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Verwandtentreffen Februar 18, 2007, 1:30

Posted by Lila in Kibbutz, Kinder, Katzen, Land und Leute.
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Anläßlich der Beerdigung von Y.s Großmutter sind von weither die Geschwister seiner Mutter angereist. Heute war großes Familientreffen im Haus der neu angeheirateten Schwägerin – erinnert sich noch jemand an die Hochzeit, zu der wir am 13. Juli in Haifa eingeladen waren? Meine Mutter rief an diesem Tag spätnachmittags an und weil ich gerade unter der Dusche war, sprach sie mit Primus, der ihr von der Einladung erzählte.

Der Bruder meiner Schwiegermutter, geschieden und Vater zweier erwachsener Kinder, schickte ein altes Lied, das er als Jugendlicher für seinen damaligen Schwarm, die Schönheitskönigin von Israel und Zweite in einem Miss-Universum-Bewerb, geschrieben hatte, an die Frau, die inzwischen auch schon mittleren Alters ist. Es war ein spontaner Akt, und sie antwortete spontan. Kurz, irgendwann war die Hochzeit dieses romantischen Paars. (Und sie sieht wirklich auch heute noch sehr gut aus, nicht aufgedonnert, nicht künstlich, sondern einfach eine schöne Frau, in Anmut älter geworden).

Das war der Abend, als die ersten Raketen auf Haifa bzw einen Vorort fielen, kurz vor der Zeremonie. Viele Leute hörten per Handy Nachrichten. Wo ist es gefallen? Haifa sitzt im Bunker, so so? Sind wir hier sicher? Wie kommen wir nach Hause? Und meine Mutter hörte in Deutschland die Nachrichten, ach je, arme Mutter. Da machte sie sich natürlich Sorgen. Das war von allen unvergeßlichen Hochzeiten bestimmt die aller-unvergeßlichste!

Nun, heute waren wir bei dem glücklichen Paar eingeladen, in eine riesige edle Wohnung mit traumhaftem Blick auf die Bucht von Haifa, die sie manchmal bewohnen (wenn sie nicht gerade in den USA sind). Auch die Familie dieser Frau ist holocaust-geschädigt, und das Gespräch ging von den Erinnerungen an die verstorbene Mutter meiner Schwiegermutter ganz selbstverständlich auf die Zeit der Flucht und Verfolgung über. Wie war das eigentlich?, fragten die neuen Verwandten, und meine Schwiegermutter erklärte. Wie ihre Mutter als junge Frau verzweifelt versuchte, ihre Eltern und Geschwister zur Flucht aus Polen zu bewegen, und schließlich als Einzige floh. Wie sie in Taschkent einen jungen Mann kennenlernte, heiratete, dieser Mann zur Armee eingezogen wurde und seine kleine Tochter (meine Schwiegermutter eben) nur einmal sah. Dann verschwand er.

Wie die junge Witwe mit dem stets hungrigen kleinen Mädchen sich irgendwie durchschlug, „jeden Tag geschah ein Wunder, und wir blieben am Leben“, und wie das kleine Mädchen so schwach war, daß es bis zum Alter von drei Jahren nicht laufen lernte. Wie nach dem Krieg die Mutter einen traurigen Mann kennenlernte, der seine Frau und seine drei Kinder im Lager verloren hatte, und wie dieser Mann das kleine Mädchen ansah und nur leise sagte, „das ist meine Sonja“. Wie er die Mutter heiratete und das Mädchen zeit seines Lebens wie eine eigene Tochter behandelte, als sei sie wirklich die ermordete kleine Sonja.

Wie dann die anderen Kinder geboren wurden: die Schwester, heute eine erfolgreiche Geschäftsfrau in Manhattan, der Bruder, der gerade die ehemalige Miss Israel geheiratet hatte und ebenfalls in den USA erfolgreich ist, und der jüngste Bruder, der beim Einsatz in mehreren Kriegen an der Front seine Gesundheit verloren hat. Wie die Eltern schließlich die vier kleinen Kinder aus dem Nachkriegspolen mit seiner Feindseligkeit gegen Juden und seinen unerträglichen Erinnerungen ins Land Israel brachten, dort den kleinen Hof bewirtschafteten und die drei größeren Kinder zur Erziehung in Kibbuzim gaben, weil sie selbst sie nicht ernähren konnten.

Und die Tante, die einzige Schwester der Mutter? Meine Schwiegermutter erzählte, wie die kleine Schwester die ganze Familie im Ghetto verhungern sah. Wie sie durch die Kanalisation kroch, um in einem Kittel unter dem Kleid, den ihre große Schwester mit Taschen versehen hatte, Mehl und Reis ins Ghetto zu schmuggeln, aber es war nie genug. Wie die Frauen ihre Babies über die Ghettomauer warfen, damit sie starben und sich nicht länger quälten. Irgendwann sagte die ältere Schwester der Kleinsten: lauf so weit weg wie du kannst, bleib nicht stehen. Wir werden sterben, du wirst leben und später erzählen, was hier war. Die kleine Schwester lief zuerst zu den Bauern, die Geschäftspartner des Vaters gewesen waren. Niemand öffnete ihr die Tür. Unbekannte nahmen sie auf, gaben ihr einen christlichen Namen, gaben sie als Verwandte aus. Damals war sie zehn Jahre alt.

Auch die Familie der neuen Frau des Onkels kommt aus Polen, und auch sie haben Geschichten. Ihre Schwester ist Künstlerin und verarbeitet die Erinnerungen an den Holocaust und ihre eigene Annäherung an das Judentum in Bildern und Skulpturen. Wir gingen in ihr Atelier und sahen uns viele ihrer Arbeiten an.

So ging der ganze Tag vorbei, mit Essen, Trinken, Kunst angucken, Gesprächen über Krieg, Holocaust und Familie, und Wechsel zwischen traurigen und lustigen Geschichten.

Irgendwann stießen mehr Gäste hinzu, alte Freunde, und das Gespräch wandte sich dem letzten Krieg zu, wie er Haifa traf und wie alle damit irgendwie fertigwurden. Dann verglichen die Männer, wo sie welchen Krieg verbracht hatten. „Ah, da warst du mit Arik im Süden?“ (Arik bedeutet in diesem Falle Arik Sharon). „Nee, Arik ging rechts runter, wir links“. Bei welcher Schlacht war wer dabei, und wie schrecklich das war, und wie toll der nächste Krieg wird, ha-ha, denn da wird alles besser (für Leute, die keine Israelis kennen: sowas meinen Israelis zynisch). „Na“, meinte eine Frau spöttisch, „wenn wir nicht über Krieg sprechen können, dann sprechen wir über den Holocaust“. „Du kommst zu spät“, meinten wir, „über den Holocaust haben wir heute schon gesprochen“.

Y.s Onkel, der Neuverheiratete, erzählte, wie er sich letzten Sommer heldenhafterweise freiwillig meldete – er ist Psychologe und Trauma-Experte. Er rechnete nicht damit, eingezogen zu werden, doch irgendwann bekam er wirklich einen Anruf. Eine Psychologin im Norden war zusammengebrochen, ob er bereit sei, ihren Posten zu übernehmen? Da fiel ihm doch das Herz in die Hosen, ausgerechnet in einen Ort, der unter Dauerbeschuß lag, sollte er gehen? Angst und der Wunsch, die Angst nicht zu zeigen, kämpften in ihm. Schließlich endete er als Not-Psychologe in einem Vorort von Haifa, näher an zuhause, aber auch unter recht häufigem Beschuß.

Wir kamen geradezu erschöpft von so viel Familien-Annäherung wieder. Meine Kinder haben sich tadellos gehalten, ebenso die kleine Nichte, die fasziniert den Schiffen zusah. Man konnte sie wunderbar in den Hafen einlaufen sehen, einige mit Schlepper, einige ohne. Alles sehr brave Kinder. Meine Großen beteiligten sich auch am Gespräch, sogar die Jungen ließen die Familienküsserei ohne Wimperzucken über sich ergehen. Sie entwickeln sich zu echten Gentlemen, holen Getränke herbei, helfen beim Abräumen und machen uns alle (unverdiente) Ehre.

Und nun sind alle Abschiede genommen, alle Onkel und Tanten verschwinden wieder auf lange Zeit in die USA, jeder wird versuchen, den Verlust der „jiddischen Mamme“ (das Lied wurde natürlich auf der Beerdigung zitiert – Lieblingslied der Verstorbenen, die es wiederum ihrer eigenen Mamme verdankte) zu verwinden, und wer weiß, wann dieser Teil der Familie wieder beisammen sitzt. Ich habe Abschiede überhaupt nicht gern, am liebsten verabschiede ich mich schnell, mit einem vagen, „bis demnächst“, und ausgerechnet ich muß andauernd Abschiede über mich ergehen lassen! Ist das fair?

Kommentare»

1. kaltmamsell - Februar 18, 2007, 13:19

Sehr schöner Bericht, danke (und Dein Verlust tut mir sehr leid).
Mir ist das Detail der ko-gastgebendern Jung-Gentlemen aufgefallen: Mein Bruder war genauso, wenn er auf einer meiner Studentinnenfeste eingeladen war, und er hat diese Grundhaltung heute auf seine Vaterschaft übertragen. Zudem habe ich erst gestern Abend auf einem großen Geburtstagsfest eines Freundes dessen ca. 15-jährigen Neffen beobachtet, wie auch er ganz von selbst Aschenbecher leerte, Teller abräumte, für Getränkenachschub sorgte, sich einfach kümmerte.
Mich freut der Bruch des Geschlechter-Stereotyps, und ich sehe das als Beweis, dass es sehr wohl eine neue Männer-Generation gibt.


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