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Bittere Tage November 17, 2023, 0:08

Posted by Lila in Persönliches.
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Nachts sind die Gedanken schwer. Ich denke an die Geiseln und ihre Familien, denen die Dunkelheit über dem Kopf zusammgeschlagen ist, und wann kommt Morgenlicht? Und ich denke an die Soldaten und Soldatinnen, an ihren Mut, an ihre Motivation, an ihre Jugend. Wir wissen, daß im Lauf des Morgens die Namen bekanntgegeben werden, und gleichzeitig die Einzelheiten zur Beerdigung.

Heute früh ging dann durch Twitter das Bild des jungen Assaf Mester, dessen Name mir nichts sagte, obwohl ich um ihn traurig war wie um die beiden anderen, deren Namen ebenfalls bekanntwurden. Etwas später dann: ein Tweet von Assaf und seinem Urgroßvater. Shmuel Gogol.

Gogol war in ganz Israel bekannt. Als Kind war er im Waisenhaus von Janusz Korczak, und irgendwie hat er Auschwitz überlebt. Er konnte Mundharmonika spielen, spielte an der Rampe, mit geschlossenen Augen, damit er niemanden erkannte von den Menschen, die an ihm vorüberzeogen.

Nach dem Überleben kam der Wiederaufbau seines Lebens, Heirat mit einer Überlebenden, Ruthi aus Deutschland, dann gemeinsam Aliyah nach Israel, und der Aufbau des Mundharmonika-Orchesters in Ramat Gan. Ruthi und Gogol suchten nach überlebenden Verwandten, und in den 60er Jahren fanden sie endlich eine verschwundene Nichte wieder.

Diese Nichte war meine spätere Schwiegermutter. Sie war glücklich, in Gogol einen Verwandten ihres verschollenen Vaters gefunden zu haben. Die kleine, durch den Holocaust grausam dezimierte Familie hielt zusammen. Ruthis und Gogols Sohn war ein paar Jahre älter als mein späterer Mann.

Als ich in die Familie einheiratete, bangte mir ein bißchen, die vielen Überlebenden der Familie kennenzulernen, aber das war überflüssig. Alle nahmen mich herzlich auf, und viele Jahre waren die Beziehungen eng. Aber als bei den Gogols Enkelkinder kamen und bei uns Kinder, sahen wir uns nur noch auf Beerdigungen und Hochzeiten. Die alten Gogols starben, Shmuel zuerst, kurz nachdem er mit Yitzhak Rabin in Warschau war, wo er wieder mit seiner Mundharmonika an der Rampe spielte. Diesmal mit seinem jungen Orchester und geöffneten Augen. Ruthi blieb der Familie noch viele Jahre erhalten, reiste auch in ihre Heimat, wo ein Stolperstein für ihre gesamte Familie enthüllt wurde.

Alle paar Jahre fand eine „Gogoliada“ statt, ein großes Familientreffen aller Gogols, wo auch meine Schwiegermutter dabei war.

Kurz – als ich sah, daß ein Urenkel von Shmuel Gogol letzte Nacht im Gazastreifen gefallen ist, war mir klar, daß ich entweder seine Mutter oder seinen Vater kenne. Und daß mein Mann unbedingt zur Beerdigung muß. Also habe ich schnell recherchiert und der Name von Assafs Mutter sagte mir auch, welche Gogol-Tochter es war, die letzte Nacht ihren 22jährigen Sohn verloren hat und ihn mittags begraben muß.

Für mich war der Weg zu weit, um noch rechtzeitig zur Beerdigung anzukommen, aber mein Mann und seine Schwester schafften es. Alle waren da – die Verwandten des verlorenen Vaters meiner Schwiegermutter. Meiner lieben Schwiegermutter, die alle ihre Verwandten liebte, waren diese Angehörigen des Vaters, den sie nie kennenlernen konnte, war dieser Zweig der Familie besonders kostbar. Wir haben sie vor über einem Jahr verloren, ein sehr schwerer Abschied. Und jetzt hat diese Familie, die sich aus Schutt und Asche aufgerappelt hat, und der Familienleben über alles geht, einen so jungen Sohn verloren.

Mein Mann sagt, es waren sehr viele Menschen auf dem kleinen Friedhof, und ein Meer von Fahnen. Wir werden auch zur Shiva fahren.

Was kann man zu so einem Schicksal sagen? Assafs Großeltern sind im Schatten des Holcaust aufgewachsen, der ihre Kindheit bestimmte. Shmuel Gogol konnte mit seinem Sohn nicht darüber sprechen, erst den geliebten Enkelinnen öffnete er sich. Daß eine von ihnen jetzt ihren jungen Sohn verloren hat – dafür finde ich keine Worte.

Ich sage oft, daß sich in jüdischen Familien die Traumata über Generationen die Hände reichen. Das meine ich damit.

Kommentare»

1. Andre Müller - November 17, 2023, 2:53

Es wird einem so schwer ums Herz, wenn man diese Zeiten liest. Wie viel Tod und Leid kann ein einziges Volk ertragen müssen?
Danke dir fürs aufschreiben, nicht nur in diesem Post, auch in denen davor und drüben auf Twitter/X.

2. ha220782 - November 17, 2023, 9:51

Danke

3. Irene - November 17, 2023, 10:10

Wir alle, die wir dies lesen dürfen, können dankbar sein für diese Geschichten. So bekommen die Opfer auch für uns entfernte Leser ein Gesicht. Wieder und wieder erschütternd, mir kommen immer schneller die Tränen. Die Nachrichten im TV vermögen nicht so zu berühren, sie sind eher erschreckend und machen wütend, auch wegen der verfälschenden Wortwahl. Ich bin froh über Deine Kraft, dies alles an uns weiterzugeben.

4. Harald - November 17, 2023, 21:45

Dank dir, Lila, für diesen und andere Blog- und Social-Media-Posts.

Es sind wieder besonders schwere Zeiten, und sie machen auch besonders schwere Herzen.

Aber ich sollte schweigen, denn über mir fliegen keine Raketen mit tödlicher Fracht.

Haltet durch!

Schabbat Schalom!

(Ich sage das als Nichtjude, aber das darf keine Rolle spielen.)

5. madeleine - November 18, 2023, 1:14

Danke Lila, danke.

6. Julia - November 18, 2023, 2:34

Danke. Es ist herzzerreißend


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