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Bittere Tage November 17, 2023, 0:08

Posted by Lila in Persönliches.
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Nachts sind die Gedanken schwer. Ich denke an die Geiseln und ihre Familien, denen die Dunkelheit über dem Kopf zusammgeschlagen ist, und wann kommt Morgenlicht? Und ich denke an die Soldaten und Soldatinnen, an ihren Mut, an ihre Motivation, an ihre Jugend. Wir wissen, daß im Lauf des Morgens die Namen bekanntgegeben werden, und gleichzeitig die Einzelheiten zur Beerdigung.

Heute früh ging dann durch Twitter das Bild des jungen Assaf Mester, dessen Name mir nichts sagte, obwohl ich um ihn traurig war wie um die beiden anderen, deren Namen ebenfalls bekanntwurden. Etwas später dann: ein Tweet von Assaf und seinem Urgroßvater. Shmuel Gogol.

Gogol war in ganz Israel bekannt. Als Kind war er im Waisenhaus von Janusz Korczak, und irgendwie hat er Auschwitz überlebt. Er konnte Mundharmonika spielen, spielte an der Rampe, mit geschlossenen Augen, damit er niemanden erkannte von den Menschen, die an ihm vorüberzeogen.

Nach dem Überleben kam der Wiederaufbau seines Lebens, Heirat mit einer Überlebenden, Ruthi aus Deutschland, dann gemeinsam Aliyah nach Israel, und der Aufbau des Mundharmonika-Orchesters in Ramat Gan. Ruthi und Gogol suchten nach überlebenden Verwandten, und in den 60er Jahren fanden sie endlich eine verschwundene Nichte wieder.

Diese Nichte war meine spätere Schwiegermutter. Sie war glücklich, in Gogol einen Verwandten ihres verschollenen Vaters gefunden zu haben. Die kleine, durch den Holocaust grausam dezimierte Familie hielt zusammen. Ruthis und Gogols Sohn war ein paar Jahre älter als mein späterer Mann.

Als ich in die Familie einheiratete, bangte mir ein bißchen, die vielen Überlebenden der Familie kennenzulernen, aber das war überflüssig. Alle nahmen mich herzlich auf, und viele Jahre waren die Beziehungen eng. Aber als bei den Gogols Enkelkinder kamen und bei uns Kinder, sahen wir uns nur noch auf Beerdigungen und Hochzeiten. Die alten Gogols starben, Shmuel zuerst, kurz nachdem er mit Yitzhak Rabin in Warschau war, wo er wieder mit seiner Mundharmonika an der Rampe spielte. Diesmal mit seinem jungen Orchester und geöffneten Augen. Ruthi blieb der Familie noch viele Jahre erhalten, reiste auch in ihre Heimat, wo ein Stolperstein für ihre gesamte Familie enthüllt wurde.

Alle paar Jahre fand eine „Gogoliada“ statt, ein großes Familientreffen aller Gogols, wo auch meine Schwiegermutter dabei war.

Kurz – als ich sah, daß ein Urenkel von Shmuel Gogol letzte Nacht im Gazastreifen gefallen ist, war mir klar, daß ich entweder seine Mutter oder seinen Vater kenne. Und daß mein Mann unbedingt zur Beerdigung muß. Also habe ich schnell recherchiert und der Name von Assafs Mutter sagte mir auch, welche Gogol-Tochter es war, die letzte Nacht ihren 22jährigen Sohn verloren hat und ihn mittags begraben muß.

Für mich war der Weg zu weit, um noch rechtzeitig zur Beerdigung anzukommen, aber mein Mann und seine Schwester schafften es. Alle waren da – die Verwandten des verlorenen Vaters meiner Schwiegermutter. Meiner lieben Schwiegermutter, die alle ihre Verwandten liebte, waren diese Angehörigen des Vaters, den sie nie kennenlernen konnte, war dieser Zweig der Familie besonders kostbar. Wir haben sie vor über einem Jahr verloren, ein sehr schwerer Abschied. Und jetzt hat diese Familie, die sich aus Schutt und Asche aufgerappelt hat, und der Familienleben über alles geht, einen so jungen Sohn verloren.

Mein Mann sagt, es waren sehr viele Menschen auf dem kleinen Friedhof, und ein Meer von Fahnen. Wir werden auch zur Shiva fahren.

Was kann man zu so einem Schicksal sagen? Assafs Großeltern sind im Schatten des Holcaust aufgewachsen, der ihre Kindheit bestimmte. Shmuel Gogol konnte mit seinem Sohn nicht darüber sprechen, erst den geliebten Enkelinnen öffnete er sich. Daß eine von ihnen jetzt ihren jungen Sohn verloren hat – dafür finde ich keine Worte.

Ich sage oft, daß sich in jüdischen Familien die Traumata über Generationen die Hände reichen. Das meine ich damit.

Hochzeit Oktober 19, 2010, 14:37

Posted by Lila in Land und Leute, Uncategorized.
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Die jüngere Generation in Y.s Familie ist fast samt und sonders unter der Haube. Gestern abend heiratete eine besonders liebe Cousine aus dem Familienzweig des verlorenen Vaters meiner Schwiegermutter – der Zweig, den meine Schwiegermutter erst als erwachsene Frau wiederfand. Da wir alle uns erst im Juli beim Familientreffen gesehen hatten und seitdem per Email in Verbindung sind, außerdem unser gemeinsames Projekt „Familienstammbaum“ eifrig weitertreiben und jeder von uns in verschiedene Richtungen weiterbohrt, hatten wir Gesprächsstoff genug.

Ich kann wirklich nicht dankbar genug dafür sein, wie liebevoll mich Y.s Familie in all ihren Zweigen aufgenommen hat – die Familie meines Schwiegervaters, die wir sehr oft sehen, die mütterliche Seite meiner Schwiegermutter und auch die väterliche. Mit allen ist der Kontakt sehr herzlich, alle freuen sich wirklich, uns zu sehen. Ich habe das Glück, daß kein einziges Familienereignis für mich eine Prüfung oder Strafe ist oder etwas, das man nun mal hinter sich zu bringen hat, weder hier noch in Deutschland. Es gibt auch keine Familienkräche oder Dilemmas nach dem Motto „die oder ich“. Alles ganz friedfertige Menschen, was für ein Glück.

Wir hatten alle zusammen einen großen Tisch, und es war sehr gemütlich und auch interessant. Die älteste Verwandte, Tante Ruthi, erzählte mir sehr aufgeregt, daß sie Ende der Woche nach Deutschland fliegt, mit ihrer Enkelin. Ja, in ihre Heimatstadt Schwetzingen. Dort werden fünf Stolpersteine zum Andenken an ihre Familie enthüllt, vor dem Haus, in dem sie geboren ist, aus dem sie abgeholt wurde mit ihrer gesamten Familie. Nur sie hat überlebt. Sie hat mir auch zum ersten Mal erzählt, wie schwer es für sie und ihren Mann (ebenfalls Überlebender) mit dem ersten Kind war. Ihr ältester Sohn, der neben ihr saß und sich wie immer rührend um sie kümmerte, war für sie zuerst mehr eine Last, aber er war auch ihr Weg zurück ins Leben.

So saßen wir im Trubel und sprachen über traurige Dinge, da tauchte auf einmal eine junge Frau auf und näherte sich strahlend und aufgeregt der Tante. Sie stellte sich höflich vor – sie war eine frühere Schülerin des längst verstorbenen Mannes der Tante, Shmuel Gogol. Er hatte ja sein Überleben in Auschwitz hauptsächlich seinem Können auf der Mundharmonika zu verdanken und gründete nach dem Krieg in Ramat Gan sein Mundharmonika-Orchester, das ihn bekannt gemacht hat. Bei seiner Beerdigung, sagte Y., standen die Mundharmonika-Kinder lange am Grab und weinten um ihn. Diese junge Frau war eines von ihnen gewesen und die Tante erinnerte sich an sie.

Sie setzte sich zu uns und beide ergingen sich in Erinnerungen an den verstorbenen Mann. Die junge Frau geht jedes Jahr zum Holocaust-Gedenktag in ihre alte Schule, wo sie den Schülern von Gogol erzählt.  Sie sagt, sie spielt immer noch auf ihrer Mundharmonika, aber nicht mehr öffentlich, außer am Holocaust-Gedenktag. Und es war für sie eine große Freude und Aufregung, als sie hörte, daß die Braut, mit der sie befreundet ist, eine Verwandte von Gogols ist. Als sie das hörte, nahm sie sich vor, die Witwe anzusprechen. Die Witwe freute sich natürlich auch, daß ihr Mann nicht vergessen ist.

Ja, es war ein schöner Abend. Meine beiden Mädchen und ich trugen wie auf Verabredung schicke schwarze Kleider, ich zog nach langer Zeit auf halbhohen Absätzen mal wieder richtig hohe Schuhe an – und wurde prompt mit einem Bohlenfußboden belohnt, in dessen Zwischenräume meine Absätze genau reinpaßten. Ich hatte ganz vergessen, daß hohe Absätze eine besondere Form der Aufmerksamkeit erfodern. Immerhin, es war warm genug, daß wir alle in diesem Festgarten (in Israel heiratet man entweder in Festhallen oder Festgärten) in Sommerkleidern saßen und es auch um Mitternacht noch warm war, viel zu warm für meinen Geschmack. Aber der Festgarten war freundlich, ein altes Anwesen mit alten Bäumen, kein synthetisches Pseudo-Hollywood (was ich nicht ausstehen kann….), und die Stimmung war gut.

Der Bräutigam kommt aus einer marokkanischen Familie, die in einem Moshav mit überwiegend marokkanischen Israelis lebt – es gab also viel marokkanische Musik, zu der viele Leute tanzten. Ich saß am Polen-und-Jeckes-Tisch, der höflich zuguckte. Y. und die Mädchen gingen tanzen, ich verzichtete absatzhalber.  Wir kamen erst spät nach Hause.

Ich werde mal die Zeitungen abgrasen, ob ich was finde über die Zeremonie in Schwetzingen. Falls ich durch Zufall dort Leser habe, die hingehen – das wäre natürlich toll.  Ich habe nach meiner Berlin-Reise erfahren, daß es Deutsche gibt, die diese Stolpersteine als Ohrfeige und Demütigung empfinden, als Sich-Suhlen in der Täterrolle.  Oder als Alibi, als ein Sich-Freikaufen. Ich kann sogar nachvollziehen, wie man mißtrauisch werden kann solchen Gesten oder Symbolen gegenüber. Ich persönlich finde aber, wenn eine Frau wie die Tante leise sagt, „das machen die Deutschen gut, daß sie die Erinnerung wachhalten…“, dann ist das Projekt mehr als gerechtfertigt.

Tsen Brider Juli 17, 2010, 17:53

Posted by Lila in Land und Leute.
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Das Lied ist mir den ganzen Tag im Kopf herumgegangen. Heute war das Familientreffen, das meine Schwiegermutter organisiert hat – ihr ist bei einem Brit mila im Februar aufgefallen, daß die einzelnen Zweige ihrer Familie einander nicht kennen.

Meine Schwiegermutter ist in Tashkent geboren, obwohl ihre Eltern beide aus Polen kamen. Ihr Vater, Jozef,  verschwand in der Roten Armee – angeblich ist er in Stalingrad gefallen.  Ihre Mutter hatte mit schwerem Herzen ihre Eltern und viele jüngere Geschwister zurückgelassen, die nicht aus Polen fliehen wollten oder konnten – sie wußte nicht, was ihnen zustieß. Nach dem Krieg kehrte sie in ihr Dorf zurück und erfuhr dort, daß von der ganzen Familie niemand am Leben geblieben war – alle, alle waren im Ghetto Warschau gestorben. Nur eine kleine Schwester hatte überlebt. (Ich weiß, einen Teil dieser Geschichten habe ich schon erzählt, aber es sind ja immer auch mal wieder Neuleser da…)

Diese kleine Schwester, heute eine immer noch anmutige alte Dame, war eine Zeitlang durch die Kanalisation des Ghettos nach draußen gekrochen, um etwas zu essen für die Familie zu finden. Als das nicht mehr ging und alle kurz vor dem Verhungern standen, schickte eine ältere Schwester sie aus dem Ghetto, um sich zu retten. „Lauf, bis du Leute findest, die dir helfen“. Wie durch ein Wunder kam die kleine Schwester zu polnischen Bauern, die sie versteckten und ihr Leben retteten. Sie fährt oft nach Polen, weil sie sich dieser Familie sehr verbunden fühlt.

Das wußte die Mutter meiner Schwiegermutter aber zu diesem Zeitpunkt nicht.  Doch sie hörte, daß die jüngste Schwester am Leben geblieben sei, und suchte sie durch Bekannte – aber das war Jahre später.

Dies also ist die Mutter meiner Schwiegermutter, die sich gegen Kriegsende mutterseelenallein wiederfand, nur mit einer kleinen Tochter auf dem Arm. Wie und wo genau sie ihren späteren zweiten Mann traf, wissen wir nicht. Er war Überlebender das Lagers Auschwitz und hatte dort eine Frau und drei Kinder verloren. Auch sonst hatte er niemanden mehr. Die polnischen Dörfer, in denen ganze Großfamilien lebten, waren gründlich ausradiert, aus seinem hatte niemand überlebt. Diese beiden verzweifelten Menschen beschlossen, nicht den Tod zu wählen, sondern das Leben, und heirateten. Sie lebten in einem kleinen Häuschen in Polen und bekamen noch drei Kinder. Der ältesten Tochter erzählten sie nicht, daß sie eigentlich vom ersten Mann der Mutter stammte, dem verschwundenen Jozef.

Die Eltern arbeiteten schwer und sparten Geld für eine Überfahrt nach Israel, und irgendwann hatten sie genug beieinander. Meine Schwiegermutter erinnert sich noch an die Überfahrt. Ihr erspartes Geld hatten polnische Beamte ihnen abgenommen, einer schüttete ihnen aus Bosheit die mitgebrachte Milch weg, so daß der jüngste Bruder furchtbar weinte, bis sie irgendwoher Milch beschaffen konnten. Auf dem Schiff, der Le-Komemiyut,  herrschte drangvolle Enge.

In Israel war die Familie zunächst in einem Auffanglager (Maabara) in der Nähe von Haifa. Dann bekamen sie irgendwann einen winzigen Hof zugeteilt, wo sie eine kleine Landwirtschaft betrieben. Das Sochnut-Häuschen war so klein, daß  nicht für alle Kinder Platz war. (Vor fünf Jahren haben wir einen Familienausflug an diesen Ort gemacht, die Bilder sind hier.) Die drei Ältesten wurden also auf drei verschiedene Kibbuzim verteilt, in Gruppen der sogenannten Aliyat-ha-Noar, einer Organisation, die sich um Kinder von Holocaust-Überlebenden kümmerte.  Die ganze Familie änderte ihre polnisch-jiddischen Vornamen in hebräische Namen um.

Für meine Schwiegermutter und ihre Geschwister war das nicht einfach. Sie kam in den Kibbuz, in dem sie bis heute lebt – und in dem bis vor kurzem auch wir gelebt haben. Ihr Bruder in einen nahegelegenen Kibbuz im Yizreel-Tal, und die Schwester in einen Kibbuz im Negev.  Sie heiratete meinen späteren Schwiegervater, der eines der ersten Kinder des Kibbuz gewesen war, also gewissermaßen heiratete sie in die Kibbuz-Aristokratie ein.

Y. hat oft von den Fahrten zu den armen, bienenfleißigen und sehr liebevollen Großeltern erzählt. Es war ein großes Erlebnis für ihn, wenn er mit dem Großvater mit Wagen und Maultier loszog, die Milchkannen einsammeln. Ein Auto hatten natürlich weder die Eltern (arme Kibbuzniks) noch die Großeltern (arme Landwirte).  Aber Y. sagt, es herrschte bei den Großeltern keine traurige oder bedrückte Atmosphäre, er war sehr gern bei ihnen. (Er war der erste Enkel für beide Großelternpaare).

Doch zurück zu meiner Schwiegermutter vor Y.s Geburt. Sie erinnerte sich ungenau, daß sie den Vater manchmal sagen hörte: das ist eigentlich die Tochter meiner Frau, aber ich liebe sie wie eine eigene…., aber als Kind dachte sie nicht weiter darüber nach. Doch als sie das ihrem Verlobten erzählte, horchte der sofort auf. Da verbarg sich doch eine Geschichte – ein Geheimnis. Es war Anfang der 60er Jahre, vielleicht 1961 oder 62 – sie heirateten 1962, und 1963 wurde mein Mann geboren.

Gemeinsam fuhren sie zu den Eltern, um aus der Mutter herauszubringen, was sich da für eine Geschichte verbarg. Schließlich gab die Mutter zu, daß sie schon einmal verheiratet gewesen war, und sagte ihrer Tochter den Namen des Vaters, der auch ihrer gewesen war.  Mit diesem Wissen bewaffnet wandten meine Schwiegereltern sich an das Einwohnermeldeamt. Der Name war selten, und es gab nur eine solche Familie. Das junge Paar machte sich sofort auf den Weg dorthin.

Als sie bei der verlorenen Familie ankamen, wartete dort auf sie – die Mutter. Sie hatte begriffen, wie wichtig ihrer Tochter der verlorene Teil ihrer Vergangenheit und Familie war, und hatte sich schon vorher durchgefragt. Heute, auf dem Familientreffen, waren noch einige der Menschen versammelt, die bei diesem Treffen dabei waren. Sie erinnerten sich mit Tränen daran, wie die Tochter des verlorenen Jozef auf einmal vor ihnen stand. Die Familie war klein – und alle, alle hatten durch den Holocaust direkt oder indirekt gelitten. Ein Onkel, Shmuel Gogol (in Israel sehr bekannt wegen seines Mundharmonika-Orchesters – schöne alte Bilder von Shmuel hier) hatte die verschwundene Witwe Jozefs und ihr Kind gesucht, aber wegen der geänderten Namen nicht gefunden. Eine Cousine, die einzige Cousine, erinnerte sich heute ebenfalls an diesen Tag, als sie endlich, endlich auch eine Cousine bekam, wie andere Kinder. Wohlgemerkt – potentielle andere Cousinen waren ihr durch den Holocaust versagt, der die Familie grausam dezimiert hatte.

So hatte meine Schwiegermutter einen ganz neuen Zweig Familie dazugewonnen, zu dem sie die ganzen Jahre engen Kontakt hielt, den Zweig ihres verschwundenen Vaters. Die jüngste Schwester ihrer Mutter, die einst das Kind aus dem Warschauer Ghetto war, heiratete einen kernigen Moshavnik und zog mit ihm drei Kinder groß, die natürlich auch alle schon große Kinder haben. Auch bei ihr verbrachte Y. wunderschöne Kindheitsferien – er durfte auf dem Traktor mitfahren und Weintrauben pflücken, denn diese wunderbaren Moshavniks bauten Obst an. „Onkel und Tante mit den Äpfeln“ heißen sie auch bei meinen Kindern, weil sie immer, immer Obst mitbringen.

Und vor einiger Zeit also beschloß meine Schwiegermutter, sowohl die Familie ihrer Mutter und Tante als auch die Familie des Vaters einzuladen, und allen genau zu erklären, wie wer mit wem verwandt ist. Da meine Schwiegermutter bemerkt hatte, daß niemand mehr durch die verzwickten Familienverhältnisse durchblickte, lud sie uns alle ein. Sie bereitete einen Stammbaum vor, in den heute jeder eintrug, was er wußte, und sie stellte alle der Reihe nach vor. Durch den Holocaust sind ja so große Löcher gerissen, daß man vieles einfach nicht weiß, weil die Überlebenden nichts erzählen wollen oder können. Menschen fehlen, Orte fehlen, Geschichten haben Löcher. Viele davon konnten wir heute flicken.

Bevor sich alle an die Tische setzten, die im Clubhaus des Kibbuz vorbereitet waren, wand sich meine Schwiegermutter mit einer Bitte an uns: wir sollten uns so „gemischt“ wie möglich setzen. Wir haben das auch alle brav getan, und ich fand mich mit einem Paar wieder, das ich wirklich noch nie richtig wahrgenommen hatte. Der Mann, etwa zehn Jahre älter als wir, ist ein Bruder der einzigen und von allen sehr geliebten Cousine – er kommt nur selten zu Familientreffen, darum hatte Y. ihn ewig nicht gesehen und ich überhaupt noch nie mit ihm gesprochen.

Seine persönliche Geschichte war ganz ähnlich wie die meiner Schwiegermutter, seiner Cousine: in Polen geboren, Kind von Holocaust-Überlebenden, eine große Schwester von einem anderen Vater, als Kleinkind nach Israel mit ausgewandert, Namen hebraisiert, im Kibbuz aufgewachsen, lebenslang versucht, sich als Sabra zu fühlen, und null Interesse für die Vergangenheit. Heirat, Kinder, Scheidung.

Jetzt, wo er in die nachdenklichen Jahre kommt, steigen Fragen wie Blasen in ihm auf. Er recherchiert übers Internet, sucht Spuren, schreibt alles auf. Er war noch nicht in Polen, er hat Angst davor. Aber er möchte den Familiennamen ändern, wieder so heißen wie jener Jozef, sein Onkel und Y.s Großvater, der nie aus dem Krieg zurückkam. Auch seinen Vornamen würde er am liebsten wieder in den europäischen Namen zurück-verändern lassen.  Er sucht nach einer verschütteten Identität, nach dem verschollenen, ausgelöschten Leben in einem kleinen Dorf in Polen, wo alle so hießen wie er früher. Er findet entfernte Verwandte in Buenos Aires. Die Familien, die einst so eng beisammen wohnten, sind nun zersplittert, und man muß sie mühsam suchen.

Mit mir saß Secudus, der interessiert zuhörte und von seiner Reise nach Polen erzählte (darüber habe ich nichts geschrieben, glaube ich, aber über Primus´).  Eine andere Tante, aus der Gogol-Verwandtschaft, erzählte von der Polenfahrt ihres Sohnes. Er entdeckte während der Fahrt, daß der belgeitende Überlebende, der „Zeuge“, Shmuel Gogol kannte. Daraufhin kaufte sich der Urnkel eine einfache, billige Mundharmonika und spielte in Auschwitz an der Rampe, so wie der Großvater Gogol als Kind gespielt hatte. (Ich bin froh, daß ich 1989 Shmuel Gogol und sein Orchester noch gehört habe. Er ist dann mit Rabin nach Polen mitgefahren, hat mit Kindern aus seinem Orchester in Auschwitz gespielt und ist kurz darauf gestorben. Ich finde es gar nicht selbstverständlich, daß diese ganze Familie mich so herzlich aufgenommen hat – wie viele polnische Küßchen habe ich heute bekommen…

Nach dem Essen erzählten, auf Bitten meiner Schwiegermutter,  einige Familienmitglieder ihre Erinnerungen und erklärten Details des Familienstammbaums. Immer wieder kam dabei der Holocaust zur Sprache, nicht als Thema, sondern als Nebensatz, „durch den Holocaust…“, „nach dem Holocaust…“, „wir als zweite Generation…“. Für mich schwebten vor allem Konjunktivsätze durch die Luft: „ohne den Holcaust….“. Ja, ohne den Holocaust wären viel mehr Menschen zusammengekommen. Die älteste Teilnehmerin sah zwar stolz auf die beachtliche Menschenmenge, die sich um Salat und Quiche versammelte, und beglückte alle anwesenden Kinder mit Luftballons, die sie aus der Tasche ihres Gehwagens zog… aber die Verschollenen, Ermordeten waren trotzdem anwesend. Ashkenazim geben ihren Kindern ja gern die Namen von Verstorbenen, was bei Sphardim strikt untersagt ist. So kehren in der Großfamilie manche Namen immer wieder auf – Rose und Lili für die Mädchen, in allen möglichen Variationen, Gershon und Mordechai für die Söhne.

Ach, wenn ich den Deutschen, die die Vergangenheit endlich ruhen lassen wollen, nur zeigen könnte, daß die Narben bleiben, von Generation zu Generation. Und sie bleiben nicht etwa, weil jemand darauf zeigt und sie immer wieder aufkratzt, sondern sie bleiben trotz größter Bemühungen, sie verheilen zu lassen, neu anzufangen, viele glückliche Kinder und Kindeskinder in die Welt zu schicken.

Ich habe, wie schon beim 75. Geburtstag von Y.s Großmutter vor ein paar Jahren, sehr stark gespürt, wie stark die Fehlenden fehlen. Damals mußte ich rausgehen, um meine Fassung wiederzugewinnen, als ich die beiden überlebenden Schwestern zusammen sah. Bei der Beerdigung der Großmutter weinte die kleine Schwester nicht, sondern streichelte über die Erde auf dem Grab und sagte: sie hat ein Grab – ich kann an ihr Grab gehen. All die anderen haben keine Gräber. Das war ihr Trost.

Doch die, die heute zusammen saßen, die werden für ihr Recht kämpfen, Gräber zu haben und nicht in Rauch und Asche aufzugehen.

Erev polin November 7, 2007, 1:09

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen, Land und Leute.
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Vielleicht erinnert sich noch jemand, daß Primus im August auf Abschlußfahrt war – in den Sommerferien zwischen elfter und zwölfter Klasse, die ja hier die Abschlußklasse ist. Die traditionelle israelische Abschlußfahrt geht nicht nach Florenz und nicht nach Amsterdam, sondern nach Polen, genauer gesagt, nach Auschwitz, Birkenau, Treblinka, Warschau. Es ist eine Gedenkfahrt.

Ich kenne eine der großen pädadogischen Persönlichkeiten, die diese Fahrten entwickelt haben, aus dem Gedanken heraus, daß zum Erwachsenwerden in Israel und zum Aufbau der Identität als Israeli diese Fahrt notwendig ist. Denn die Shoah kann man nicht als Lernstoff in der Schule pauken wie den Dreißigjährigen Krieg oder die Elemententabelle, die Shoah ist Teil des lebendigen Lebens hier, Teil der Familien, und das muß man lebendig erfahren. Obwohl diese Fahrt natürlich im Unterricht ein ganzes Jahr lang gründlich vorbereitet wird – die israelischen Geschichtslehrer arbeiten daran in unermüdlichem Eifer und Fleiß.

Diese Pädagogin hat interessanterweise heute große Zweifel an dem Projekt, das sie selbst mit entwickelt hat, und meint, für manche Schüler ist der emotionale Schock zu groß. Die Frage, wie weit wir in der Vergegenwärtigung der Shoah für das Gedenken gehen dürfen, ist ja eine offene und ungelöste. Als Tertia im Kindergarten war, kam sie am Yom ha Shoah nach Hause, am Gedenktag, und meinte, sie will nachts auf dem Boden schlafen, „denn die Kinder in Theresienstadt hatten keine Decken und Matratzen“. Da hatte ich das Gefühl, die Kindergärtnerin ist zu weit gegangen in ihrem Wunsch, den Kindern die Shoah zu erklären.

Oder das traurige Buch über den Jungen mit der Mundharmonika, der bei Janusz Korczak im Waisenhaus war und an der Rampe überlebt hat, weil er musikalisch war und im Orchester spielen konnte. Der bei der Selektion die Augen schloß, um die bekannten Gesichter nicht zu sehen. Dieses Buch hat meine Schwiegermutter den Kindern geschenkt, als es herauskam, weil es das Schicksal ihres Onkels ist, das dort geschildert wird – eines Onkels, den ich auch noch kennengelernt habe. Wir haben noch ein Bild von ihm, wie er Primus auf seinem tätowierten Arm hält. (Shmuel Gogol). Wie fern darf ich das von meinen Kindern halten, wie nah darf ich es an sie herankommen lassen?

Primus hat nicht viel erzählt. Er meinte nur, der Brief, den wir ihm mitgegeben haben (das gehört dazu: die Eltern geben den Kindern verschlossene Briefe mit, die die Kinder in Auschwitz öffnen und lesen und einander vorlesen), war sehr gut. Und daß er seine Freunde jetzt viel besser kennt. Und daß Amotz im Hotel immer das beste Zimmer hatte. Aber sonst, meinte er, kann man das nicht erzählen.

Heute abend also, der Abend, an dem die Eltern eingeladen sind, sich von den Kindern berichten zu lassen, was sie erlebt haben. Der Polen-Abend, erev polin. Er fand im Foyer der Kulturhalle der Gegend statt, wo wir das letzte Mal alle zusammen waren, als diese Jahrgangsstufe die Grundschule abschloß, wie immer mit einer großen Inszenierung und einem riesigen Fest. Diesmal war aber eine ganz andere Stimmung. Wie immer trafen wir jede Menge Leute, die mit Y. in der Schule waren, auf deren Hochzeiten wir getanzt haben, deren Kinder mit unseren gespielt haben und die nun synchron erwachsen werden.

Der Abend selbst – viele Reden und Ansprachen, von Schülern, Lehrern, den extra dafür ausgebildeten jungen Reisebegleitern (wohl Studenten, die einen sehr guten Eindruck machten), Eltern. Die beste Rede hielt der alte Mann, Überlebender von Auschwitz, der die Kinder begleitet hat und, obwohl er anfangs dachte, er kann es nicht, sich den Kindern richtig geöffnet hat und ihnen Dinge erzählt hat aus seinem Leben, die er vorher für sich behalten hatte. Er machte diese Reise als Begleiter von Schülern erst zum zweiten Mal, aber es war ihm wichtig, daß seine Lebensgeschichte nicht vergessen wird. Es ist für ihn eine Art Abschluß.

Er meinte, mit seinem starken polnischen Akzent, an die Eltern gerichtet: „als Eltern und Großeltern sagen wir immer, oh, als WIR in dem Alter waren! Aber ich will euch was sagen: als WIR so alt waren – waren wir nicht so gut wie eure Kinder“, und hat uns erzählt, wie wunderbar unsere Kinder auf der Fahrt waren, wie offen und wie gut sie zuhören können und wie gut sie genau die richtigen Fragen stellen. Alle waren sehr gerührt und viele elterliche Hände rubbelten mal schnell über ein jugendliches Knie oder Schulterblatt.

In der Jahrgangsstufe sind ein paar begabte Kinder, die sehr schön Gitarre spielten und sangen. Ein paar Mädchen hatten einen Tanz zum Thema choreographiert, so eine Art lyrischer Expressionismus, mit dem ich bei solchen Gelegenheiten weniger anfangen kann – aber da die tanzbegeisterten Mädchen sich auf diese Art und Weise ausdrücken, bin ich mal nicht so kritisch.

Dann der Film. Das Mädchen, das den Film gemacht hat, hat ganze Arbeit geleistet. Ich habe ihr hinterher gesagt, ich finde, der Film sollte ins Internet gestellt werden, weil er gut ist. Aber wie traurig ist es, unsere Kinder so bedrückt durch Auschwitz schleichen zu sehen, in ihren weißen Hemden, mit der Flagge. Ich habe irgendwo gelesen, wie es die Polen nervt, daß diese israelischen Jugendlichen mit ihren Flaggen allgegenwärtig sind – aber wäre die polnische Erde nicht mit jüdischem Blut getränkt, gäbe es auch diese Besucher nicht. Die Schüler hatten Listen mit Namen von Familienmitgliedern mit, die sie dann auf Friedhöfen suchten. Sie fanden auch ein paar.

Primus hatte vorher meine Schwiegermutter interviewt und hat die Namen der Geschwister und Eltern ihrer Mutter, also seine Urgroßeltern und Großonkel und -tanten, verlesen. Das sind die Verwandten, die kein Grab haben – also die Mutter meiner Schwiegermutter vor etwa einem Jahr begraben wurde, sagte die einzig überlebende Schwester traurig, „sie hat wenigstens ein Grab, alle anderen Schwester und Brüder haben das nicht“. Die Namen dieser Geschwister, nach denen in der Familie auch immer wieder Kinder genannt werden, hatte Primus also dabei, ihre Geschichten, die Namen der Orte, in denen sie gelebt hatten.

Besonders fiel mir eine Szene auf. Die Kinder besuchten, begleitet und vorbereitet von den Lehrern, Gruppenleitern und dem alten Mann, ein uraltes Ehepaar. Zwei chassidei umot ha-olam, Gerechte unter den Völkern – Menschen, die in Yad vaShem als Gerechte geehrt wurden, weil sie unter Einsatz ihres Lebens Juden gerettet haben. Die alte Frau erzählte, weinte dabei, der Enkel übersetzte ins Englische.

Hinterher ließen die Kinder sich mit dem alten Paar photographieren. Die Kinder lächelten, die alten Leute auch. Sie beugten sich hinterher so respektvoll zu dem Paar, um sich von ihnen zu verabschieden, die auf ihrer Bank saßen – das hat mir gefallen. Ich sehe ja diese Fähigkeit zur Dankbarkeit, diesen Willen, jede positive Tat anzuerkennen und zu benennen und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, als besonderes Charakteristikum der jüdischen Mentalität, wenn es sowas überhaupt gibt… Das war wohl sehr wichtig, die Nichtjuden nicht zu dämonisieren, sondern zu zeigen, wie mutig manche waren.

Doch die alte Frau sagte öfter, die Deutschen. „Als die Deutschen kamen“. Die Deutschen, tja. Wo kommen meine persönlichen Gefühle als Deutsche ins Spiel?

Ich habe ja schon öfter gesagt, daß die Shoah der Juden und die Shoah der Deutschen zwei verschiedene Minenfelder sind. Ich habe mein deutsches Problem bewußt zurückgehalten, es weder mit Primus noch mit seinen Lehrern herausgehoben. Es spielte einfach keine Rolle. Ich mußte meine Fragen mir selbst stellen.

Als Mutter finde ich, die Kinder wurden durch eine zu harte Erlebniswelt geschickt, auch Y. fand das, er sogar noch mehr als ich. Als Israelin finde ich, wir müssen alles tun, um die Shoah nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Und als Deutsche frage ich mich in großem Schmerz, warum die Nachkommen der Opfer den Schmerz nach-erleiden müssen und wollen und sich ihm stellen, während die Nachkommen der Täter ihre Abschlußfahrten mit Strand und Disco verbringen.

Ja ja, ich weiß, springt mir an den Hals. Deutsche Klassen werden durch Dachau und Buchenwald geschleust, deutsche Schüler lernen über Krieg und Holocaust, bis es ihnen zum Hals heraushängt. Aber wichtig ist die Shoah doch nicht. Sie ist abgetan, vorbei, Geschichte, wir waren es nicht, wir würden auch nie, man muß doch mal sagen dürfen. Der Diskurs der raffgierigen Juden, die per Shoah ihre Schäflein ins Trockene bringen, ist fast schon wieder akzeptiert. Der Diskurs der rachsüchtigen Juden, die an den Palästinensern nun ihr Mütchen kühlen, nachdem sie die Welt ausgetrickst haben, um ihnen den Staat zu stehlen, ist in Deutschland mainstream-fähig.

Kurz, mit dem Schmerz bleiben die Nachkommen der Opfer allein. Es tat weh zu sehen, wie sie sich verstört-trotzig in die blauweiße Flagge wickeln. Magen David, der Schild Davids, mit den Streifen des stilisierten Gebetsmantels. Darunter allein sucht man Zuflucht, weil keine andere Zuflucht sich als tragend erwiesen hat. Daß unsere Kinder so früh damit konfrontiert werden, daß im Zweifelsfall keiner hilft, keiner da ist – das ist hart. Als Baby haben Primus und seine Freunde gemeinsam in ihren ABC-Schutzzelten gelegen, als wir uns damals mit unseren Babies trafen und Scud-Alarm war – Februar 1991 war das, wir erinnern uns bei jedem Treffen daran. Wir Erwachsenen haben die Gasmasken übrigens nicht angelegt, um die Babies nicht zu erschrecken. Dann die Terrorwellen. Letztes Jahr der Krieg.

Womit wachsen unsere Kinder auf? Mit dem Gefühl der Bedrohung von außen, der Stärke von innen.

(Oh, und ich werde die Kommentarfunktion, wenn es geht, für diesen Beitrag ausschalten oder brutal Kommentare löschen, wenn mir jetzt die Traumverlorenen erklären, wie wir schon längst Frieden hätten haben können, wenn wir nur… alles BS, wir leben überhaupt nur noch, weil wir die gegen uns geführten Kriege überlebt haben und die von arabischen Staaten angezettelten UN-Sanktions-Orgien ignoriert haben, wenn sie uns unser Überleben gekostet hätten. Illusionen! Weder Ahmedinjad noch Hamas haben die Absicht aufgegeben, Israel von der Landkarte zu löschen. Da haben wir ein ganz eingeschränktes Aktionsfeld. Wer das nicht weiß, soll es nachlesen.)

Und wie wage ich es, Kinder in die Welt zu schicken, Kinder, in denen dieses doppelte Erbe liegt? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich sie stark machen will, und daß es mir mit Primus gelungen ist.

Obwohl dies hier schon zu lang ist, eine letzte Geschichte. Ich habe schon öfter meine Nachbarin zwei Häuser weiter erwähnt, die Malerin, eine Französin, die ihre gesamte Familie verloren hat, im Waisenhaus aufgewachsen ist, dort schneidern lernte, dann Malerin wurde und mit ihrem Mann im Kibbuz eine Familie. Sie sprach Jahre kein Wort mit mir, bis sie durch Zufall in meine Stunden kam. Seitdem meint sie, ich bin ihr Sauerstoff zum Leben, besonders seit ihr Mann tot ist. Der Vormittag bei mir, das ist ihr Sauerstoff.

Diese hochintelligente, sensible und wache Frau also sagte mir vor ein paar Tagen, Primus erinnert sie an jemanden. Mir sank das Herz, an wen kann mein großer, blonder, blauäugiger Sohn diese von Deutschen brutal verfolgte Frau erinnern? Da sagt sie, „er erinnert mich an meinen großen Bruder. Ich hatte so einen Bruder, der auch so klug war und so ein netter, hilfsbereiter Kerl wie dein Primus. Immer sagt er so freundlich Shalom und lächelt. Ich sehe auch, wie sich um seine kleinen Schwestern kümmert, wie Quarta auf seinen Rücken klettert, wie er dir die Tasche trägt. Genauso war mein Bruder zu mir…“

Das hat mir das Herz um und um gedreht. Wenn mein Sohn einer solchen Frau nicht das Gesicht der Mörder, sondern ihres Bruders in Erinnerung ruft, dann war meine Entscheidung richtig, ihnen dieses doppelte Erbe zuzumuten. Primus zumindest ist daran gewachsen, ist dem gewachsen.

Aber was war das für ein schwieriger Abend. Ich bin fix und fertig, allein vom Zuhören und Nachdenken…

PS: Angesichts der freundlichen Reaktionen habe ich die Kommentarfunktion geöffnet. Paßt irgendwie nicht, sie zu sperren – hoffen wir, daß die Trolle nicht hungrig sind…