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Nachruf auf einen Unbekannten März 21, 2017, 21:03

Posted by Lila in Persönliches.
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Seit Jahren führt mich einer meiner Pfade zur Arbeit am Einkaufszentrum Lev HaMifratz vorbei.  Am Ende der langen Fassade, in einer kleinen überdachten Nische neben den Auffahrten zum Parkhaus, saß immer ein alter Mann und spielte Akkordeon. Irgendwann wurde die Nische mit musikalischen Symbolen und Noten ausgemalt. Sommers und winters, er saß dort und spielte. Man hörte es schon von weitem.

Ich bin nicht sehr musikalisch, aber ich hatte den Eindruck, der Mann spielt bestimmt nicht nur Akkordeon, er spielt bestimmt auch andere Instrumente und versteht was von Musik. Er spielte nicht nur Hivenu Shalom Aleichem oder ähnliche Publikumslieblinge, sondern viele schöne, oft schwermütige Stücke.

Er war klein, schmal und hatte ein Gesicht von der Art, das noch im Alter ein längst vergangenes Bubengesicht ahnen läßt. Immer über sein Akkordeon gebeugt, mit einem kleinen Lächeln und ganz hellen Augen.

Ich hatte mein Geld immer schon griffbereit, wenn ich bei ihm ankam in seiner kleinen Nische, blieb stehen, wenn ich Zeit hatte, um zuzuhören, und wenn er sich für das Geld bedankte, bedankte ich mich für die Musik. Es war für mich mit meinen langen Pendelreisen zur Arbeit immer ein kleiner heller Moment, die schöne Musik zu hören.

Vermutlich habe ich es mir nur eingebildet, aber im Laufe der Zeit hatte ich den Eindruck, er erkennt mich. Ich kann nicht mal sagen, wie lange er dort schon saß.

Aber in den letzten Wochen war er nicht mehr da. Ich ging an der Nische vorbei, sie war leer. Einmal, zweimal. In der dritten Woche kehrte ich um und ging in den Blumenladen neben der Nische, um nach dem alten Mann zu fragen. Noch bevor ich meine Frage beendet hatte, sagte die junge Blumenverkäuferin: er ist leider verstorben.

Das hat mich bewegt. Ich weiß nichts über den Mann, kann nur annehmen, daß er Einwanderer aus der früheren Sowjetunion war, der hier nicht Fuß fassen konnte mit der Musik, der vielleicht seine Rente so aufbesserte. Ich weiß nicht, ob er Familie hatte. Ich weiß nicht, wie viele Menschen wie ich so an sein Gesicht und seine Musik gewöhnt waren, daß sie sein Fehlen empfinden. Ich weiß nicht, ob seine Familie weiß, daß er Fremden wichtig war mit seiner Musik, seinem schrägen kleinen Lächeln.

An wie vielen Menschen läuft man täglich vorbei. Jeder hat sein Schicksal, jeder trägt seine semi-permeable Membran mit sich herum, durch die manches dringt, das meiste nicht. Was wissen wir von anderen?

Ich habe ihn nicht gekannt, aber er fehlt mir, und bestimmt nicht nur mir.

יהיה זכרו ברוך

Kommentare»

1. Hein - März 21, 2017, 21:16

Augen in der Großstadt
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
(Kurt Tucholsky)

2. Jürgen - März 21, 2017, 22:57

Es ist immer wieder nett von Dir zu lesen. Vielen lieben Dank aus der alten Heimat

3. Malamon Malo - März 21, 2017, 23:31

מודעת אבל יפה
תודה

4. Hans - März 22, 2017, 0:16

Schön, dass Du wieder schreibst. Ich hab Dich vermisst. Hans

5. Hans - März 22, 2017, 0:40

@ Hein, danke für die Erinnerung an diesen Tucholsky.

6. Paul - März 22, 2017, 2:32

Danke Lila
und RIP für den Mann.

Hier gibt es bei Minute 2 auch einen Akkordeonspieler.

7. Paul - März 22, 2017, 2:33

Entschuldigung.
Link vergessen.
Hier ist er:

8. Paul - März 22, 2017, 2:45
9. G. - März 22, 2017, 9:44

@lila, ich mag Deine Schreibe. Wortgewaltig, emotional warm und reflektiert wie aufrichtig und ausnehmend frei von Generationen üblicher Manierismen. Eleganz pur.

Ob Deine Schüler um ihr Glück wissen? Ich jedenfalls freue mich auf Deinen kommenden Haushalts-Blog oder was auch immer. Danke dafür! Auch ohne Kommentar.

Und Ruhe in Frieden, unbekannter Musiker, der Du die Strasse mit Todesverachtung wie passend professioneller Stückauswahl und -intonation Dein Leben lang zu beackern … Dich gezwungen sahst.

10. waldpirat - März 23, 2017, 1:42

@lila
Du hast mich gerade wirklich zum weinen gebracht. Wie viele Jahre lese ich schon deinen Blog mit? Da waren deine Kids noch nicht mal bei der Armee bin ich schon dein Fan. Aber dieser Artikel hat mich sehr berührt (bis auf meinen Bruder habe ich in 7 Moanten nun meine ganze Familie verloren. Meine Oma starb erst vor 2 Wochen. Meine Mama im August 16). So bin ich gerade etwas empfänglich für deine Gefühle.
Und ja man sollte die anderen Menschen mehr achten. Dieser Mann hat bestimmt gewußt wie viel Freude er dir und anderen gemacht hat, sonst wäre er nicht so lange da geblieben.
Und es spricht für dich als guten Menschen dass du dir so viel Gedanken machst um einen „Fremden“.
Gruß Carina

11. Heimo Geske - März 23, 2017, 2:50

das erinnert mich an:

Auf dem täglichen Weg zu meiner nachmittäglichen Arbeitsstelle sah ich öfter eine zierliche, ältere Dame, mit klaren, wachen, freundlichen Augen, stets mit ihrem Yorkshire-Terrier an der Leine, in der gleichen Straßenbahn fahren, an der gleichen Haltestelle Rathenauplatz aussteigen, wie ich & auf dem Weg zu mir eine Station vor mir aussteigen. – Eines Tages saß sie mir gegenüber in der Straßenbahn & sprach mich an, da ich ein Buch las & erzählte, daß sie auch gerne läse, eine Unterhaltung über mehrere Stationen hinweg. – Ich stieß immer wieder mal in längeren Abständen auf sie – in den kurzen Gesprächen jeweils erfuhr ich mehr über sie, daß sie jeden Tag ihren schwerkranken Mann in einem Pflegeheim in der Nähe unserer Fahrschule besuchte, erzählte, daß sie mal Krankenschwester war, daß sie manchmal ihre Tochter – ich glaube im Allgäu – besuche, in der Ottilienstraße wohne, genau an der Stelle, wo ich vor vielen Jahren mal in einem Haus gewohnt hatte, das mittlerweile abgerissen & durch diesen Neubau ersetzt wurde.
Manchmal sah ich ihren Yorkshire Terrier außen am REWE oder vor der Metzgerei angebunden. – Da wir uns auch über Bücher unterhalten hatten, beschloß ich eines Tages, ihr ein Buch zu schenken, das ich paar Tage mit mir – etwas eingepackt – herumtrug, bis ich sie tatsächlich nach kurzem in meiner Bankfiliale traf. – Sie freute sich sehr über das Buch & sagte, daß ihr nur selten etwas geschenkt wurde. – Das Buch hatte ihr gut gefallen, wie sie mir beim nächsten Aufeinandertreffen erzählte – sie hatte es also relativ rasch gelesen. – Es war übrigens ‚Die häßliche Herzogin‘ von Lion Feuchtwanger, das ich selbst kurz zuvor gelesen hatte. –
Dann fiel mir eines Tages auf, daß ich sie schon länger nicht mehr getroffen hatte & auch ihren Yorkshire nicht mehr vor dem REWE gesehen. – & mir wurde mit einem Hauch von Wehmut bewußt, daß sie für immer entschwunden war & ich weiß nicht, ob sie gestorben ist oder in einem Alten- oder Pflegeheim ist & ich weiß nicht einmal ihren Namen – auf die Idee darnach zu fragen, war ich nie gekommen ..

12. Lila - März 23, 2017, 8:14

Liebe Carina, es tut mir sehr leid, daß Du so viele und traurige Verluste erlebt hast. Ich kann nur Anteil nehmen und Dir wünschen, daß das Leben für Dich so gut wie möglich weitergeht und Du wieder froh wirst.

13. waldpirat - März 24, 2017, 23:40

Liebe Lila,
ja das wird schon irgendwann wieder. Ich musste so viele Tote die letzten 3 Jahre beklagen das ich weder bei meiner Mutter noch bei Oma weinen konnte. Es ist leider irgendwie normal geworden. Aber ich weiß das es bessere Zeiten wieder gibt. Und ich merke das es jeden Tag auch etwas besser wird.
Und es ist so schön, ja wirklich schön das du wieder da bist!! Ich habe (man kann ich schleimen, aber es ist so) extra wegen dir einen Twitter Account angelegt. Aber ich mag twitter überhaupt nicht. Vielen vielen dank für deinen Blog all die Jahre! Auch ich werde bald wieder bloggen.

LG Carina


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