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Wellenförmig November 6, 2023, 22:21

Posted by Lila in Persönliches.
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sind diese Tage und voller Sorgen und Ängste, die man sonst begräbt, zurückdrängt oder nicht spürt. Die Angst um die Soldaten und Soldatinnen, die jetzt da sind, wo niemand hin möchte – die durch verminte Gassen gehen und den Spuren des inkarnierten Bösen folgen, um es zu vernichten – dabei jederzeit in Fallen gelockt werden können – während die ganze Welt nur um die menschlichen Schutzschilde bangt, die mir auch ja auch leidtun – diese Angst kennen alle in Israel. In Krisenzeiten wird sie ganz stark, unerträglich stark, wenn ich an die denke, die ich kenne, und für die die normale Welt noch viel krasser verschwunden ist als für uns hier.

Dann die Angst um die Geiseln. Es war immer unser größter Albtraum. Hier im Norden wurden ja die Tunnel der Hisbollah aufgedeckt, in denen zur Vorbereitung auf Geiselnahmen kleine Buchten mit Betäubungsmitteln gefunden wurden (dieses Detail habe ich im Fernsehen vor vielen Jahren gesehen und nie vergessen). Daß es so viele sind – so verletzliche Geiseln – unerträglich, unerträglich, ich möchte die Gedanken wegschieben, kann es aber nicht.

In solchen Situationen wünsche ich mir, nicht so verdammt mitfühlend zu sein. Warum kann ich nicht ganz einfach sagen: okay, schlimm schlimm, aber meiner Familie geht´s gut und helfen kann ich sowieso nicht, wo ist mein Bier? Nein, das geht nicht. Die Gesichter der Geiseln tauchen auf, ob ich es will oder nicht, egal was ich mache, die Namen, die Geschichten. Die Medien hier geben allen Familien eine Stimme, und ich schalte nicht ab, auch wenn ich den Schmerz in den Augen der Angehörigen kaum aushalten kann. Aber die Mutter von Ella und Dafna muß es aushalten, damit zu leben, daß ihre Mädchen entführt sind, dann werde ich es wohl aushalten können, ihr zuzuhören. Sie muß sprechen, sie muß präsent bleiben, sie braucht unsere unbedingte Loyalität.

Dann erinnere ich mich daran, wie das ganze Land für Gilad Shalit auf den Beinen war. Ich war dabei, als im Nachbarort Mitzpe Hila die Shalits ihr Haus verschlossen und die erste Etappe auf ihrem Marsch nach Jerusalem gingen. Eine lange, lange Karawane von Menschen. Für einen einzigen Soldaten hat Israel dann 1027 Verbrecher freigelassen, darunter auch Sinwar, der die Massaker vom 7. Oktober geplant und geleitet hat. War es richtig, diese Freilassung zu befürworten? Viele Menschen haben sie mit dem Leben bezahlt. Aber wir konnten Gilad nicht in Gefangenschaft lassen.

Geiseln, Soldaten, Soldaten, Geiseln, die Sorge. Dann die Trauer um die Ermordeten und Verletzten, aber auch die Heldinnen und Helden dieses schwarzen Tags. Ich nehme alle Informationen auf und weiß, in welche Kammern meines Gedächtnisses die Gesichter und Geschichten und Namen landen. Dort, wo mir die Terroropfer unvergeßlich eingebrannt sind. Ich bin noch keine 40 Jahre hier und habe doch die Erfahrungen der Terrorjahre und -wellen in meinem Gehirn und Körper gespeichert. Dieser Teil meiner Erinnerung wird nicht durch positive Erlebnisse überschrieben, vergessen kann ich sie nur, wenn eine Krankheit mein Gehirn zerstört. Solange ich gesund weiterlebe, ist der ganze Schrecken noch da. Und so geht es allen, die ich kenne.

Das ist also das Grundempfinden – Gedenken, Ängste, die Gier nach neuen Informationen.

Dazu kommt dann „die Situation“ hier oben im Norden. Und die Wellenförmigkeit der Tage. Wenn kein Alarm in der Gegend ist, keine Artillerie zu hören ist, weder Iron Dome noch Einschläge auf unbewohntem Gebiet (für die Iron Dome nicht eingesetzt wird), dann ist es hier immer noch unbeschreiblich schön. In den Wochen des unfreiwilligen Urlaubs habe ich mich auf das Haus konzentriert (nein, der Garten liegt noch immer in Fritten, denken wir da mal nicht dran), auf viele liegengebliebene Aufgaben, und ich habe auch gemalt und gezeichnet. Weil ich trotz Kunststudiums (für Lehramt, aber mit sehr guten Lehrern) nicht wirklich gut bin, male ich nur mit Anlaß, für andere.

Wenn ich male oder einen Schrank aufräume, vergesse ich „die Situation“ beinahe. Das bedrückte Gefühl in der Brust ist noch da, aber ich weiß nicht, warum, und brassele einfach weiter. Das dauert nie lang – dann bricht es wieder hervor, und ich weiß, warum es mir so mies geht. Ich gehe alle geliebten Menschen durch, wo sind sie? wann habe ich von ihnen gehört? machen die Kinder mir was vor? wer hat gerade Alarm? wie geht es Schwiegervatern? der Nichte in der Armee?

Und was geht vor? Hab ich was verpaßt? Was sagt das Radio? Was Kanal Kann11, was Kanal 12?

Dann wende ich mich wieder meinen Aufgaben zu, kann vielleicht sogar arbeiten. Ein paarmal habe ich mitgeholfen, Kinder hier im Moshav zu betreuen, das war schön. Wir haben uns mit den Kindergartenkindern getroffen, wir nehmen kleine Clips für die Kinder auf, und ich freue mich, wenn die Mütter Clips zurückschicken von ihren Kleinen, wie sie aufs Telefon patschen und Iiiija rufen. Ich unterrichte auch ein bißchen (hoffentlich bald wieder mehr) und bereite weiter Vorträge vor, falls das Semester je anfangen sollte.

Und dann höre ich in der Entfernung Lärm und Unruhe. Sofort die App vom Homefront Commando überprüfen, und dann höre ich auch schon die Artillerie. Nicht nur die, die uns gegenüber auf dem Hügel installiert ist und unsere Fenster wackeln läßt. Sondern auch weiter entfernte, deren Wummern durch den Wadi zu mir kommt. Manchmal Alarm (bei uns seltener, aber ich höre auch Alarm aus anderen Dörfern), oder Hubschrauber, oder Flugzeuge. Drohnen sowieso. Dann gehen die Wellen hoch, besonders wenn ich allein bin.

Es ist gut, daß Eli vom Sicherheitsteam so eine ruhige, tiefe Stimme hat. In der Whatsappgruppe des Moshavs gibt er Informationen von der Armee weiter, die erst viel später in den Medien erscheinen. Nein, keine Geheiminformationen, nichts Konkretes, aber ich weiß trotzdem, wie die Lage ist. Wenn er sagt, bei uns alles okay, mach ich normal weiter. Wenn er sagt, in der Nähe des Schutzraums aufhalten, gehe ich rein, lasse aber die Tür offen. Und wenn Alarm kommt (wie gesagt, bei uns seltener), mach ich die Tür zu. Wenn Alarm wegen eindringender Terroristen gegeben wird (Gott sei Dank, war nur zweimal), dann verriegele ich auch die Tür des Schutzraums.

Irgendwann ist dann wieder Stille, und die Welle geht runter auf Normalstreß. Dann stehe ich wieder auf dem Deck, bewundere, wie schön es hier ist, und wie friedlich. Noch ist es warm, ich trage Sommerkleider und bin barfuß, aber nachts wird es kühl. Nachts sehe ich auch, daß der Moshav leer ist. Keine Karaoke-singenden Touristen mehr, alles ist still und dunkel. Manchmal holen wir das Teleskop raus und gucken Albireo an. Aber selten. So richtig nutze ich diese Zeit der Dunkelheit und Stille nicht.

Einen Vorteil haben die Nächte: ich sehe den Lichtblitz der Artillerie, bevor der Krach kommt.

Jeden Tag eskaliert die andere Seite. IDF reagiert. Heute hat Hamas Raketen geschossen, erstmals bis Kiriat Ata und Kiriat Bialik. 30 Raketen. Hamas im Libanon und nicht Hisbollah – wenn sich die Hamas dazu bekennt, wie heute, ist das ein retardierendes Element, denn sie ist hier nicht der wahre Feind. Aber so viele Raketen und bis weit in die Bucht von Haifa – das ist ein eskalierendes Element. Wie tariert die Armee ihre Reaktion darauf? Ich höre auf die Artilleriegeschosse, horche, ob ich Flugzeuge höre und in welche Richtung sie fliegen. Und daraus ziehe mich meine Schlüsse.

Eine Eskalation im Norden würde bedeuten, daß die Armee und das Land bis an ihre Schmerzgrenze gehen müßte. Weitere Dörfer räumen, mehr Armee hier hin, das bedeutet weitere wirtschaftliche Einbrüche, weitere eingezogene Reservisten, und wie lange halten wir alle das aus? Will die Hisbollah uns in einen Erschöpfungskrieg (milchemet hatasha) ziehen? Sehr wahrscheinlich. Also müssen wir resilient sein. Ja, auch ich.

Wenn es so bleibt wie jetzt, können wir das aushalten. Aber geht das überhaupt? Wie lange kann eine instabile Situation bestehenbleiben? Und was ist mit den Geiseln? was mit den Soldaten? wo sind die Kinder?

Und schon steigt die Welle wieder. Bisher ist mir noch keine über dem Kopf zusammengeschlagen.

Kommentare»

1. Juna - November 6, 2023, 23:14

Wellenförmige Tage, ja, das ist ein gutes Bild. Ich hoffe, dass Du und Ihr es weiter schafft, dass wir alle es schaffen werden und irgendwo weiß ich, dass es so sein wird. Gut, dass Du wieder da bist.

2. madeleine - November 7, 2023, 0:46

Liebe Lila
Danke für Deine Stimme
Danke für Deine Berichte
Danke für Dein Aushalten
Möge die Wellen es nie schaffen, über Deinem Kopf
zusammenzuschlagen.
Sei behütet, Du und Deine Familie, und kol Am Israel
Hoffentlich kannst Du trotzdem etwas schlafen und Dein Geist möge sich erholen.

3. Wolfgang Lünenbürger - November 7, 2023, 11:25

Liebe Lila, ich bin dankbar, dass du hier wieder schreibst. Du weißt, dass du für mich immer eine der wichtigen Stimmen warst und bleibst. Und in den letzten Wochen habe ich oft an dich gedacht. Danke, dass es dich gibt. Danke für die Klopfzeichen, für die Worte, für die Erzählungen, für die Gefühle, danke für dich. (Und wie immer auch wieder dafür, dass ich die Online-Namen meiner Kinder von dir habe.)

4. wildgans - November 7, 2023, 14:00

Ja, stark bleiben bitte!

5. IsaLobo - November 7, 2023, 14:07

Bei mir kommen keine Wellen der Sorge und der Angst, bei mir kommen Wellen des Schmerzes, die ich bis tief in meine Eingeweide spüre, Wellen der Tränen, die mich übermannen, wie jetzt gerade, während ich das schreibe und Wellen der Wut und des Hasses.
Ich habe hier in Deutschland keine beruhigende Stimme aus dem Radio oder dem TV, die mir vermitteln würde, wir unterstützen selbstverständlich die Israelis in ihrem Recht, sich selbst zu verteidigen, die mir vermittelt, mach dir keine Sorgen, wir akzeptieren nicht, dass dieser pervers-sadistische Terror auf unseren Straßen bejubelt wird, keine beruhigende Stimme, die mir glaubhaft vermittelt, das Existenzrecht Israels ist deutsche Staatsraison und auch die Verbote der Hamas und Samidoun sind keine leere Phrasen sondern werden DURCHGESETZT, keine beruhigende Stimme, die mir glaubhaft vermittelt, wer in Deutschland das Kalifat fordert, wird in ein kalifatbefürwortendes Land AUSGEWIESEN oder in die Psychiatrie EINGEWIESEN.
Am Anfang meiner Antwort hab ich geweint, jetzt spüre ich krasse Wut in mir, dass ich fast vor mir selbst erschrecke … ich erkenne unsere Welt nicht wieder, linke Intellektuelle, die immerhin Bildung genießen durften und es besser wissen müssten, haben sich derart verrannt, dass sie nicht merken, wie falsch sie liegen, die UN hat mit dieser schlimmen Resolution angesichts des 7/10 den schamlosen Antisemitismus weltweit ermutigt und mein Deutschland, mit deiner historischen Verantwortung, hat sich enthalten?! Das macht mich alles echt fertig

6. Hein - November 7, 2023, 21:57

Liebe Lila,
es ist schön, wieder von Dir zu hören. Leider ist der Anlass so furchtbar grausam. Du sollst wissen, dass viele Menschen im ganzen Erdenrund mit Euch empfinden. Wir sind alle Israel, sagte Burkhard Müller-Ulrich in der Sonntagsrunde vom 5. November. Ich wünsche uns, dass dieses WIR für immer mehr Menschen gelten möge.

7. 23-11-07 Letzte Worte ohne Worte – iberty.de - November 7, 2023, 22:38

[…] Lila schreibt weiter aus Israel. […]

8. Rika - November 7, 2023, 23:55

Danke für Deinen so persönlichen Bericht.
Es ist gut, dass Du schreibst – ich reiche Deine Erfahrungen weiter, weil sie so viel besser darüber Auskunft geben, wie „es in Israel aussieht“, als jeder Fernsehbericht, der Bilder zeigt und Zahlen nennt. Mit Deinen Aussagen wird „Israel“ zu einem Menschen im Ausnahmezustand, das kann man auf einer viel tieferen Ebene verstehen, als es nur mit dem Verstand zu erfassen.
Ich wünsche Dir und Euch allen von Herzen, dass es mit „Resi Lenz“ zu schaffen sein wird, die nächsten Wochen zu überstehen.
(Eine Freundin hatte noch nie etwas von Resilienz gehört und fragte in die Runde wer denn diese Resi Lenz sei, von der wir redeten… )

Wellenbrecher wünsche ich Dir –
starke, wie sie an der Nordsee im Deichvorland sind, damit die Flut Dich nicht verschlingt.

9. thorstenthomas - November 8, 2023, 0:40
10. Inch - November 8, 2023, 17:09

Das zu lesen macht mich wütend. Wütend auf alle, die hier zu Anti israelischen Demos rennen. Wütend auf die Relativierer. Wütend auf die, die schweigen. Und wütend auf unsere Politiker:innen.

11. Janette - November 11, 2023, 13:05

Also,
bei „… Angst um die … Soldaten die … den Spuren des inkarnierten Bösen folgen“ bin ich schon ausgestiegen.

Zu welchem Verstehen soll solche Rhetorik beitragen?

Lila - November 11, 2023, 15:03

Wenn du in den Taten der Hamas am 7.10. nicht das inkarnierte Böse erkennen kannst, dann bist du hier falsch.

Welches Verstehen???


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