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Yom Kippur Oktober 9, 2019, 21:39

Posted by Lila in Deutschland.
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ist vorbei. Es war wie jedes Jahr ein stiller, ruhiger Tag. Bei uns im Dorf fahren ja sowieso nicht viele Autos, aber heute war kein einziges unterwegs. Auch sonst nicht. Im Norden fahren wohl ein paar arabische Autofahrer, aber Bilder aus den Zeitungen zeigen, daß überall die Straßen leer waren. Fernsehen und Radio hatten den Betrieb ebenfalls eingestellt. (Zwei Kinder sind aber tödlich verunglückt, weil sie eben doch manchmal ein Auto fährt – schrecklich.)

Gegen Mittag habe ich dann per Twitter verfolgt, was in Halle geschah. Ich habe mich mit Einschätzungen zurückgehalten, weil erstmal nicht klar war, ob der Täter wirklich die Synagoge angegriffen hat, ob es ein Amoklauf war oder, wie die Tagesschau behauptete, eine „Schießerei“ (zu der ja immer mindestens zwei gehören). Sobald ich den Bericht des Gemeindevorstands von Halle las, nämlich, daß der Täter versucht hatte, in die unbewachte Synagoge einzudringen, indem er die Tür aufschießen wollte, wurde mir so schlecht, daß ich mich immer noch nicht davon erholt habe.

Der Mörder hat dann, ihr wißt es alle, voller Wut auf Passantin erschossen und einen Mann in einem Dönerladen. Den Stream seiner Tat kann man im Internet sehen. An seiner antisemitischen, rassistischen Einstellung kann kein Zweifel herrschen, er hat selbst gesagt, was er denkt.

Gleichzeitig kamen die Nachrichten über den türkischen Angriff auf die Kurden, und die Wut darüber, über den Verrat des Westens an den schwächeren, mutigen Verbündeten, zischt mir bis über die Ohren, wenn ich nur daran denke. Wenn nichts geschieht, wird die türkische Luftwaffe das Gebiet in Nordsyrien bombardieren, bis alle Kurden tot sind. Ein weiterer Völkermord, wie an den Jesiden, bei dem alle zugucken und sagen: is schon schlimm, ne, bevor sie ihren eigenen Geschäften nachgehen. Von Zeit zu Zeit dann kommen Reden, zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz oder der Kapitulation NS-Deutschlands – nie wieder, also ganz bestimmt nicht!

Daß Netanyahu Trump bis zum ZweiZwölffingerdarm hochgekrochen ist, wird uns nichts nützen. Trump hat von Anfang an gesagt, daß er sich raushält, und ich kann sogar verstehen, wenn amerikanische Wähler sagen, daß ihnen das US-Hemd näher ist als die kurdische Jacke. Aber Verpflichtungen sind Verpflichtungen. Und wenn der Iran uns bombardiert, können wir uns auf dasselbe Schweigen rundherum gefaßt machen.

Ja, und so kamen zu beiden Themen immer mehr Meldungen rein, und mir fiel auf, daß ich nicht überrascht war.  Weder von Trumps Verrat an den Kurden noch an Erdogans absoluter Skrupellosigkeit (was von seinen Vorwürfen gegen Israel zu halten ist, kann sich jeder selbst ausrechnen), noch auch von dem Szenario in Halle.

Ein Deutscher, vermummt und bewaffnet, mit einem Auto voller Waffen. Bestimmt war er vorher aktiv in rechtsextremen Netzwerken, er wußte, daß sein Livestream gesehen wird und hat sich vom Killer von Christchurch wohl inspirieren lassen. Entweder war er den Behörden nicht bekannt (wie konnte er sich so bewaffnen, ohne aufzufallen?) oder bekannt, aber nicht gefährlich vorgekommen. Beides ungute Szenarien. Ich kenne die Atmosphäre in Sachsen nicht gut genug, aber ich habe von genügend Leuten dort gehört, wie intensiv die anti-israelische und anti-jüdische Indoktrination noch aus DDR-Zeiten dort noch nachwirkt. Wie groß die rechtsextreme Szene ist, wie real die Bedrohung, die von ihnen ausgeht – das weiß ich nicht, kann ich nicht beurteilen.

Aber ich war nicht überrascht. Entsetzt, bis in die Magengrube entsetzt, ja. Die Aufnahmen, wie er auf die Synagogentür schießt – am Yom Kippur, wo die Gemeinde fastet und betet und Menschen sich um Verzeihung bitten. Auf der einen Seite der Tür steht dieser Mann, auf der anderen sitzt eine Gemeinde und betet. Und das in Halle, in Sachsen (okay, Sachsen-Anhalt), in Deutschland.

Der Mann mit dem Messer vor der Synagoge in Berlin fällt mir ein, erst diese Woche, der nicht als gefährlich genug angesehen wurde, um festgenommen zu werden. Die sich häufenden Angriffe auf Juden und Israelis in Deutschland. Der Richter, der in der Brandstiftung der Synagoge in Wuppertal keinen Antisemitismus erkennen konnte.

Die ganze verdruckste politische Haltung Israel gegenüber. Merkel, die iranische Vernichtungsphantasien Israel gegenüber abtut. Das deutsche Abstimmungsverhalten in der UNO – immer feige mit dem Anti-Israel-Mob oder sich enthaltend, niemals an Israels Seite, egal wie idiotisch die Vorwürfe.

Die Schnelligkeit, mit der erschreckend viele Deutsche mich zur Rede stellen, wenn sie hören, daß ich aus Israel komme, die kaum verhüllte Feindseligkeit, mit der sie urteilen, verurteilen, in Straf-Szenarien für Israel schwelgen.

Und dann die Reaktionen der Politiker auf die Tat von Halle. Irgendwas fällt mir beim Lesen auf.

Heiko Maas:

Dass am Versöhnungsfest auf eine Synagoge geschossen wird, trifft uns ins Herz.

Reiner Haseloff:

Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land.

Olaf Scholz:

Das sind sehr erschütternde Nachrichten, die wir aus Halle bekommen haben. Ganz klar sei, „dass auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes jüdischen Glaubens sicher sein können, dass wir mit unseren Herzen bei ihnen sind und wir ihnen die ganze Solidarität übermitteln, die uns überhaupt möglich ist.

Dietmar Bartsch:

Am höchsten jüdischen Feiertag ein Anschlag auf jüdisches Leben in Deutschland – ekelhaft!

Ja, daß sie entsetzt sind, glaube ich ihnen. Aber mir fällt wieder mal die typisch deutsche Scheu vor einem Wort auf, das sie alle nicht gern in den Mund nehmen wollen: JUDEN. Das sagen viele Deutsche nicht gern. Sie sagen „Mitbürger jüdischen Glaubens“, „Menschen mit jüdischem Hintergrund“, „jüdisches Leben in Deutschland“, „jüdische Gemeinden“, „jüdische Menschen“. Achtet mal darauf.

Es ist dasselbe, ob man „Menschen jüdischen Glaubens“ sagt oder „Juden“, meinetwegen „Juden und Jüdinnen“. Denn Juden sind nicht nur Menschen jüdischen Glaubens. Man kann auch an gar nichts glauben und ist trotzdem Jude.

Denn Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder wer konvertiert ist. Judentum ist, ich sage es nicht zum ersten Mal, eine ethno-religiöse Identität. Das jüdische Volk nannte sich schon zur Zeit der Hebräischen Bibel Volk. Am Yisrael, das Volk Israel. Es dauerte Jahrhunderte, bis der Nationalstaatsgedanke geboren wurde, und noch länger, bis die Deutschen ihre nationale Identität zusammenpuzzelten.

Ja, die Idee, daß ethnische und religiöse Identität in eins fallen, ist Deutschen fremd. Für ein überwiegend christlich geprägtes Land, noch dazu eins, dem die Reformation noch in den Knochen steckt, ist Religion eine Konfession, ein Bekenntnis, das man ablegt oder von dem man sich lossagt. Es reicht nicht, einfach anzunehmen, daß andere Identitäten so funktionieren wie die eigene, wenn man verstehen möchte, wie ethno-religiöse Völker ticken – Jesiden, Drusen, Tscherkessen zum Beispiel (zu denen man nicht mal konvertieren kann, da ist das Judentum schon offener, auch wenn es die Konversion deutlich schwieriger gestaltet als das Christentum).

Deutschen kann es also archaisch vorkommen, daß Juden sich als Volk verstehen und nicht nur als Glaubensgemeinschaft, aber ich finde es bewundernswert, daß dieses Volk noch immer lebt, nach Jahrtausenden, in einer sich ändernden Welt, immer in der Balance zwischen Tradition und Erneuerung. Ein Erfolgsmodell.

Juden haben kein Problem, sich Juden zu nennen, warum also finden so viele Deutsche es so schwierig, das Wort über die Lippen zu bringen? Warum senken manche Leute die Stimme, wenn sie mich fragen: „so, einen Israel hast du geheiratet? ja ist er denn… Jude?“ Ich weiß schon, warum. In deutschen Ohren klingt JUDE immer noch wie ein Schimpfwort. Über Jahrhunderte hinweg ist das Wort so negativ aufgeladen worden, daß es fast unmöglich ist, es heute unbefangen zu benutzen. Das verstehe ich. Es soll ja auch noch Schulhöfe und andere Arenen geben, in denen Jude nach wie vor als Schimpfwort gilt.

Ich sähe es gern, wenn das Wort Jude von diesem pejorativen Beigeschmack befreit würde. Wenn Juden Juden genannt werden könnten, ohne diese zimperliche Scheu.

Überhaupt – sprachliche Zimperlichkeit greift um sich. „Menschen aus unserer Mitte gerissen“ bedeutet „ermordet“, aber hübscher ausgedrückt. Kamp- Karrenbauer gar nennt den Anschlag heute ein „Alarmzeichen“. Möchte nicht wissen, wie bei ihr ein echter Ernstfall aussähe, wenn der Tod zweier Menschen und ein knapp verhindertes Blutbad in einer Synagoge nur ein Alarmzeichen sind. Jetzt fehlt eigentlich nur noch jemand, der daraus einen Akt bedauerlich übereifriger Israelkritik macht….

Ich bin gewiß für Takt und Diplomatie, aber dieses sprachliche Zurückzucken vor pöhsen, häßlichen Wörtern ist ein Symptom für das Weggucken, Leugnen, Schönreden pöhser, häßlicher Tatsachen.

In Deutschland haben wir ein Problem mit anti-jüdischem, anti-israelischem und anti-semitischem Haß, der mörderische Formen annehmen kann. Ja, ich sage wir, obwohl ich nicht da bin, aber ich bin auch Deutsche und trage genau dieselben historischen Wackersteine im Magen und schäme mich genauso. Die Frage ist, was machen wir denn jetzt damit.

Kommentare»

1. Hein Tiede - Oktober 9, 2019, 22:34

Das sind die richtigen Worte, liebe Lila!

2. rehlew - Oktober 10, 2019, 9:24

Genauso. Danke, Lila.

3. Maki Kobold - Oktober 10, 2019, 16:33

Richtig und gut geschrieben, danke.

4. Peter Robens - Oktober 10, 2019, 16:56

Danke, endlich eine die mir aus der Seele spricht. Ihr P. Robens

5. G. - Oktober 13, 2019, 18:39

Die diesbezügliche Lage auf den Punkt gebracht. Brillant, @lila.

Mehr an der Oberfläche orientiert, durchaus vergleichbar, die Darstellung (Nie wieder „Nie wieder“) des Verlegers Döpfner. Sein Pressespiegel, ein Waterloo. Diesbezüglich symptomatisch: @niggi.

Diese tauben Ohren, diese mangelnde Affinität gegenüber causalen Zusammenhängen, einfach frustrierend.

Tradierte Muster, uralte Vorurteile, Einstellungen, Grenzen, suchen sich ihre derzeit passenden ideologischen Panzer und werden erneut im glänzenden Schein des heldenhaften Pathos dargeboten. Und alle Betroffenen finden’s auch noch gut. So zeitgemäss.

Und dann erscheinen derartige Gestalten wie Balliet, saugen aus dem Kadaver von Trümmerfeldern und Leichenbergen die verursachende Einstellung als die ihre. Und ja, man braucht nur noch das Internet. Massenvernichtungsmittel als Kochrezept. Alles da. Zur freien Verfügung für jedermann.

Lernunwillig. Jede Seite. Allenfalls werden die Teile rausgepickt, die ins eigene Narrativ passen. Und ein jeder sucht zuerst seinen Vorteil. Kleinkariert und engstirnig.

Und was die Symbiose zwischen tendenziösen Medien, die ihrer Aufgabe im Ansatz nicht gerecht werden und ihrem Auditorium anbelangt, frage ich mich zunehmend nach der ursächlichen Verantwortung.

Henne oder Ei? Genannte Affinität des Publikums zu genau dieser Berichterstattung und Politik sind unübersehbar. Denk ich an Deutschland in der Nacht …

Schön, dass die Türe gehalten hat. Diesmal.

6. balues - Oktober 23, 2019, 22:12

Kann mich fast komplett an dem oben geschriebenen anschließen. Eine Frage hätte ich noch: was ist der Zweifingerdarm??

7. Lila - Oktober 23, 2019, 23:23

😀
Danke, hab´s korrigiert. Wofür hat man Leser, die zählen können?

8. blogk » In den Zusammenhang gerissen - November 17, 2022, 17:15

[…] Yom Kippur Grossen Dank an […]


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