ihren 22jährigen Sohn verloren hat und ihn mittags begraben muß.

Für mich war der Weg zu weit, um noch rechtzeitig zur Beerdigung anzukommen, aber mein Mann und seine Schwester schafften es. Alle waren da – die Verwandten des verlorenen Vaters meiner Schwiegermutter. Meiner lieben Schwiegermutter, die alle ihre Verwandten liebte, waren diese Angehörigen des Vaters, den sie nie kennenlernen konnte, war dieser Zweig der Familie besonders kostbar. Wir haben sie vor über einem Jahr verloren, ein sehr schwerer Abschied. Und jetzt hat diese Familie, die sich aus Schutt und Asche aufgerappelt hat, und der Familienleben über alles geht, einen so jungen Sohn verloren.

Mein Mann sagt, es waren sehr viele Menschen auf dem kleinen Friedhof, und ein Meer von Fahnen. Wir werden auch zur Shiva fahren.

Was kann man zu so einem Schicksal sagen? Assafs Großeltern sind im Schatten des Holcaust aufgewachsen, der ihre Kindheit bestimmte. Shmuel Gogol konnte mit seinem Sohn nicht darüber sprechen, erst den geliebten Enkelinnen öffnete er sich. Daß eine von ihnen jetzt ihren jungen Sohn verloren hat – dafür finde ich keine Worte.

Ich sage oft, daß sich in jüdischen Familien die Traumata über Generationen die Hände reichen. Das meine ich damit.

Shloshim November 10, 2023, 9:22

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heißt Dreißig, und damit sind die 30 Trauertage gemeint. Im Judentum wird schnell beerdigt, dann kommt die Shiva, die Sieben, die erste Trauerwoche, in der die Gemeinschaft die Sorge um die trauernde Familie übernimmt. Im Trauermonat Shloshim ist die Trauer tief und schwer, viele Männer, nicht nur aus traditionellen Familien, rasieren sich in diesen Tagen nicht. Das normale Leben ist ausgesetzt.

Am Ende der Shloshim treffen sich Freunde und Familie am Grab, und der Grabstein wird enthüllt (gilui matzeva). Und sie treffen sich dann immer am Jahrestag am Grab wieder.

So treffen wir uns als Familie mindestens dreimal im Jahr auf dem Friedhof unseres alten Kibbuz – für die Großeltern, für eine geliebte Tante und meine Schwiegermutter. Wir gehen auch so, jedesmal wenn wir im Kibbuz sind, auf den Friedhof und gehen zu allen Gräbern.

Zweimal im Jahr trifft mein Mann seine alten Freunde von der Armee auf dem Friedhof von Kfar Yehoshua. Den Soldatengedenktag im Mai verbringen sie immer zusammen, zur Erinnerung an den Freund, der 1982 im Libanon durch einen Unfall in der Armee ums Leben kam. Der Freund, Oded, blieb jung, die lebenden Freunde sind inzwischen 60 Jahre alt und bringen ihre Familien mit. Zum Jahrestag des Toten trifft sich die Gruppe dann immer am Freitag vor Rosh HaShana, Oded fiel im Monat Elul, im Herbst.

Odeds Grab ist nah beim Grab seines Onkels, der ebenfalls Fallschirmjäger war und am Mitle-Paß fiel. Oded wurde Fallschirmjäger und trug das Abzeichen der Flügel mit Stolz, das er von seinem Onkel geerbt hatte. Eine Familie wie viele in Israel, unter dem Zeichen der Trauer.

Von Zeit zu Zeit traf die Gruppe sich auch zu anderen Gelegenheiten. Der frühere Commander war Nir Barkat, der in den letzten Jahren zum Gedenktag nicht kommen konnte, aber zum privaten Gedenktag im September immer kam und engen Kontakt zu Odeds Eltern hielt. Auch sie sind nicht mehr am Leben. Aber die Gruppe hält zusammen. Ich habe oft davon erzählt.

Am 7.10. haben zwei der Männer, die mit Yaron als junge Rekruten in den Libanon einmarschiert sind und seitdem oft mit ihm zusammen auf dem Friedhof in Kfar Yehoshua gestanden haben, ihre Söhne bei den Kämpfen im Süden verloren.

Einer davon war Yaron Shai, der in Kerem Shalom fiel, und der vielen Zivilisten an diesem Tag das Leben rettete.

Aus einem Artikel der Times of Israel:

At a funeral for Yaron Shai, son of former economy minister Izhar Shai, Yaron’s brother Ofir slings harsh criticism at the “government of shame,” in a video shared by Channel 13 reporter Raviv Drucker.

“My little brother was killed by murderous terrorists filled with hate, and the one who opened the door for them, with its debased actions, was the government of Israel,” he says, as Economy Minister Nir Barkat looks on stony-faced.

Izhar gehört zu der Gruppe von Soldaten, die zu Odeds Gedenktagen kamen, und Nir Barkat war vor über 40 Jahren sein Mem-peh (Company commander). Beide sind Politiker, aber Nirs versteinertes Gesicht ist mehr als nur eine Reaktion auf Kritik an der Regierung, der er angehört. Eine persönliche Verbundenheit über Jahre steht dahinter.

Segev Schwartz ist der zweite Sohn eines Freundes aus der Gruppe.

Mein Mann ist jetzt zum Shloshim eines dieser jungen Männer aufgebrochen. Wir werden auch weiter zu Odeds Grab fahren, im September, zu seinem persönlichen Jahrestag. Aber am Gedenktag werden wir zu den Gräbern dieser jungen Männer fahren.

Für Odeds Mutter war es immer ein Trost, daß die Freunde ihres Sohns Kinder hatten, die sie auch oft mitbrachten zu den Treffen. Daß das Leben weitergeht, die Familien wachsen und aufwachsen. Es hätte sie schwer getroffen zu wissen, daß nun zwei dieser alten Freunde ihre Söhne begraben mußten in dem endlosen Kampf um Israel, der noch nicht beendet ist.

Vom Aus- und Anschalten November 9, 2023, 23:24

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Seit Netanyahus Wahlsieg vor etwa einem Jahr habe ich alle Nachrichten konsequent ignoriert. Ich wollte einfach nicht die Wortkombination „Minister Smotrich“ oder „Minister Ben Gvir“ hören. Zweimal am Tag habe ich die Schlagzeilen von Ynet überflogen, ob nicht irgendwas vorgefallen ist, das ich hören sollte. Aber ansonsten – völlige Abstinenz.

Das war über Jahre anders. Ich habe immer versucht, so viele Nachrichtenquellen wie möglich anzuzapfen, und habe mich mehr als einmal tüchtig darüber geärgert, wie verzerrt in anderen Ländern berichtet wird. Wie viel Journalisten einfach Ultra-Orthodoxe und Orthodoxe für dasselbe halten, wie naiv sie Propagandalügen nachplappern, wie sie niemals kritisch hinsehen, wenn bestimmte Leute ihnen dreist was vorlügen, und wie sie bei jeder Aussage von offiziellen Stellen Israels mit Konjunktiven und Anführungszeichen operieren.

Diesen Kampf kann man nicht gewinnen. Ich habe immer gesagt und sage es noch: ich möchte keine pro-israelische Berichterstattung. Ich möchte nur pro-Wahrheit. Die Schlüsse kann dann jeder selbst ziehen. Auch in Israel haben wir Meinungsvielfalt.

Ja, und dann kam der 7.10. und die Große Krisenstimmung. Seitdem kann man sich eigentlich nicht mehr leisten, ohne regelmäßiges Konsumieren von Nachrichten durch den Tag zu gehen. Ich höre gern Armeeradio (Galey Zahal) und Reshet Bet, und mein Fernsehkanal der Wahl ist Kan11. Die meisten in Israel sehen Kanal 12, finden Kan11 zu trocken oder zu links, und es gibt auch noch andere Kanäle, die ich gar nicht kenne. Ich höre Kan11 leise im Hintergrund bei der Arbeit, und was ich dort sehe, davon will ich ein bißchen erzählen. (Bei Kanal 12 sieht es ganz ähnlich aus).

Seit dem Schwarzen Shabat (der Name hat sich durchgesetzt) senden alle nur noch Sonderprogramm. Wer sich in andere Realitäten flüchten will, der muß auf Netflix oder National Geographic ausweichen. Auf den israelischen Sendern herrscht Krieg rund um die Uhr. Besorgte Reporter geben ihre Meinung zum Besten, wie es im Gazastreifen, bei uns im Norden, in den Gebieten, in Eilat und in der Diaspora weitergehen wird. Immer wieder unterbrechen Einblendungen von Alarm die Sendungen, dann wird kurz gesagt: „wieder Alarm in Kissufim – kehren wir zu deinem Vorschlag zurück…“, und es wird weiter geredet.

Der Sender deckt viele, viele Unzulänglichkeiten der Behörden und der Armee auf. Und davon gibt es sehr, sehr viele. In den langen Netanyahu-Jahren sind viele Ministerien und Ämter systematisch ausgetrocknet worden. Das Außenministerium ist vollkommen überflüssig geworden, Netanyahu hat alles an sich gerissen, was mit Außenpolitik zusammenhängt. Landwirtschaft? Hat Netanyahu nie interessiert, die Landwirte geben reihenweise auf, und jetzt stehen die Israelis im Supermarkt vergrämt vor billigen türkischen Tomaten, die sie gar nicht kaufen wollen. Was in diesen Jahren mit dem Bildungs- und Erziehungsministerium getrieben worden ist, habe ich schon oft angeprangert. Das letzte Mal, dass dort ein Mensch mit pädagogischem Sachverstand auf dem hirschledernen Sessel saß, war Shai Piron vor vielen Jahren.

Auch nach einem Monat scheinen die Behörden überfordert zu sein, und engagierte Bürger springen ein. Sie kochen für Soldaten, sammeln Spenden für die Evakuierten, organisieren Demos und Aktionen für die Geiseln, und das alles mit oft minimalem Einsatz der dafür zuständigen offiziellen Stellen. Das Fernsehen berichtet über diese Aktionen, stellt die bewundernswerte Fähigkeit der Israelis, in kurzer Zeit ganze Organisationen auf die Beine zu stellen und Nächstenliebe in Aktion umzusetzen, positiv heraus. Dabei sieht der Staat natürlich oft nicht ganz so positiv aus. Und alle warten auf die Untersuchungsausschüsse nach dem Krieg.

Diese Reportagen machen also einen Teil der Sendezeit aus. Berichte über den Fortschritt der Kämpfe im Gazastreifen sind natürlich auch sehr wichtig, aber die Pressezensur macht sich bemerkbar, und man muß sich die Informationen manchmal zusammenreimen.

Ebenfalls sehr wichtig sind die Porträts der Ermordeten, Verschleppten und Gefallenen. Es ist immer so, daß in Israel jeder Gefallene und jedes Terroropfer mit Bild und Namen vorgestellt wird, und Reporter stellen die Opfer in kurzen, eindrücklichen Interviews mit den Angehörigen vor. Dabei sind sie oft sehr empathisch – Yifat Glick hat die Spuren der Kindergärtnerin Dana Bachar aus Kibbuz Beeri verfolgt, hat mit Familie, Kolleginnen, Müttern und anderen Menschen, die sie kannten gesprochen und auch in ihrem Kindergarten gefilmt.

Dana stammte aus dem Kibbuz, in dem ich zuletzt gearbeitet habe, im Norden. Sie wuchs zusammen mit einer Kollegin von mir auf, nennen wir sie Etti, mit der ich im Babyhaus zusammengearbeitet habe. Sie waren gut befreundet, ihr Leben lang, Etti und Dana, und hatten wohl auch einen ähnlichen Stil in der Arbeit mit sehr kleinen Kindern. Das Porträt, das ich im Fernsehen sah, entsprach genau dem, was mir Etti über ihre Freundin erzählt hatte (ich habe sie am Tag nach Danas Beerdigung getroffen).

Hier interviewt die erfahrene, normalerweise recht unerschütterliche Ayala Chasson Danas Witwer. Die Geschichte der Familie, die im Schutzraum ausharrt, wo Mutter und Sohn erschossen werden, der Vater selbst verletzt und die 13jährige Tochter die Rettung übers Telefon einleitet, nimmt Chasson so mit, daß sie anfängt zu weinen und sich für den Rest der Sendung nicht mehr fängt.

Ich weiß nicht, ob das in Deutschland möglich wäre. Ich habe wohl gesehen, daß Anderson Cooper bei einigen Beschreibungen schwer geschluckt hat, auch andere Journalisten. Aber hier in Israel kannten eben auch die Journalisten Opfer persönlich, sie kennen die Orte, an denen die Gräuel geschahen. Da ist es unmöglich, sich zu distanzieren. Besonders in den ersten Tagen, als ständig neue Geschichten bekannt wurden, war das Grauen überwältigend stark.

Das Ziel der israelischen Fernsehsender ist, jedem Opfer ein Gesicht zu geben. Nicht einfach bei so vielen Toten und so vielen Geiseln, und nun kommen leider täglich auch Soldaten hinzu.

Die Namen der Gefallenen werden erst bekanntgegeben, wenn die Familien informiert sind. Gleichzeitig wird durchgegeben, wann und wo die Beerdigung stattfinden wird. Ich weiß, ich weiß, in Deutschland alles undenkbar – der Datenschutz! die Privatsphäre! Aber da merkt man, daß das Fernsehen hier eine andere Funktion hat als in Deutschland. Israelis begreifen sich als Familie, und es ist wichtig, alle Familienmitglieder zu informieren, so daß sie zu den Beerdigungen gehen können, die ja oft am selben Tag, spätestens einen Tag später, stattfinden. Und auch bei den Beerdigungen wird gefilmt, außer, die Familien wollen es nicht. Aber oft sind die Familien froh, daß per Fernsehen andere von ihren Lieben erfahren.

Bei mehreren Beerdigungen in der letzten Zeit habe ich gesehen, daß bekannte Sänger über dem Grab ein Lied gesungen haben, das dem Toten wichtig war. Sie machen das freiwillig, und sind meist sehr ergriffen, das läßt einfach niemanden kalt. (Moshe Peretz und Ivri Lider, selbst eine Ikone der Schwulen in Israel, auf der Beerdigung des schwulen Soldaten Sagie, falls jemand Beispiele sehen möchte).

Ja, so geht das also den ganzen Tag. Analysen der Aussagen von Biden und Kritik an Netanyahu, Ansagen von Raketen-Alarmen, emotionale Porträts der Toten und Geiseln und ihrer Familien, Beerdigungen, eingehende Diskussionen über Taktik und Strategie der Hamas, der Hisbollah, aber auch der IDF, harte Debatten über ethische Entscheidungen, alles rund um die Uhr. Und oft sehr, sehr kontrovers.

Spätnachts, wenn die Nachrichten dünner werden, gibt es dann Versuche, die Atmosphäre aufzulockern, mit halbwitzigen Late-Night-Shows und Neuauflagen beliebter Satiresendungen, die aber nicht wirklich witzig sind. Keiner will wirklich lachen. Die Satire ist zu nah am echten Leben, ich weiß nicht, wer das guckt.

Eretz Nehederet, Ein wunderbares Land, versucht sich an der BBC, aber die Grenze zwischen Realität und Satire ist kaum erkennbar. Ich sehe so viele absurd feindselige Interviews britischer, amerikanischer und irischer Sender mit Israelis, daß ich darüber nicht wirklich lachen kann.

Die Realität ist so plump, daß die Satire da einfach nicht mithalten kann.

Zu Anfang, als das Gefühl der ständigen Bedrohung von allen Seiten überwältigend stark war, konnte ich noch nicht filtern. Jetzt gucke ich seltener rein. Nur wenn meine Alarm-App anschlägt oder ich den Stimmen im Hintergrund anhöre, daß sich etwas ereignet hat. Oder wenn die Artillerie bei uns sich gar nicht mehr beruhigen will. Dann schalte ich wieder ein. Aber auch wenn ich den Apparat ausschalte – abschalten von der Situation geht nicht.

Wellenförmig November 6, 2023, 22:21

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sind diese Tage und voller Sorgen und Ängste, die man sonst begräbt, zurückdrängt oder nicht spürt. Die Angst um die Soldaten und Soldatinnen, die jetzt da sind, wo niemand hin möchte – die durch verminte Gassen gehen und den Spuren des inkarnierten Bösen folgen, um es zu vernichten – dabei jederzeit in Fallen gelockt werden können – während die ganze Welt nur um die menschlichen Schutzschilde bangt, die mir auch ja auch leidtun – diese Angst kennen alle in Israel. In Krisenzeiten wird sie ganz stark, unerträglich stark, wenn ich an die denke, die ich kenne, und für die die normale Welt noch viel krasser verschwunden ist als für uns hier.

Dann die Angst um die Geiseln. Es war immer unser größter Albtraum. Hier im Norden wurden ja die Tunnel der Hisbollah aufgedeckt, in denen zur Vorbereitung auf Geiselnahmen kleine Buchten mit Betäubungsmitteln gefunden wurden (dieses Detail habe ich im Fernsehen vor vielen Jahren gesehen und nie vergessen). Daß es so viele sind – so verletzliche Geiseln – unerträglich, unerträglich, ich möchte die Gedanken wegschieben, kann es aber nicht.

In solchen Situationen wünsche ich mir, nicht so verdammt mitfühlend zu sein. Warum kann ich nicht ganz einfach sagen: okay, schlimm schlimm, aber meiner Familie geht´s gut und helfen kann ich sowieso nicht, wo ist mein Bier? Nein, das geht nicht. Die Gesichter der Geiseln tauchen auf, ob ich es will oder nicht, egal was ich mache, die Namen, die Geschichten. Die Medien hier geben allen Familien eine Stimme, und ich schalte nicht ab, auch wenn ich den Schmerz in den Augen der Angehörigen kaum aushalten kann. Aber die Mutter von Ella und Dafna muß es aushalten, damit zu leben, daß ihre Mädchen entführt sind, dann werde ich es wohl aushalten können, ihr zuzuhören. Sie muß sprechen, sie muß präsent bleiben, sie braucht unsere unbedingte Loyalität.

Dann erinnere ich mich daran, wie das ganze Land für Gilad Shalit auf den Beinen war. Ich war dabei, als im Nachbarort Mitzpe Hila die Shalits ihr Haus verschlossen und die erste Etappe auf ihrem Marsch nach Jerusalem gingen. Eine lange, lange Karawane von Menschen. Für einen einzigen Soldaten hat Israel dann 1027 Verbrecher freigelassen, darunter auch Sinwar, der die Massaker vom 7. Oktober geplant und geleitet hat. War es richtig, diese Freilassung zu befürworten? Viele Menschen haben sie mit dem Leben bezahlt. Aber wir konnten Gilad nicht in Gefangenschaft lassen.

Geiseln, Soldaten, Soldaten, Geiseln, die Sorge. Dann die Trauer um die Ermordeten und Verletzten, aber auch die Heldinnen und Helden dieses schwarzen Tags. Ich nehme alle Informationen auf und weiß, in welche Kammern meines Gedächtnisses die Gesichter und Geschichten und Namen landen. Dort, wo mir die Terroropfer unvergeßlich eingebrannt sind. Ich bin noch keine 40 Jahre hier und habe doch die Erfahrungen der Terrorjahre und -wellen in meinem Gehirn und Körper gespeichert. Dieser Teil meiner Erinnerung wird nicht durch positive Erlebnisse überschrieben, vergessen kann ich sie nur, wenn eine Krankheit mein Gehirn zerstört. Solange ich gesund weiterlebe, ist der ganze Schrecken noch da. Und so geht es allen, die ich kenne.

Das ist also das Grundempfinden – Gedenken, Ängste, die Gier nach neuen Informationen.

Dazu kommt dann „die Situation“ hier oben im Norden. Und die Wellenförmigkeit der Tage. Wenn kein Alarm in der Gegend ist, keine Artillerie zu hören ist, weder Iron Dome noch Einschläge auf unbewohntem Gebiet (für die Iron Dome nicht eingesetzt wird), dann ist es hier immer noch unbeschreiblich schön. In den Wochen des unfreiwilligen Urlaubs habe ich mich auf das Haus konzentriert (nein, der Garten liegt noch immer in Fritten, denken wir da mal nicht dran), auf viele liegengebliebene Aufgaben, und ich habe auch gemalt und gezeichnet. Weil ich trotz Kunststudiums (für Lehramt, aber mit sehr guten Lehrern) nicht wirklich gut bin, male ich nur mit Anlaß, für andere.

Wenn ich male oder einen Schrank aufräume, vergesse ich „die Situation“ beinahe. Das bedrückte Gefühl in der Brust ist noch da, aber ich weiß nicht, warum, und brassele einfach weiter. Das dauert nie lang – dann bricht es wieder hervor, und ich weiß, warum es mir so mies geht. Ich gehe alle geliebten Menschen durch, wo sind sie? wann habe ich von ihnen gehört? machen die Kinder mir was vor? wer hat gerade Alarm? wie geht es Schwiegervatern? der Nichte in der Armee?

Und was geht vor? Hab ich was verpaßt? Was sagt das Radio? Was Kanal Kann11, was Kanal 12?

Dann wende ich mich wieder meinen Aufgaben zu, kann vielleicht sogar arbeiten. Ein paarmal habe ich mitgeholfen, Kinder hier im Moshav zu betreuen, das war schön. Wir haben uns mit den Kindergartenkindern getroffen, wir nehmen kleine Clips für die Kinder auf, und ich freue mich, wenn die Mütter Clips zurückschicken von ihren Kleinen, wie sie aufs Telefon patschen und Iiiija rufen. Ich unterrichte auch ein bißchen (hoffentlich bald wieder mehr) und bereite weiter Vorträge vor, falls das Semester je anfangen sollte.

Und dann höre ich in der Entfernung Lärm und Unruhe. Sofort die App vom Homefront Commando überprüfen, und dann höre ich auch schon die Artillerie. Nicht nur die, die uns gegenüber auf dem Hügel installiert ist und unsere Fenster wackeln läßt. Sondern auch weiter entfernte, deren Wummern durch den Wadi zu mir kommt. Manchmal Alarm (bei uns seltener, aber ich höre auch Alarm aus anderen Dörfern), oder Hubschrauber, oder Flugzeuge. Drohnen sowieso. Dann gehen die Wellen hoch, besonders wenn ich allein bin.

Es ist gut, daß Eli vom Sicherheitsteam so eine ruhige, tiefe Stimme hat. In der Whatsappgruppe des Moshavs gibt er Informationen von der Armee weiter, die erst viel später in den Medien erscheinen. Nein, keine Geheiminformationen, nichts Konkretes, aber ich weiß trotzdem, wie die Lage ist. Wenn er sagt, bei uns alles okay, mach ich normal weiter. Wenn er sagt, in der Nähe des Schutzraums aufhalten, gehe ich rein, lasse aber die Tür offen. Und wenn Alarm kommt (wie gesagt, bei uns seltener), mach ich die Tür zu. Wenn Alarm wegen eindringender Terroristen gegeben wird (Gott sei Dank, war nur zweimal), dann verriegele ich auch die Tür des Schutzraums.

Irgendwann ist dann wieder Stille, und die Welle geht runter auf Normalstreß. Dann stehe ich wieder auf dem Deck, bewundere, wie schön es hier ist, und wie friedlich. Noch ist es warm, ich trage Sommerkleider und bin barfuß, aber nachts wird es kühl. Nachts sehe ich auch, daß der Moshav leer ist. Keine Karaoke-singenden Touristen mehr, alles ist still und dunkel. Manchmal holen wir das Teleskop raus und gucken Albireo an. Aber selten. So richtig nutze ich diese Zeit der Dunkelheit und Stille nicht.

Einen Vorteil haben die Nächte: ich sehe den Lichtblitz der Artillerie, bevor der Krach kommt.

Jeden Tag eskaliert die andere Seite. IDF reagiert. Heute hat Hamas Raketen geschossen, erstmals bis Kiriat Ata und Kiriat Bialik. 30 Raketen. Hamas im Libanon und nicht Hisbollah – wenn sich die Hamas dazu bekennt, wie heute, ist das ein retardierendes Element, denn sie ist hier nicht der wahre Feind. Aber so viele Raketen und bis weit in die Bucht von Haifa – das ist ein eskalierendes Element. Wie tariert die Armee ihre Reaktion darauf? Ich höre auf die Artilleriegeschosse, horche, ob ich Flugzeuge höre und in welche Richtung sie fliegen. Und daraus ziehe mich meine Schlüsse.

Eine Eskalation im Norden würde bedeuten, daß die Armee und das Land bis an ihre Schmerzgrenze gehen müßte. Weitere Dörfer räumen, mehr Armee hier hin, das bedeutet weitere wirtschaftliche Einbrüche, weitere eingezogene Reservisten, und wie lange halten wir alle das aus? Will die Hisbollah uns in einen Erschöpfungskrieg (milchemet hatasha) ziehen? Sehr wahrscheinlich. Also müssen wir resilient sein. Ja, auch ich.

Wenn es so bleibt wie jetzt, können wir das aushalten. Aber geht das überhaupt? Wie lange kann eine instabile Situation bestehenbleiben? Und was ist mit den Geiseln? was mit den Soldaten? wo sind die Kinder?

Und schon steigt die Welle wieder. Bisher ist mir noch keine über dem Kopf zusammengeschlagen.

Ein Interview November 3, 2023, 11:29

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Vor zwei Wochen hat die Lokalzeitung meines Heimatorts mich interviewt. Der Titel ist nicht von mir. Ständige Angst würde ich es nicht nennen. Eher ein Unbehagen im Hintergrund.

Guten Morgen, ihr Lieben, November 3, 2023, 9:22

Posted by Lila in Land und Leute, Persönliches.
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ihr habt lange nichts von mir gehört, aber ihr habt mich nicht vergessen, und dafür danke ich euch sehr. Ich bin vor ein paar Jahren, als das Bloggen zu anstrengend wurde, halbherzig auf Twitter umgestiegen, und eine Weile habe ich recht viel dort geschrieben. Aber als vor etwas über einem Jahr Netanyahu nicht nur wiedergewählt wurde (ich kann Leute verstehen, die ihn gewählt haben, um einfach das Karussell der Neuwahlen zu stoppen), sondern eine katastrophale Truppe von Ignoranten, Nichtskönnern und Fanatikern in die Regierung holte, bin ich verstummt. Das war nicht mehr mein Israel, die Gesetze, die sie auf den Weg brachten, fand und finde ich einfach nur furchtbar.

Ich habe mich in Arbeit gestürzt und mein Mann und ich haben ernsthaft erwogen, das Land zu verlassen. Keine einfache Entscheidung in unserem Alter, und wir lieben Israel und unsere kleine Ecke, in der wir uns eingerichtet haben. Ihr wißt es. Viele meiner Freunde waren sehr engagiert im Kampf gegen die Entscheidungen der Regierung, und eigentlich haben mich nur noch die Bilder von den Demonstrationen hier gehalten.

Dann kam der 7. Oktober.

Dieser Tag war eine Wasserscheide im Leben aller, die ich kenne, mit all den Gräueln, die man aus Holocaust-Erzählungen kannte, aber auch aus den vielen, vielen Terror-Massakern, die wir in den letzten Jahrzehnten erleben mußten. Der unverminderte, mörderische und unvorstellbar grausame Haß, dem Israel schon vor der Staatsgründung ausgesetzt wurde, dazu die Bereitschaft vieler Menschen im Westen, das verlogene Narrativ zu akzeptieren, das diesen Haß scheinbar rechtfertigt – das alles steigerte sich zu einer Orgie der Gewalt gegen Israelis, Juden und jeden, der dazugerechnet wird.

Wir leben seitdem in einer Welt, in der Albträume wahr werden.

Der 7. Oktober – ich erzähle euch einfach mal, wie wir ihn erlebt haben. Ich hatte einen Tag vorher meinen letzten Tag im Kindergarten. Obwohl ich dort sehr glücklich war und die Arbeit mit Kindern nach wie vor liebe, hatte ich das Gefühl, ich bin doch zu alt dazu und sollte mich lieber wieder auf das Unterrichten von Kunstgeschichte konzentrieren. Ich habe ja diese zwei professionellen Standbeine und meine Woche war aufgeteilt in FH und Kindergarten, vielleicht eine ungewöhnliche Situation. Der Plan war also, mich beruflich wieder mal neu zu orientieren und der Shabat war als Atempause geplant.

Um 6.30 morgens tranken wir gerade unseren Morgenkaffee, als uns Quarta anrief, die in einem Vorort von Tel Aviv lebt. Sie sagte leise: „Mama, hier ist Alarm“. Sie war allein zuhause, ihr Freund und ein Mitbewohner waren nicht da, und einen Schutzraum hat sie nicht.

Quarta hat viel mitgemacht, seit sie in Tel Aviv lebt. Sie hat allein im Treppenhaus gestanden, als Tel Aviv bombardiert wurde. Sie hat den Angriff auf ein Cafe mitangehört, von ihrer kleinen Wohnung am Dizengoff Boulevard, und sich stundenlang eingeschlossen, während die Polizei die Gegend durchkämmte. Damals sind wir nicht zu ihr gefahren, weil mein Mann meinte, es ist sowieso alles abgeriegelt und wir kommen nicht durch.

Diesmal bin ich also mit dem Kaffee in der Hand und in Hausklamotten aus dem Haus gerannt, zum Auto, und habe Yaron gezwungen, sofort nach Ramat Gan zu fahren, um Quarta abzuholen. Er hatte Einwände, wer ist so wahnsinnig, in eine Gegend unter Beschuß zu fahren?, aber ich habe nur gesagt: wer ist so wahnsinnig, seine Tochter in einer Gegend unter Beschuß zu lassen?, und wir fuhren los. Den Kaffee haben wir mitgenommen.

Im Radio lief ein Alarm nach dem anderen durch. Uns war schon klar, daß das kein „normales“ Ereignis ist, daß etwas vorgeht. Wir waren schon kurz vor Ramat Gan, als Quarta uns anrief. „Kommt nicht! Es sind Terroristen aus dem Gazastreifen nach Israel eingedrungen, sie erschießen die Menschen auf den Straßen, ich will nicht, daß euch etwas passiert!“ Wir haben sie beruhigt und gesagt, daß wir zu ihr kommen und sie ihre Taschen packen soll.

In der Famiien-Whatsappgruppe schickten inzwischen auch Tertia und Secundus besorgte Berichte über Gemetzel im Süden, über Hunderte von Terroristen, die auf Autos und Menschen schießen. Ich habe zurückgeschrieben, daß es immer viele Gerüchte gibt und wir Ruhe bewahren müssen, bis wir mehr wissen.

Wir sind unterwegs am Denkmal für die von den Briten hingerichteten Widerstandskämpfer vorbeigekommen, einem Werk von Chana Orloff. Der kämpfende Löwe von Juda, klein, aber sehr entschlossen. Am liebsten wäre ich aus dem Auto gesprungen und hätte ein Foto gemacht, aber mir war schon klar, daß das nicht der richtige Moment war.

Quarta haben wir dann schnell aufgepickt, und wir waren noch in Ramat Gan, als die Sirenen wieder heulten. Raus aus dem Auto, weg von der Straße, hinter einem Mäuerchen hingekauert, Quarta in der Mitte, und Iron Dome zugeguckt, wie es eine Rakete zerlegte. Nach zehn Minuten wieder ins Auto und weitergefahren. Quarta war genauso ruhig wie wir, weil wir zusammen waren und auf dem Weg in den Norden.

Inzwischen schickten die Kinder mir die ersten Bilder von den Massakern im Süden. Quarta war am Telefon mit ihren Freunden, von denen einige auf einer Rave-Party in Re´im waren und nun um ihr Leben rannten. Die Freundin ihres Mitbewohners hielt sich in einem Wäldchen versteckt, der Mitbewohner wollte sie retten, der Freundeskreis war gespalten, was man nun tun sollte.

Im Radio kamen inzwischen auch die ersten Berichte, und überall war die große Frage: wo ist die Armee? wo ist die Armee? WO IST DIE ARMEE???

Wir kamen zuhause an, schalteten sofort den Fernseher an, und während die Horrornachrichten einliefen und sich langsam ein Bild der Katastrophe abzeichnete, rüsteten wir den Schutzraum aus. Ich fing wieder an zu twittern, einfach um zu teilen, wie sich unser Leben jetzt anfühlte.

Danach verschwimmen die Tage. Schulen und Kindergärten wurden sofort geschlossen, die ersten Angriffe auf die Nordgrenze begannen, das normale Leben war vorbei. Ich meldete mich bei der Leiterin des Erziehungsbereichs in dem Kibbuz, wo ich gearbeitet hatte, um ihr zu sagen, daß ich gern bereit bin, wieder mitzuarbeiten, wenn die Kindergärten öffnen, und auch in der Zwischenzeit alles tun werde, um den Kindern die Situation zu erleichtern. Ich nehme regelmäßig kleine Videoclips für die Kinder auf und wir haben auch immer wieder ZoomKonferenzen. Am Ende der ersten haben wir zusammen HaTikva gesungen.

Quartas und Tertias Jobs lösten sich in Luft auf, und Secundus´ Studentenjob (er ist im letzten Jahr seines MA-Studiums) wurde sehr, sehr intensiv. Mein Mann fährt weiter jeden Tag zur Arbeit, aber für mich ist der Semesterbeginn weggefallen und keiner weiß genau, wie es weitergehen soll.

Über das Grauen, das uns befallen hat, kann ich kaum schreiben. Jeder in Israel kennt Betroffene. Wir sind Kibbuzniks, auch wenn wir jetzt in einem Moshav wohnen. Aber wir kennen andere Kibbuzniks. Die Vorstellung, daß in diese kleinen, friedlichen, offenen Welten, wo Friedensaktivisten und Idealisten leben, große Familien in bescheidenen Häusern, die nie abgeschlossen werden, wo arabische Mitarbeiter herzlich willkommen geheißen werden und wo man stolz ist, Menschen aus dem Gazastreifen Arbeit und Brot zu geben – daß dort Terroristen von Haus zu Haus gezogen sind und ganze Familien zu Tode gefoltert haben, ist so schmerzhaft, daß ich es nicht ertragen kann und trotzdem ständig vor Augen habe.

Die jungen Menschen auf der Party. Beduinische Familien. Senioren an einer Bushaltestelle, die auf ihren Ausflugsbus warteten. Thailändische Landarbeiter. Filipinische Pflegekräfte mit den Holocaust-Überlebenden, die sie betreut hatten. Soldaten und Soldatinnen. Brutal ermordet von lachenden Terroristen, die ihre Taten live streamten und sich damit brüsteten.

Zum Kapitel „wo war die Armee???“ werde ich mal gesondert schreiben, wir wissen inzwischen ziemlich gut, wie es dazu kommen konnte, daß über Stunden niemand den Menschen in Sderot und Nir Oz half.

Wenn in Israel ein Anschlag ist, verbreitet sich eine ganz unheimliche Stimmung. Wir schalten auf pigua-Modus um. Wer ist betroffen, wie können wir helfen, was genau ist passiert, wann wird wer wo begraben? Die Nachrichten berichten, wir warten auf die Namen der Opfer, wir rufen Freunde an. Diese öffentliche Teilhabe an der Trauer hilft, den Schock zu verarbeiten. Kerzen und Blumen werden am Anschlagsort niedergelegt, und wenn es ein Cafe oder Restaurant war, gehen viele Leute hin, um zu zeigen, daß wir diese Orte nicht meiden.

Wir sind jetzt seit vier Wochen im pigua-Modus. Noch immer werden täglich Tote identifiziert, das Bild überwältigenden Grauens ist inzwischen unerträglich deutlich. Ich sehe in den Nachrichten Bilder von Familien, die ich kenne, und die grausam dezimiert sind. Ich habe seitdem noch niemanden getroffen, der nicht mindestens drei betroffene Familien kannte. Die Welt ist längst mental und medial weitergezogen, für uns ist der pigua, der Terrorangriff, noch nicht vorbei. Noch sind nicht alle Toten identifiziert und begraben. Und normalerweise finden jüdische, aber auch drusische, beduinische und muslimische Begräbnisse sofort statt, oft noch am selben Tag, spätestens am nächsten Werktag.

Dann das absolute Schrecknis der Geiselnahmen. Wie die Totenzahlen steigt auch die Zahl der Geiseln noch immer an, je mehr Tote identifiziert sind und je mehr Information gesichtet wird. Die Gesichter der Geiseln begleiten jeden von uns. Ihr kennt die Namen auch inzwischen. Daß die Plakate mit den Bildern der Geiseln weltweit von Unmenschen mit verschlossenen Gesichtern systematisch abgerissen werden zeigt uns, wie groß und moralisch blind der Haß gegen Israel, gegen Juden und Menschlichkeit ist.

Riesige weltweite Demos gegen Israel (während kein Mensch für die Million Afghanen, die Pakistan soeben vertrieben hat, auf die Straße geht). Lügenhafte Berichterstattung (Krankenhaus bombardiert! wer glaubt der Hamas? ALLE glauben der Hamas). Davidsterne auf Häuser gesprayt, wo Juden leben. Angriffe auf Juden und Jüdinnen in aller Welt. Albträume werden wahr, die Gülle sprudelt aus allen Kanälen.

Dazu kommen für uns im Norden die Befürchtungen, die Hisbollah könnte in den Krieg einsteigen. Nasrallah wird uns wohl in wenigen Stunden den Krieg erklären, den er auf kleiner Flamme bei uns im Norden schon seit vier Wochen führt.

Ich habe mich bisher auf Yarons Einschätzung verlassen, daß unser Moshav zu klein und abgelegen ist, um ein wertvolles Ziel für Raketen zu bilden. Wir können zu seinem Vater übersiedeln, er hat eine Einliegerwohnung mit Schutzraum, aber wir wollen die Katzen nicht alleinlassen (ich füttere auch die Nachbarkatzen mit, seit die Nachbarn den Moshav verlassen haben) und obwohl meine Evakuierungstasche gepackt ist, wollen wir hierbleiben, bis die Armee uns mitteilt, daß wir weggehen müssen (dann werden wir die Katzen zu Secundus bringen).

Das Warten auf die Bodenoffensive war schwierig, aber ich verstehe, warum die Armee erst einen detaillierten Plan gemacht hat, der jetzt Schritt für Schritt durchgeführt wird.

Wir hatten hier Alarme und hören ständig die Artillerie, die nach einem Angriff aus dem Libanon zurückfeuern. In der Luft hört man immer das leise Summen von Drohnen. Oft Hubschrauber und Flugzeuge. Sonst war es so ruhig hier.

Im Moshav sind viele Soldaten untergebracht. Vor ein paar Tagen fuhren Panzer bei uns vorm Haus vorbei. Der ganze Norden wimmelt von Soldaten.

Das Land steht zusammen. Arabische Hausfrauen backen und kochen für die Soldaten. Eine Gruppe von Müttern und Erzieherinnen, darunter auch ich, organisieren Aktivitäten für die Kinder, die noch nicht evakuiert sind. Alle sammeln Kleider und Dinge für den täglichen Bedarf für die Familien, die ihr Zuhause verloren haben. Städte, Dörfer, Moshavim und Kibbuzim sind evakuiert. Der Staat erfüllt seine Aufgaben nicht, aber Bürger springen ein. Es werden viele, viele harte Fragen gestellt werden, wenn dieser Albtraum vorbei ist.

Die Houthis beschießen Eilat, wo viele der Flüchtlinge aus dem Süden untergebracht sind, mit Langstreckenraketen. Sie haben uns den Krieg erklärt. Jemenitische IDF-Soldaten antworten darauf mit vielen Clips, auf dem sie jemenitische Volkstänze vorführen. Die jemenitischen Juden sind stolz auf ihre Traditionen und erinnern sich noch sehr genau an die Vertreibung aus dem Jemen.

Die Welt teilt sich wie das Rote Meer vor Moses Stab. Jeder hat eine Meinung, viele davon unqualifiziert, wie wir es kennen. Menschen, die das palästinensische Narrativ vom friedfertigen, verzweifelten, hilflosen Opfer geschluckt haben, versuchen, damit umzugehen, wie die palästinensische Gesellschaft Gewalt verherrlicht (großer Respekt vor den Einzelstimmen, die anders sind). Der westliche Reflex, bei jeder Begegnung mit Palästinensern erstmal zum Portemonnaie zu greifen, ist ungebrochen, wie von der Leyen und Baerbock wieder demonstrierten – nicht einmal die kleinste Bedingung haben sie daran geknüpft. Während 242 Geiseln in der Hand der Hamas sind und tägliche Dutzende Raketen aus dem Gazastreifen auf unsere Zivilisten fliegen, alimentieren europäische Regierungen und EU die Hamas indirekt.

Während ich schreibe, donnert draußen die Artillerie. Ich weiß nicht, was heute weiter passiert, ob heute mit Nasrallahs Erklärung der Krieg hier weiter eskaliert und was das bedeuten wird. Meine Kinder sind über Israel verteilt, wir sind allein mit den Katzen hier im Norden, nur ca 5.5 km von der Grenze entfernt. Der Schutzraum ist vorbereitet, wir haben auch eine geniale Konstruktion meines Mannes, um die Tür zu verriegeln, falls Terroristen versuchen sollten, in unsere Dörfer einzudringen.

Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich die Klamotten im begehbaren Kleiderschrank wieder aufsammeln muß, die die Katzen auf den Boden fegen, wenn sie vor Schreck über die Artillerie hinter Yarons Klamotten flüchten.

Der Ablauf ist immer gleich. Erst höre ich den Beschuß aus dem Libanon. Dann kommen zeitgleich die Artillerie-Antwort und eine Whatsapp-Benachrichtigung des Sicherheitsteams unseres Moshavs. Später höre ich darüber in den Nachrichten, nur eine kurze Nachricht. Der Süden wird viel intensiver beschossen, aber auch in Haifa, Zfat und Eilat war schon Alarm. Das Land ist von allen Seiten bedroht.

Was passiert, wenn die Palästinenser der PA und israelische Araber in großem Stil den Aufstand machen, mag ich mir nicht ausmalen. Es ist möglich. Mehfrontenkrieg mit Intifada. Das ist das Szenario von 1948. Der Unabhängigkeitskrieg ist noch nicht vorbei.

Ich bin kein mutiger Mensch. Meine einzige Berührung mit dem Militär war der Name der Straße, in der ich großgeworden bin: Artilleriestraße. Durch meine Ehe und die Entscheidung, in Israel zu leben und eine Familie zu gründen, habe ich mehr Erfahrung mit Militär, Krieg und Kampf gewonnen, als ich je wollte. Jetzt finde ich mich in einer Situation wieder, in der ich tagelang allein bin, während mein Mann normal zur Arbeit fährt, und mich meinen Ängsten stellen muß. Sorgen um die Kinder, Angst um die Geiseln, Trauer um die verlorenen Menschen, Zorn auf die Menschen, die ihre Augen davor verschließen, was Israel, das Volk Israel, der Staat Israel und das Land Israel (am yisrael, medinat yisrael, eretz yisrael) seit Jahrhunderten durchmachen. Und wie das Volk Israel immer wieder mit Menschlichkeit und Intelligenz reagiert. Ja, auch hier gibt es shmockim, aber im Großen und Ganzen feiert Israel das Leben, das Überleben und das Weiterleben mit Gedenken.

Deswegen bin ich gekommen, und deswegen bleibe ich.

Corona, Corona, wer will es noch hören? Juli 2, 2020, 21:24

Posted by Lila in Persönliches.
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Mir tun alle Frauen leid, die mit dem edlen, goethisch klingenden Vornamen Corona geschlagen sind – falls es noch welche gibt – denn niemand kann das Wort mehr hören. Nachdem wir Anfang, Mitte Mai gedacht hatten, daß wir vielleicht das Schlimmste hinter uns haben, steigen die Zahlen jetzt irrsinniger an als im März oder April. Aber die Wirtschaft läuft wieder fast normal, d.h., wer Arbeit hat, der arbeitet.

Mir persönlich rückt dieses Virus immer näher auf den Pelz. Ich kenne mehr und mehr Leute, die mit Kranken in Berührung waren und sich nun in Isolation begeben müssen. Zweien davon bin ich sogar relativ nahegekommen in der letzten Zeit, also „nahe“ in Zeiten sozialer Distanz. Tun kann man nicht viel, außer den Hygiene-Ratschlägen Folge leisten, was ich natürlich genau wie alle Menschen meiner Umgebung tue.

Ein Wiedersehen mit meinen Schwiegereltern oder gar meiner Mutter scheint unendlich fern zu liegen. (Post aus dem Ausland habe ich seit vielen Monaten nur noch äußerst spärlich erhalten – meine Geburtstagsgeschenke sind vermutlich verlorengegangen, sonst wären sie doch schon hier, oder?) An Mundschutz bei Hitzewelle haben wir uns fast schon gewöhnt. Gegen das viele Putzen mit Desinfektionsmittel kann man kaum ancremen. Der innere Sorgen-Wasserstand steigt, doch er ist auch abstrakter geworden – aus Bildern und Geschichten sind Zahlen, Tendenzen und Theorien geworden.

Als ich heute in Nahariya an der Ampel stand und um mich herum fast nur noch Leute mit Mundschutz sah, merkte ich, wie sehr ich mich schon dran gewöhnt habe.  Die Gewöhnung befremdet mich mehr als der Anblick selbst. Täglich bekomme ich per Whatsapp vom Ortsvorsteher einerseits, der Vorgesetzten andererseits die neusten Anweisungen und Informationen zugeschickt. So schnell werden wir diese Geschichte wohl nicht los.

Die zweite Welle Juni 2, 2020, 20:16

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen, Persönliches.
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steigt und rollt. In Schulen und teilweise auch Kindergärten gibt es zunehmend neue Corona-Fälle. Viele Kinder sind in Quarantäne, betroffene Schulen geschlossen, und keiner weiß, wie es nun weitergeht. In unserem Kindergarten fangen wir an, schrittweise wieder gemeinsame Aktivitäten einzuführen, an denen beide Gruppen teilnehmen, aber mit minimalem Kontakt. So haben wir unseren ersten Ausflug durch den Kibbuz gemacht, aber die Gruppen gingen getrennt. Es war trotzdem schön, natürlich haben wir Familienmitglieder der Kinder getroffen, das ist im Kibbuz eben so.  Keiner weiß genau, wie es weitergeht, wir bekommen jeden Tag neue Anweisungen und wir achten sehr auf Hygiene, Distanz und Mundschutz. Meine ganze Putzteufelei werde ich im Kindergarten los. Wo eine Kinderhand hingefaßt hat oder hätte hinfassen können, wischen und desinfizieren wir. Es wäre ein Albtraum, wenn es bei uns eine Ansteckung gäbe.

Wir servieren das Essen jedem Kind einzeln, mit Handschuhen, auf desinfizierten Tischen mit Papier-Unterlagen auf Einmal-Geschirr, was wir alle für Quatsch halten (die Spülmaschine spült schließlich sehr heiß, d.h., unser Geschirr müßte virenfrei sein), aber einhalten müssen. Die Eltern dürfen noch immer nicht in den Kindergarten rein, und das ist eigentlich gut, denn so ist der Kindergarten eine Art Arche Noah, und die Abschiede und Wiedersehensfeiern spielen sich auf der Eingangsterrasse ab. Die meisten Abschiede morgens sind vollkommen problemlos, und die Kinder spielen, malen und erzählen vergnügt den ganzen Tag über. Die Sorgen der Erwachsenen scheinen sie nicht zu berühren, trotzdem bin ich sicher, daß sie sich immer daran erinnern werden, an diese ganzen neuen Rituale.

Ich habe weiterhin Spaß daran, ihnen einfach zuzuhören. Heute ging es an „meinem“ Tisch darum, wie komisch behaart Erwachsene sind. Die Kinder tauschten ihr Befremden darüber aus und sprachen dabei über Erwachsene wie über eine fremde, etwas bedauernswerte Spezies.

Gestern fiel für eine Stunde der Strom aus, es war über Mittag recht dunkel im Kindergarten und die Atmosphäre ganz anders, ganz still. Alle wurden ziemlich müde, wir auch, aber es war so friedlich. Das helle künstliche Licht putscht doch ein bißchen auf. Wir haben uns daran erinnert, wie es früher war, als in Kindergärten noch Mittagsschlaf gehalten wurde. Wie die Kinder in ihren Betten rumkasperten, während wir todmüde versuchten, sie zur Ruhe zu bringen. Ich weiß noch, welche Kinderschallplatten liefen. Wenn sie dann eingeschlafen waren, mußten wir sie fast schon wieder wecken, damit sie um vier abholfertig waren. Nein, der Mittagsschlaf fehlt den Kindern nicht, aber eine ruhigere Stunde nach dem Mittagessen ist uns allen lieb. Und dann kamen Freudenrufe, als Licht und Klimaanlage wieder ansprangen.

Gleichzeitig mit den Sorgen über ein Corona-Comeback läuft immer noch das Projekt „Normalität, kehr doch wieder“, und ich werde wieder zu Vorträgen eingeladen, die im Februar und März ausfielen. Tagsüber lasse ich mir also Bananen-Suppen aus Sand und Blättern servieren und desinfiziere kleine Stühle, abends bereite ich Vorträge vor, unterrichte außerdem weiter online, was auch vorbereitet werden muß. und habe keine Ahnung, wie es im Herbst weitergehen soll. Es wird mir jedenfalls seltsam vorkommen, in zwei Wochen wieder vor einem echten Publikum zu stehen – soll ich einen Mundschutz benutzen? das Mikrofon vorher und nachher desinfizieren? wird das überhaupt stattfinden?

Ich hatte gedacht, diese Zeit der Merkwürdigkeiten wäre vielleicht fast vorbei. Aber es könnte noch eine Weile dauern.

 

Wieder auftauchen Mai 15, 2020, 10:27

Posted by Lila in Persönliches.
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Seltsame Monate waren das. In Israel waren die Einschränkungen deutlich restriktiver als in Deutschland, das fing schon Ende Februar an, Schließung der Grenzen und Quarantänepflicht für Einreisende (nicht immer konsequent gehandhabt) waren der Anfang. Zwischendurch durften wir über Wochen nicht weiter als 100 m vom Haus weg sein, nur mit Sondergenehmigung konnten Y. und Quarta zur Arbeit. Ich war die ganze Zeit Hausmütterchen, was ich ja eigentlich gern mache. Tatsächlich war zwischendurch das Haus mal ein paar Stunden lang auf dem Eichpunkt der Perfektion.

Abends gab es meistens, was wir die Bibi-Show nannten – also Erklärungen vom Premierminister, Gesundheitsminister und Experten, die uns die Lage erklärten, neue Anweisungen gaben, uns sehr für unser Verhalten lobten und dann sich selbst noch mehr für ihr eigenes Handeln. Die Routine des Ausnahmezustands.

Für uns war es erträglich, weil wir keine kleinen Kinder haben, die wir belehren, bespaßen und bei Laune halten müßten. Ja, ich vermisse meine Großen, die ich eeewig nicht gesehen habe, meine Mutter und Geschwister, die mich zu meinem Geburtstag im April besuchen sollten, und meine Schwiegereltern. Telefon und Zoom und Whatsapp helfen, aber sehen möchte man sich eben doch. Wenn man aber weiß, daß es überall auf der Welt Leuten ähnlich geht, schickt man sich drein und denkt, wenn es notwendig ist, dann sind wir lieber übervorsichtig statt leichtsinnig.

Ich konnte einige lang vor mir hergeschobene Projekte im Haus abhaken, andere habe ich natürlich weitergeschoben. Es ist erstaunlich, aber man kann sich tatsächlich einen ganzen Tag lang in Haus und Garten beschäftigen, und trotzdem ist immer noch was zu tun. Ja, man kann sich die Zeit selbst einteilen, aber man ist auch viel allein, und irgendwann fängt man an, das Spülbecken mit Zahnpasta zu polieren und hinter jedem Wasserfleck herzujagen wie der Teufel hinter der armen Seele.

Was schön war: wir sind alle drei jeden Morgen um fünf aufgestanden, Y. und Quarta, um sich für die Arbeit fertigzumachen, ich, um ihnen ein schönes Verwöhn-Frühstück zu machen. Obwohl es eigentlich für uns alle zu früh ist, haben wir jeden Morgen zusammengesessen, und abends zum Abendessen noch einmal, und es ist wirklich viele Jahre her, daß wir diese Art Familien-Idyll hatten. Und ich habe es sehr genossen. Ich bin ja eigentlich kein sehr sozialer Mensch und kann gut alleine klarkommen, aber selbst für mich, mit zwei Hausgenossen, drei Katzen und Tausenden Büchern auf dem Kindle (und den Wasserflecken!) fand die Isolation schwierig. Wer das ganz allein bewältigen mußte, hat es bestimmt noch schwerer empfunden. Ganz zu schweigen von Kranken und ihren Angehörigen.

Irgendwann konnte ich dann anfangen, online zu unterrichten, aber meine Arbeitswoche war auf das absolute Minimum geschrumpft – eine Stunde pro Woche per Zoom. Und das, wo ich keinerlei Anspruch auf irgendeine Entschädigung oder Unterstützung habe (ja, wir haben es versucht, aber ich erfülle die Kriterien nicht).

Vor einer Woche war ich zum ersten Mal wieder in Nahariya. Die Mundschutz-Pflicht stört mich nicht – sollten wir alle anfangen, mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen, mehr auf Sauberkeit und Hygiene zu achten und einander vor allen Arten fieser Viren zu schützen, dann nehme ich das komische Gefühl gern in Kauf. (Da läßt man sich für teures Geld die Zähnchen schön richten und keiner sieht sie! und mein Lieblings-Lippenstift kann auch eingemottet werden). Verstörender fand ich, wie viele kleine Geschäfte zugemacht haben. Das Hochwasser im Januar hat Existenzen vernichtet, und wie kleine, selbständige Geschäfte jetzt überleben sollen, weiß ich nicht.

Mein erster Weg führte mich natürlich in den Woll-Laden meines Vertrauens, mit dessen Besitzer und Mitarbeiterin ich mich die ganzen Jahre über geradezu angefreundet habe. Ich bin eigentlich immer, wenn ich auf den Bus warten mußte, zu diesem Laden gegangen und habe mehr Garn gekauft und mich über Stiche und Muster und Garnqualitäten ausgetauscht, und der Besitzer hat mir erzählt, wie schwierig es ist, in Nahariya einen kleinen Laden zu führen. Zwischendurch wollte er mal zumachen, dann ging es doch wieder. Doch als ich letzte Woche hinkam, da packte er gerade die letzten Regale zusammen. Der Laden ist zu. Ich war entsetzt. Wo soll ich jetzt hingehen? wo gute Wolle herbekommen? und was passiert mit den vielen Geschäftsleuten, denen es so geht wie dem Woll-Mann?

Vorgestern stieg der persönliche Streßlevel weiter in die Höhe, als ich einen Warnbrief von der Rentenkasse bekam – keine Einzahlungen von meinen Arbeitgebern mehr, und den Rest konnte mein Hirn nicht mehr übersetzen. Ich sah mich als altersschwaches Weiblein in Nahariya an einer Straßenecke sitzen, mit offenem Hut und einem Poster von Cezanne, das ich mit zittriger Stimme analysiere. Singen oder Akkordeon spielen kann ich ja nicht. Wie schön so ein soziales Netz ist, merkt man erst, wenn man es nicht hat.

Da habe ich schnell durch ein paar Job-Börsen-Webseiten geblättert und etwas gesehen, was mir ins Auge stoch – ein Kibbuz nicht weit von hier sucht MitarbeiterInnen für den Erziehungssektor. Das habe ich ja viele Jahre lang gemacht,  als ich neu in den Kibbuz kam und während meine Kinder klein waren. Und ich habe es sehr gern gemacht. Ich bleibe ja immer am Kindergarten hier im Ort stehen, wenn ich zum Postfach gehe, und höre den Kindern zu, und freue mich. Also habe ich spontan die Telefonnummer angegeben, bekam freundliche Antwort, schickte meinen Lebenslauf und sämtliche Zeugnisse hin (worunter auch ein Bachelor in Kunst-und-Frühpädagogik ist, den hatte ich ganz vergessen), wurde für den nächsten Tag zum Gespräch eingeladen und genommen. Montag fange ich an. Meinen Online-Unterricht kann ich weitermachen, und sollte im Oktober der Unterricht wieder regulär weitergehen, kann ich meine Woche neu arrangieren.

Es war so schön, wieder in einem Kibbuz rumzulaufen, wieder in einem Kinderhaus zu stehen und die ganz besondere Atmosphäre zu spüren. Die Erziehungsphilosophie der Kibbuzbewegung ist auch meine. Und zum Kibbuz-Gedanken gehört auch, daß man sich nicht daran stört, ganz unten wieder anzufangen. Ich hoffe, ich kann das noch. Wenn es klappt, kann ich die Kategorie Kibbuz hier im Blog wiederbeleben, das wäre doch toll! Und wenn nicht, dann habe ich wenigstens den Sommer überbrückt.

 

 

Wie geht es uns jetzt? April 1, 2020, 13:08

Posted by Lila in Persönliches.
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Uns allen? Langsam haben wir alle kapiert, daß diese Corona-Geschichte wohl nicht so schnell vorübergeht, wie wir gern hätten. Und selbst wenn die erste Welle, möge sie flach sein, durchgerollt ist, müssen wir schon die nächste verhindern, die, glaubt man Experten, wohl kommen wird.

Wie wenig die westliche Welt, trotz aller Beteuerungen, wirklich gewapnnet war, zeigt das Mundschutz-Debakel. Erst versichern, wir brauchen so ein Ding nicht – dann, nach Wochen, kleinlaut zugeben, doch, wir hätten sie wohl gebraucht, nur leider waren sie nicht da. Wenn man dann darüber nachdenkt, was sonst noch ans Licht kommen wird, könnte man geradezu trübsinnig werden. Natürlich kann kein Staat solche Dinge, die wohl auch nicht endlos haltbar sind, nicht für den Fall eines Falles in Mengen bunkern, die für die gesamte Bevölkerung reichen. Aber daß die Produktion solcher Artikel nicht für den Notfall heimisch eingeplant sind, und daß zu Anfang nicht die Wahrheit gesagt wurde, ist ein kleines Fragezeichen.

Jetzt weiß ich nicht, ob die vielen Anleitungen im Internt wirklich nützlich sind und wir in die klassische Rolle der Mullbinden-wickelnden, Scharpie-zupfenden und Pulswärmer-strickenden Zivilistinnen im Krieg zurückverwiesen sind (wobei sich nähende, strickende Männer selbstverständlich mitgemeint fühlen sollen), oder ob das der nächste SelbstberuhigungsHoax ist, über den wir später lachen werden (abgeklebte Fenster und nasser Aufnehmer unter der Tür, ich meine euch, ja).

Die Zahlen steigen, die Medien konzentrieren sich auf bestimmte Themen, die sie zu Tode reiten (hier bei uns die regelmäßige Empörung über die Ultra-Orthodoxen, die die Epidemie so lange ignoriert haben, bis wichtige Rabbiner aus Brooklyn erkrankten, und von denen immer noch ein Teil medizinische Teams mit Steinen bewirft und sich trotzig zu Dutzenden oder Hunderten versammeln).

Für mich als Laiin ist es praktisch unmöglich zu entscheiden, welche Expertin nun Recht hat und welche Prognose eintreffen könnte. Manche sehen uns ab sofort in einem endlosen Kampf gegen ständig mutierende Corona-Viren, andere sagen, nach Pessach wird langsam Normalität einkehren, ich höre allen zu und fasse mich in Geduld, was kann ich sonst tun?

Daß sich der politische Knoten hier in Israel gelöst hat, ist erstmal gut. Eine vierte Wahl wäre katastrophal gewesen. Ob der Corona-Ausbruch nun reine Ausrede für Gantz war oder er wirklich den Druck fühlte, politische Auseinandersetzungen beiseite zu tun, weiß keiner. Aber die vielen Zusammschlüsse verschiedener Listen und Parteien, die sich bei den letzten und vorletzten Wahlen gebildet hatten, um mehr Einfluß auszüben, sind nun alle wieder zerplatzt, und zwar noch weiter zersplittert als vorher. Auch innerhalb der Bestandteile von Blau-Weiß haben sich Weggefährten getrennt, die Arbeitspartei ist in sich selbst gespalten (so klein wie sie geworden ist, so spaltungsfroh bleibt sie), alle sind miteinander verkracht, und die frühere treue Weggefährtin Gantz´, Orna Barbivai (die als hohe Offizierin viele Jahre unter ihm gedient hat und von ihm gefördert wurde) hielt eine bittere Rede der Enttäuschung und Desillusionierung, die Gantz versteinerten Gesichts anhörte.

Vielleicht hat er Israel durch sein Selbstopfer auf dem Altar des Bibitums gerettet, seine politische Karriere wird kaum zu retten sein, zu kraß war der Wortbruch den Gefährten gegenüber. Ob er sich daraus noch retten kann? Ich kenne fast nur Leute, die ihn gewählt haben bzw eine Partei, die für ihn gestimmt hätte, und nur Leute, die sagen: nie wieder Benny Gantz.

Aber wir kriegen eine Regierung, leider bleibt der inkompetente Litzman Gesundheitsminister, aber in Likud und Blau-Weiß gibt es ganz gute Leute, die hoffentlich gute Arbeit leisten werden. Zum Himmel schreit allerdings, daß aus koalitionstechnischen Gründen das Kabinett weiter anschwillt. Über 30 Minister! ein Skandal, wenn so viele Israelis arbeitslos sind und am Existenzminimum entlangschrammen werden, wenn die Wirtschaft sich nicht schnell erholt. Von 4% Arbeitslosigkeit im Februar sind wir jetzt auf fast 25%. Alle Notprogramme der Regierung können uns auf die Dauer nicht retten. Jeder Shekel, den die Regierung einsparen kann, wird benötigt.

Mein Mann hat Arbeit, das ist gut, aber das Loch, das meine Arbeitslosigkeit reißt, merken wir deutlich. Ich hoffe, daß ich irgendwann weiterarbeiten kann, glaube aber nicht, daß das schnell gehen wird. Verglichen mit anderen geht es uns sehr gut. Die Familien mit kleinen Kindern oder Menschen mit Behinderungen aller Arten, deren Arbeitsplätze, Schulen oder Therapieeinrichtungen geschlossen sind – die isolierten, alleinlebenden Alten, die Holocaustüberlebenden ohne Angehörige, nach denen niemand fragt, die kleinen Selbständigen, die nicht wissen, wie sie die Miete für den Friseursalon zahlen sollen, der keine Einnahmen mehr bringt – mir fallen ohne Ende Menschen ein, denen es deutlich schlechter geht als uns, von Infizierten, Kranken und deren Freunden und Angehörigen mal ganz abgesehen.

Und wer kann ausdrücken, wie viel Respekt man spürt für die Menschen, die direkt mit den Kranken arbeiten? Ich selbst hätte gern einen pflegerischen Beruf ergriffen und die Entscheidung, Geisteswissenschaften oder ein Zweig der Pflege, den ich bis heute wunderbar finde, war so knapp wie keine andere Entscheidung in meinem Leben, und mich hat die weitverbreitete Mißachtung dieses Berufs immer schon geärgert und wütend gemacht. Jetzt scheinen einige andere auch begriffen zu haben, daß diese ganzen „unproduktiven“ Berufe, in denen Menschen gepflegt, am Leben erhalten, unterrichtet, betreut, ins Leben und zur Gesundheit zurückgeführt werden, dieselbe Anerkennung verdient haben wie Ärzte, die bisher allen Respekt für dieses Genre auf sich versammelten.

Vermutlich tun wir alle, die im Moment keine Arbeit haben, ähnliche Dinge, sortieren die Hülsenfrüchte im Küchenschrank nach Farbe, Form und Größe, gehen dann zu den Socken über, und fragen uns, was wir im Mai sortieren sollen.

Doch zum Thema Mundschutz, um das wohl in Deutschland mal wieder eine Grundsatzdiskussion entbrannt ist – wir haben über Gurtpflicht, Mülltrennung und die Abschaffung der Anrede Fräulein auch mal diskutiert. Eines habe ich in Israel gelernt, und das ist klare Prioritätensetzung. Ein Menschenleben retten, und wenn es EIN einziges ist, hat oberste Priorität. Wenn wir durch Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, ob selbstgemacht oder gekauft, uns selbst und vor allem andere schützen können, dann sollten wir das selbstverständlich tun, ohne eine Diskussion über Freiheit daran zu knüpfen, die ihre Argumente aus ganz anderen Diskussionen bezieht. Heutzutage tragen alle Zahnärzte solche Masken, in meiner Jugend war das noch nicht so, doch meiner Meinung nach haben dabei Patienten und Zahnärzte keinerlei Freiheiten eingebüßt. Es ist eine Frage der Rücksichtsnahme. Weiß ich, ob der Mensch neben mir eine Vorerkrankung hat?

Ich habe das glaube ich schon gesagt, egal, aber ich sage es noch mal. Auch ich war sorglos, habe Grippe, an der jedes Jahr Menschen sterben, Kinder und Alte, nicht ernst genug genommen. Zwar habe ich über die egoistischen Impfgegner, die ihre Kinder nicht impfen lassen und darauf bauen, daß alle anderen geimpft sind, immer ordentlich geschimpft, aber ich selbst habe  mich nie gegen die Grippe impfen lassen. Dabei habe ich viel Kontakt zu Menschen über 70, auch weit über 70. Es hätte mir selbstverständlich sein sollen, mich zum Schutze dieser Menschen, aber auch der Kinder meiner Umgebung, gegen Grippe impfen zu lassen.

Wir waren sorglos, wir waren egoistisch, und ich hoffe sehr, daß nicht nur ich in mich gehe, daß wir alle rücksichtsvoller werden. Daß wir aktiv die Bemühungen derer unterstützen werden, die für ihre „systemrelevante“ (Unwort des Jahres!) Arbeit mehr Geld und Anerkennung erkämpfen werden. Daß wir uns öfter und gründlicher die Hände waschen, Mundschutz benutzen, ohne uns deswegen zu genieren, bei Erkältung ganz besonders!, und vielleicht die vielen Reisen reduzieren. Daß wir regional und saisonal kaufen werden, um die einheimischen Landwirte zu unterstützen, daß wir kleine Geschäfte besuchen werden, statt die Riesen zu unterstützen, die es viel weniger brauchen. Daß uns das Gefühl erhalten bleibt: wir sind eine Spezies, und bei allen Unterschieden gibt es Gefahren, die uns alle zugleich betreffen. Wenn wir nicht füreinander einstehen, schaden wir uns selbst. Auch wenn der Bumerang uns erst Jahrzehnte später treffen mag.

Irgendwelche positiven Folgen muß dieser Albtraum doch haben.

Schnell verändert März 21, 2020, 9:28

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hat sich die Welt für uns alle.

Ich habe im Laufe der Jahre hier in Israel viele, zu viele Krisen hinter mich gebracht. Bedrohungen und Beschuß, Terror und Krieg, und die schlimmsten Momente waren für mich persönlich die, die mit Söhnen und Armee zu tun hatten – lieber nicht daran denken. Aber es war immer so: ich erlebe einen Ausnahmezustand, richte mich auf Raketen aus dem Libanon ein oder Bombengürtel im Supermarkt oder Messer zwischen den Rippen in Jerusalem – und meine deutsche Familie, mein Freundeskreis, meine deutschsprachigen Leser leben in einer Welt der Gewißheiten und Sicherheiten. Auch einzelne Anschläge, die es ja gegeben hat, konnten das Grundgefühl nicht erschüttern. Sicherheitsstreben, Wohlstand, Autonomie, Bildung und gesicherte Zukunft für die Kinder, das waren die Säulen, auf denen das Leben aller ruhte. Die Welten berührten sich höchstens mal, wenn wir vor einem Besuch gemeinsam überlegten, ob man im Moment nach Israel kommen kann – oder doch lieber nicht.

Und auf einmal sind wir alle in einer Krise zusammen. Und zwar global. Die Bilder aus Madrid sind sofort verständlich, die ganze Welt durchläuft mit zeitlichem Abstand dieselben Phasen, und wir finden uns in einer Art Hausarrest, bevor wir es überhaupt verstanden haben. Heute vor einer Woche habe ich meinen letzten Vortrag gehalten, Teil I einer auf drei Teile angepeilten Reihe über Impressionismus und Post-Impressionismus, und habe mich wie immer von meinem Publikum (lauter Kibbuzniks) verabschiedet: und in der nächsten Woche, wenn wir uns wiedersehen, sehen wir uns das genauer an. Seitdem haben alle Einrichtungen, bei denen ich arbeite, abgesagt und zugemacht. (Da ich Freelancerin bin und nicht mehr fest bei einer Einrichtung angestellt bin, bricht damit für mich auch mein Einkommen weg, und staatliche Hilfe gibt es für Leute wie mich nicht.)

Für mich persönlich ist das nicht schlimm – ich bin gern zuhause und benutze die Zeit, lang aufgeschobene Projekte in Angriff zu nehmen (und mit lang aufgeschoben meine ich – seit wir im Juli 2016 hier eingezogen sind!). Ich habe keine kleinen Kinder im Haus, die bespaßt werden müssen – nur meine Quarta, die seit gestern auch zuhause ist, weil vorgestern das Restaurant, in dem sie mit viel Fleiß und Spaß gearbeitet hat, zugemacht hat. (Sie hat schon eine neue Arbeit in Aussicht, sie ist ungemein tüchtig.) Und Quarta mal ein bißchen zu verhätscheln, das mache ich gern. Sie und ihre Freunde treffen sich nach wie vor regelmäßig bei uns auf dem Balkon, mir paßt das gut. Sie halten schön Abstand und sind überhaupt sehr nett.

Wir haben auch das große Glück, daß der gute Hausvater bei einer Firma arbeitet, die Alco-Gel, desinfizierende Tücher und ähnlich wichtige Dinge herstellt. Egal was zugemacht wird – seine Firma wird weiter arbeiten, und das ist eine große Erleichterung.

Wir alle teilen unsere Sorge – die alternden Familienmitglieder, die geliebten Menschen mit Vorerkrankung, die Familien und Menschen, die wir kennen und nicht kennen. Ich weiß nicht, was bei anderen Menschen im Whatsapp los ist, aber bei mir erweist sich Whatsapp als nützliches Medium, um in Kontakt zu bleiben, und zwar in erster Linie mit Freunden Familie.

Ich weiß ebensowenig wie der Rest der Welt, wie lange es dauern wird, bis die Corona-Kurve abflacht, bis wirksame Medikamente oder gar eine Impfung verfügbar sind, und wann die Welt wieder „normal“ wird. Im Moment ist das gar nicht vorstellbar, obwohl es schnell gehen wird und wir irgendwann zwischen peinlich berührt und nostalgisch auf diese Monate Anfang 2020 zurückblicken werden. Vielleicht wird mal irgendwann jemand fragen, „sag mal, Oma, wie war das eigentlich damals, habt ihr wirklich Angst gehabt?“, und ich werde sagen, „ma pitom, wie kommst du darauf? Es war nur merkwürdig, und Venedig war menschenleer, und nur Menschen, die Corona schon hinter sich hatten, fuhren hin, und alle haben sie beneidet“.

Doch ich hoffe, daß wir aus diesem Moment globaler Sorge mehr übrigbleibt als Scherze, was die Leute nun mit dem gehorteten Klopapier anfangen sollten – das wird im Laufe der Zeit schon seiner Bestimmung zugeführt werden. In dieser Krise sehen wir unsere Spezies in ihrer Schwäche (Menschen, die sich um Klopapier raufen und Einkaufswagen voll Nudeln und Konservendosen nach Hause schleppen) und ihrer Stärke (wie sie auf den Balkons stehen und symbolisch den sonst übersehenen Rettungs-, Pflege- und medizinischen Arbeitskräften applaudieren – obwohl sie das vielleicht auch wieder vergessen werden, wenn die mal mehr Geld fordern werden?).

 

Ein paar Tage später

Inzwischen sind wir alle zu Experten geworden, lesen Artikel und hören Virologen zu. Fake news aller Arten kreisen, Verschwörungstheoretiker bauen die wildesten Theorien, und ich bin bestimmt nicht die einzige, die jetzt mit dem Vergrößerungsglas durchs Haus geht und das Treibgut jahrzehntelangen Familienlebens sichtet – wobei die Mülltonnen sich recht schnell füllen.

Noch fühlt die Bedrohung sich eher abstrakt an, obwohl es schon mehrere Bekannte gibt, die erkrankt sind, nicht schwer, Gott sei Dank.

Ich kann mich schlecht vom Radio losreißen, höre meist im Hintergrund was. Vorträge und Unterrichtsreihen sind bis Ende 2012 zumindest in Rohform vorbereitet, so richtig zum Schreiben komme ich nicht, ich hole mir die mangelnde Bewegung im Haus, und wenn der Regen nicht wiederkommt, auch im Garten.

Quarta hat angefangen, bei Y. in der Firma zu arbeiten, die brauchen im Moment neue Kräfte. Morgens ziehen die beiden zusammen los, nach einem sehr frühen kleinen Frühstück noch in der Dunkelheit. Wann haben wir das letzte Mal unter der Woche gemeinsam gefrühstückt? Ich verwöhne die beiden so gut ich kann, dahinter steht auch Angst. Quarta arbeitet mit Mundschutz, doch mein Mann natürlich nicht. Er sorgt nur dafür, daß alle anderen einen Mundschutz tragen.

Ich denke an die Familien mit kleinen Kindern, an Selbständige, die keinen Partner mit festem Einkommen haben, und an die Kranken und ihre Angehörigen… ein Mensch, der in dieser Situation nicht fühlt, wie ähnlich wir uns unter allen kulturellen Schichten sind, wie wir einer für den anderen Verantwortung übernehmen müssen, nun, der wird es nie kapieren.

Entschuldigt, ich habe einfach im Laufe der letzten zehn Tage hier reingeschrieben, was mir durch den Kopf ging (habe auch viel bei Twitter gelassen).

Da ich nun seit 2 Wochen nicht mehr vorm Haus war und demzufolge auch nicht geschminkt, freuen sich wenigstens meine Wimpern über diese Pause im normalen Leben.

Falscher Beifall Februar 17, 2020, 22:59

Posted by Lila in Persönliches.
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Gut, ich mache mich heute mal unbeliebt, warum nicht?

Es muß so vor zwei Jahren gewesen sein, da lief durchs (englischsprachige) Netz eine Art mütterlicher Trotzreaktion. Irgendeine mommy blog-Kämpferin bekannte sich dazu, daß sie am Smartphone klebt, während ihre Kinder um sie herum spielen. Sie wurde gefeiert, ihr Bekenntnis noch mehr – Tod dem Perfektionismus, der Müttern abverlangt wird! Sind wir nicht alle irgendwie diese Mutter? Ja, ja! Ich finde diese kleine Welle nicht mehr mal im Netz, so schnell brandete sie durch und war vergessen.

Aber das Thema bleibt aktuell. Ich fahre viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Welt und achte immer besonders auf Kinder und junge Eltern. Ich sehe einfach gern vergnügte Kinder und zugewandte Erwachsene, und oft genung sehe ich sie auch. Inzwischen bin ich auch alt genug, daß ich die nervige Oma sein könnte, die fremden Leuten zu ihrem besonders netten Kind gratuliert. (In Israel fällt man mit sowas nicht auf, hier mischen sich alle in alles ein.)

Ich finde auch nichts dabei, mit jungen Eltern Gespräche anzufangen, und erinnere mich gern an eine sehr nette junge Frau mit ihrem Baby im Einkaufszentrum. Der Planet „Mama-Baby“ kann sich manchmal einsam anfühlen, und so ein Gespräch unter Fremden kann manchmal offener sein als mit Menschen, die einen kennen. Und die Mama-spezifischen Schuldgefühle, die einem zusetzen.

Es passiert aber einfach zu oft, daß ich sehe und höre, wie ein Kind sich langweilt, um Aufmerksamkeit bettelt – und nicht mal einen Tropfen abkriegt. Bestimmt ist die Welt voll mit Artikeln, in denen Psychologen und Kommunikationsspezialisten genau erklärten können, welche Auswirkungen es hat, wenn die Eltern nur auf ihren Bildschirm starren, aber ich sehe es selbst. Ich weiß es auch von mir. Während ich hier schreibe, kriege ich auch kaum mit, ob jemand die Spülmaschine einräumt (leider nicht) oder mir was Wichtiges erzählt (Freitag, war da was?). Wenn ich mit Quarta spreche, während sie am Smartphone hängt, tut sie zwar so, als würde sie mich wahrnehmen, aber ich könnte genausogut mit den Katzen sprechen, die versprechen auch viel und beißen mich trotzdem nachts in die Zehen.

Zwischen Erwachsenen ist das nicht schlimm, weil man sich gegenseitig nachsehen kann, daß sich jemand gerade auf einen Bildschirm konzentriert und für eine Zeit weggetreten ist. Aber für Kinder ist das unverständlich und schlimm, weil verunsichernd. Außerdem machen die Eltern den Kindern damit genau vor, was sie eigentlich vorgeben zu bekämpfen – die Kinder von Bildschirmjunkies werden selbstverständlich auch Bildschirmjunkies, man kann sie ja so schon kaum davon abhalten.

Ich weiß, wie schwer es ist, die vielen Fragen zu beantworten, immer aufmerksam zu sein. Aber Kinder haben Rechte – und ein Recht ist, respektiert und beachtet und ernstgenommen zu werden. Wer nicht bereit ist, dem Kind die Aufmerksamkeit zu schenken, die es braucht, der soll vielleicht doch noch mal überlegen, ob er oder sie Kinder will. Es ist durchaus möglich, ein erfülltes Leben ganz ohne Kinder zu führen, und ich habe schon öfter gesagt, daß ich nichts davon halte, Menschen einzureden, ohne Kinder gebe es kein Glück. Blödsinn. Jedes Kind hat das Recht, ganz und gar gewollt und bejaht zu werden.

Ja, heute in der Bahn saß ich einem süßen Paar gegenüber. Eine junge, sehr hübsche Mutter, und ein kleines, noch viel hübscheres Mädchen. Sie war so im Vorschulalter, diesem wunderbaren Alter, wenn die Kinder anfangen, Meinungen zu haben. Zwischen Nahariya und Akko war das Mädchen still, dann fing sie an. Zuerst Blicke zur Mama und zappelnde Beine, dann kleines Schubsen, und in Kiriyat Chaim verlor sie die Geduld. „Ima, mir ist laaangweilig“ „Iiiiimaaaa, mir ist laaangweilig“ Von der Mutter kam nur ein unklares Gebrumm. Sie war in ihr Smartphone vertieft.

Sie hatte für das Kind weder ein Bilderbuch noch ein Spielzeug eingepackt. Ich weiß nicht, bis wohin sie gefahren sind, aber sie hatte einfach nicht eingeplant, daß die Fahrt für ihre Tochter langweilig sein würde. Nach jahrelangem Bahnfahren sowohl in Israel als auch in Deutschland würde ich schätzen, daß auf eine Mutter mit gut gepackter Kinder-Reisetasche sieben oder acht Mütter kommen, die daran nicht gedacht haben. Einen Vater mit Spieltasche habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Meiner Erfahrung nach sind es meist Mütter mit mehreren Kindern, die der Erkenntnis nicht mehr ausweichen können, daß eine längere Fahrt ohne Unterhaltungsplan für die Kinder ein Albtraum ist. Dann höre ich mit Freuden zu, während die Familie spielt oder sich unterhält, und habe meine Freude.

Meine Mutter war ein Genie der Kinderbespaßung und ist es noch, meine Schwiegermutter ebenso. Wenn meine Kinder mit uns und der Welt zerfallen waren, sind sie früher oft zu meiner lieben Schwiegermutter gegangen. Die sagte meist: „gut, daß du kommst! Meine Knopfsammlung muß sortiert werden, hast du Lust dazu?“, und damit war der Tag gerettet. Stunden haben meine Kinder über Schwiegermutters Näh-Vorräten und Sammlungen gesessen, mit ihr Taki gespielt oder Suppe gekocht. Meine Schwiegermutter hat, bevor sie Konfektion gelernt hat, Jahrzehnte in der Kleinkinderziehung gearbeitet und weiß mehr Kinderlieder, Volkslieder, Fingerspiele und lustige Verse als jeder andere Mensch, den ich kenne. Sie könnte einen bunten Abend allein bestreiten und das Lachen sitzt ihr locker.

Meine Mutter kommt aus einer Dynastie der Geschichtenerzähler. Ihr großer Bruder hat sie abends mit Geschichten von Old Schnödderbell ins Bett gebracht, der mit seinem Schnödder wilde Pferde zähmen konnte, mein Vetter hat seine Kinder mit Geschichten vom Klosettmann beglückt, und meine Mutter erfand unendliche Geschichten über das verrückte Pferd, das seinen Reiter abwirft, die Weinflasche aufkorkt und leert, und dann besoffen ins Abenteuer aufbricht. Ich erinnere mich an viele Rückfahrten von Besuchen bei Oma, mein Bruder und ich hinten im Auto, und juchzen, wenn der Moment kommt, der Reiter empört ins Gras rollt und die Flasche rausgeholt wird. Das freche Wiehern des besoffenen Pferdes, das jetzt zum Abenteuer aufbricht, gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Meine Mutter ist wirklich immer noch ein Kindermagnet. Bei der Beerdigung einer sehr jungen Mutter, die wir vor kurzem überstehen mußten, war sie die einzige, die für die kleinen, verwaisten Kinder Geschenke dabeihatte, über die die Kinder sich sehr gefreut haben.

Die Generation meiner Schwiegermutter und Mutter hat ihre Kinder vor der Zeit der elektronischen Babysitter erzogen, außerdem sind beide ausgebildete und erfahrene Pädagoginnen. Es ist unfair, irgendjemand mit ihnen zu vergleichen, es zieht mir nur gerade so durch den Kopf. Ich habe von ihnen gelernt, immer mit einer interessant gefüllten Tasche zu Arzt, Reise oder Bahnfahrt aufzubrechen. Bei Tertias Krankenhausaufenthalten hatten wir immer ihren großen „agalool“ mit (eine Art rollendes Ställchen, in dem man liegen, sitzen, stehen, spielen kann), Bücher, Spielsachen, Bilder zum Aufhängen, ihre eigenen Sachen (sie hat nie die Krankenhauskleidung getragen) und ihre eigene Decke. Ja, man hat nicht immer Geduld, und im Zeitalter der totalen Erreichbarkeit kann man sich nicht leisten, bestimmte Anrufe nicht anzunehmen. Das verstehe ich schon.

Aber trotzdem. Junge Eltern, die mit Blick aufs Smartphone Kinderwagen über die Kreuzung schieben. Junge Eltern, die ihrem quengelnden Kleinkind im Cafe ein Smartphone in die Hand drücken, um weiter quasseln zu können (oder an einem anderen Smartphone zu hängen). Junge Eltern, die eine ganze lange Bahnfahrt mit einem kleinen Kind nur in ihr Smartphone starren, während neben ihnen ein kleines Kind um ein Wort, einen Blick bettelt. Ist es so schwer, sich schnell mit einem Kuli ein fröhliches und ein griesgrämiges Gesicht auf die Finger zu malen und die beiden streiten zu lassen?

Niemand von uns weiß, wie lange wir uns gegenseitig noch haben. Bei kleinen Kindern wissen wir aber, daß sie nicht lange so bleiben. Aus dem kleinen Kind, das sich über jedes Wort von Mama oder Papa freut, wird in Windeseile ein großes Kind, das gern diskutiert, und dann ein Teenager, für den die Eltern peinliche Fossilien sind, die ihn oder sie an den wichtigen Dingen des Lebens hindern. Und irgendwann dann junge Erwachsene, mit denen man einen interessanten, kritischen Dialog führen kann, und die Verständnis haben, wenn man gerade beim Whatsappen mit einem netten Menschen ist. Aber von Vierjährigen kann man das nicht erwarten.

Ich habe übrigens schon vor Kiriyat Motzkin angefangen, mich mit dem Mädchen zu unterhalten und mit ihr zu spielen. Wir haben geguckt, ob wir Tiere zählen können, aber wir haben keine gesehen, und haben welche erfunden, und so verging die Zeit bis Haifa. Sie hat sich auch nett von mir verabschiedet. Die Mutter hat nicht EINmal die Augen vom Telefon gehoben. Viellleicht hat sie gerade irgendwo gepostet, „ich bin eine Mutter, die auf ihr Smartphone starrt, und bekenne mich dazu“, und die Reaktionen gelesen: „du bist ja so mutig, so authentisch“ „das habe ich gerade gebraucht, bravo“ „zerbrecht die übertriebenen Erwartungen an Mütter“ „von Vätern erwartet niemand Perfektion“ „mögen die Hater bekommen, was sie verdienen“.

Ach, mögen die Kinder bekommen, was sie brauchen und verdienen.

Längere Stille Januar 27, 2020, 23:36

Posted by Lila in Persönliches.
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herrscht hier seit einiger Zeit, nicht weil es nichts zu schreiben gäbe, sondern weil es viel zu viel gibt! Und ich will nicht über jedes Stöckchen springen, das mir die Zeitläufte hinhalten. Es passiert so viel, in Washington, bei Yad VaShem, in Auschwitz und an anderen bedeutsamen Orten, und oft denke ich nur: mal sehen, was daraus wird. Dazu habe ich noch keine Meinung, oder nur eine provisorische, gewissermaßen mit Stützrädern. Aber um mich  herum haben natürlich alle gußfeste Meinungen in endgültiger Form. Also sage ich lieber nichts.

Im Moment bin ich auf Kurzbesuch bei meiner Familie, weil wir eine sehr traurige Familienbeerdigung haben. Das hat vieles andere nach hinten gedrängt. Denn im Grunde muß man froh sein um jeden Tag, den man gesund und fröhlich mit seinen Lieben leben darf. Das wünsche und gönne ich allen Menschen, egal wo, wer und woher.

Trost gibt wie immer Psalm 121.