jump to navigation

Die Kinder Februar 15, 2017, 15:17

Posted by Lila in Persönliches.
trackback

sind inzwischen endgültig erwachsen. Primus lebt im Ruhrpott mit seiner (israelischen) Freundin, beide studieren (die Freundin ist eine Heldin, sie hat in einem Jahr die deutsche Sprache bezwungen, daß man nur staunen kann). Es ist für Primus ganz interessant, unter Deutschen.

Natürlich lebt er in einer Gegend, in der Menschen aus aller Herren Länder wohnen. Manchmal sehr nett, so wie an dem Tag, als mein bärenstarker Sohn einer syrischen Familie beim Umzug half und hinterher von dem Mann, gelernter Bäcker, mit einer Platte orientalischer Herrlichkeiten beschenkt wurde. Manchmal weniger nett, wenn auf der Landkarte in der Sprachenklasse der Freundin eines Tages das Wort ISRAEL dick durchgestrichen ist und die Klasse, fast alles Flüchtlinge, alles Muslime und zumeist Männer, auf ihre Reaktion wartet.

Auch Amica primi kommt aus einer Flüchtlingsfamilie – ihre Familie ist zu Zeiten der Sowjetunion mehrmals geflohen, schließlich in Tashkent gelandet und von dort nach Israel ausgewandert. Aber sie hat natürlich keinen Flüchtlingsstatus in Deutschland, und wenn es heißt, Flüchtlinge zuerst, z.B. bei Plätzen für Sprachprüfungen, dann haben Ausländer wie sie eben das Nachsehen. Aber trotzdem fühlen sie sich wohl. Das ganze Jahr 2016 habe ich meinen Primus nicht gesehen, und bööö, das war ganz schrecklich.

Secundus hat drei Jahre im Kibbuz gelebt und war dort sehr zufrieden. Er hat es ja am schwersten genommen, als wir vor acht (acht!!!) Jahren aus dem Kibbuz weggegangen sind. Als er die Armee hinter sich hatte, hat er angefangen, im Kibbuz-Supermarkt zu arbeiten. Er hatte eine kleine Wohnung dort und zum Schluß war er stellvertretender Leiter des Supermarkts. Es war für uns immer schön, in den Kibbuz zu kommen, denn wir wurden geradezu mit Konfetti beworfen, so beliebt hat er sich dort gemacht mit seiner Emsigkeit (Secundus kann nicht untätig sein), seiner Freundlichkeit (alten Leuten hat er schon mal die Einkäufe nach Hause getragen, verlorengegangene Kinder nach Hause gebracht) und seinem unleugbaren Charme.

Da Secundus und seine Freunde sich auch im Kibbuzleben sehr engagierten, so haben sie mehrmals Purim auf die Beine gestellt, war er rundum zufrieden. Im Supermarkt arbeitete er am Ende mit zwei jungen Frauen, mit denen er seit dem Babyhaus befreundet  ist – eines davon ist ein Drillingsmädchen. Von den Drillingen habe ich ja schon öfter erzählt, wir Mütter waren auch sehr gut befreundet. Wenn ich also in den Laden kam, fielen mir die Mitarbeiterinnen eher um den Hals als mein Secundus mit seinem verlegenen kleinen Lächeln.

Seit zwei Wochen aber hat er sich aufregendere Aufgaben gesucht. Er ist nach London übergesiedelt, wo er für eine Security-Firma arbeitet, die u.a. jüdische Einrichtungen bewacht. Wie beruhigend für mich, nicht wahr? Von London ist er begeistert, er hat sich für die Arbeit einen schicken Anzug gekauft und Einzelheiten, wie stets bei Primus, wissen wir nicht.

Wer mir per Twitter folgt, weiß, daß er im letzten Juli in München war. Seine besten Freunde und er hatten sich einen billigen Flug rausgesucht – mit Pegasus Airlines, über Istanbul. Und was passierte, wenige Tage, bevor sie losfliegen sollten? Genau, der Putsch oder Umsturz oder Fake-Putsch oder was auch immer es war. Alle Mütter der Freundesgruppe flatterten per Whatsapp aufgeregt mit den Flügeln, ich auch, bis Secundus meinte, wir sollten das lassen. Einer der Freunde ist Vollwaise und es war bitter für ihn. Aber wir waren auch um ihn besorgt. Trotzdem mußten wir sie natürlich fliegen lassen.

Immerhin, in München passiert ja nie was, oder? Ich hatte mich gerade an seinen Bildern aus dem olympischen Dorf delektiert, da kamen (per Twitter natürlich, wo Nachrichten, ob richtig oder falsch, immer mit Adrenalincocktailkirschen serviert werden) die ersten Nachrichten über den Amoklauf. Nun kenne ich ja Mutters Jungen und seine Kumpel, alles gestandene IDF-Kämpfer, und war kein bißchen überrascht, daß sie an dem Abend noch auf eine Party gingen, wo sie es aber sehr leer fanden. Wirklich merkwürdig.

München gefiel ihm sehr, sehr gut. Er fand besonders die Preise beeindruckend (er hat ja einen guten Kopf für Zahlen). Alles so billig im Vergleich zu Israel! Also, daß ihr´s wißt, München ist eine richtig billige Stadt.

Noch eine Angewohnheit, die er aus dem Supermarkt mitgebracht hat: immer, wenn er nach Hause kam, hat er als erstes meinen Kühlschrank durchsucht auf der Jagd nach abgelaufenen Waren. Nun bin ich ja selbst empfindlich, besonders bei Milchprodukten, und in meiner Jugend schrien meine Eltern und mein Bruder immer, wenn ich die Hand nach etwas ausstreckte: paß auf, das ist bestimmt toal verschimmelt! Aber ich weiß auch, daß viele Sachen weitaus länger haltbar sind als aufgedruckt, und bei Senf oder ähnlichen Dinge achte ich überhaupt nicht drauf. „Mama, willst du uns alle vergiften! Diese Salatsauce ist seit drei Monaten abgelaufen!“ und er warf alles weg, was ich nicht vor ihm retten konnte.

Ja, jetzt steht er irgendwo gebügelt und geschniegelt in London im Eingangsbereich zu einem community center oder einer Synagoge oder sonst einer schützenswerten Einrichtung.

Tertia hat ihr Studium (Kriminologie) fast abgeschlossen, im Sommer macht sie den B.A. Ich kann nicht genug prahlen mit dieser erfolgreichen Tochter. Sie kommt mir immer vor wie ein Pfeil, der unbeirrbar nach vorn fliegt. Sie hat natürlich exzellente Noten, einen Preis als herausragende Studentin, ein Stipendium für Hochbegabte, einen Job als wissenschaftliche Hilfskraft und zwei Jobs als Mitarbeiterin bei Forschungsprojekten, und beste Kontakte mit allen Professoren. Sie überlegt nun, wo sie den M.A. machen möchte, und mir wird es leidtun, wenn sie auszieht.

Sie kommt immer strahlend von der FH wieder, erzählt uns abends mit Feuereifer von den Büchern, die sie gelesen, den Referaten, die sie gehalten, und den Diskussionen mit dem großartigen Professor S., einer israelischen Koryphäe des Fachs, der den Studiengang aus der Taufe gehoben hat. Kriminologie ist ja tatsächlich ein hochinteressantes Fach, in dem sich Soziologie und Psychologie treffen. In Israel gibt es ja auch hervorragende Experten zum Thema Terrorismus, bei denen sie auch Vorlesungen gehört hat.

Ich bin zu einem Studientag auch mal mitgegangen, es war hochspannend. Meine eigene Bildung ist ja nicht sozialwissenschaftlich, aber durch mein Pädagogikstudium (das ja hier in Israel komplett sozialwissenschaftlich aufgefaßt wird) und auch durch manches historische Interesse haben wir doch eine ziemliche Schnittmenge, Tertia und ich. Sie freut sich immer, wenn sie mich fragt, ob ich vielleicht was von Foucault habe oder Nietzsche und na klar, hab ich. Tja, aber spätestens im Sommer ist sie weg.

Und meine Kleine? Ist mir über den Kopf gewachsen, wird nächste Woche achtzehn und steht mitten im Abitur. Während Tertia eigentlich nur ihr  Studium im Kopf hat und jedes Treffen mit Freunden damit endet, daß das nächste Referat schon mal durchgesprochen wird, genießt Quarta ihr soziales Leben. Den ganzen Sommer hatten wir eigentlich einen Jugendclub auf dem Balkon. Fast jeden Abend kam die Jugend des Orts (die natürlich alle auf einer Schule sind), um bei uns lange zusammenzusitzen. Manchmal  haben sie nachts um eins oder zwei Sushi gemacht oder Pasta. Wir haben nichts gesagt, denn uns ist es lieber, sie fühlen sich hier wohl, als daß Quarta immer verschwindet.

Ihre Noten sind trotzdem sehr gut, besonders, oh Wunder der Natur, in Mathe und Chemie. Außerdem hat sie ein echtes Talent zum Malen und Zeichnen, und das ohne Kunstunterricht seit der Grundschule! Sie hat sich das selbst beigebracht. (Ich misch mich da nicht ein, gelernte Kunstlehrerin hin oder her).

Also, im Sommer macht sie Abi, und was kommt dann? Ganz recht, die Armee. Die Briefe mit den dreieckigen Stempeln laufen hier schon seit Monaten ein, sie war auf mehreren Info-Tagen und hat natürlich die ganze Batterie von Tests und Befragungen schon durchlaufen, mit deren Hilfe die Armee sichergehen will, daß jeder Soldat und jede Soldatin genau da eingesetzt werden, wo sie sich am besten entfalten können und am glücklichsten sind.

Mal möchte sie zu einer kämpfenden Einheit und ihren Brüdern zeigen, daß sie kein bißchen verwöhnt oder zimperlich ist, mal möchte sie eine ganz ruhige Funktion finden… sie diskutiert das mit Tertia (die ja als Diagnostikerin Teil des Auswahlprozeß-Teams war und ganz gut weiß, welche Möglichkeiten es gibt) und den Brüdern. Auf den, der die Armee am besten und tiefsten kennt, ihren Vater nämlich, hört sie gerade weniger, denn der ist doch schon ein bißchen alt und veraltet… während ihre Geschwister schon wieder auf sein Wissen bauen.

Ja, ab Sommer ist hier also leeres Nest. Alle versuchen mir zu erklären, daß das total toll sein kann, daß Y. und ich dann richtig viel Zeit füreinander haben (wie denn? er ist doch immer aufm Pütt) und daß ich dann mehr Platz im Haus habe. Nicht mehr dauernd kochen und so viel Wäsche waschen muß (das werde ich allerdings genießen). Und Quarta kommt ja am Wochenende. Also manchmal wenigstens. Hoffentlich.

Ich bin irgendwie weniger begeistert. Mich zieht es total zu Kindern. Immer, wenn ich zum Briefkasten gehe (im Sekretariat des Moshav) und am Kindergarten vorbeikomme, den es hier gibt, dann bleibe ich stehen und höre zu und habe Freude. Dann würde ich da am liebsten reingehen. Ich denke an meinen ganzen beruflichen Weg mit seinen Wendungen und Windungen und Sackgassen, und manchmal würde ich gern in einem Kibbuz-Kinderhaus arbeiten. Die Ausbildung dafür habe ich ja (ich habe in meinem B.Ed. nicht nur Schwerpunkt Kunsterziehung, sondern auch musische Erziehung fürs Kleinkindalter gewählt).

Klar, meine Studenten werden auch immer jünger und ich unterrichte sehr gern, aber ich höre so gern Kinderlärm. Ich wußte es doch, vier sind zu wenig.

Jedoch, wenn ich dann mit meinen Kindern über ihre Kindheit spreche, bemerke ich ernüchtert, daß sie es gar nicht so toll fanden bei mir. Wenn ich tausendmal die gütige, nährende, geduldige, lächelnde Himmelskuh war und EINmal der fauchende Säbelzahntiger, woran erinnern sie sich? Richtig.

Ich hatte mir eigentlich immer eingebildet, eine relativ geduldige Mutter zu sein und habe auch immer gern gehört, daß ich von Mutter, Schwiegermutter und Freundinnen dafür gelobt wurde. Verglichen damit, wie nervig meine vier Dickköppe sein konnten, war ich geradezu ein Heiligenbild der Geduld. Jedoch, die Säbelzahntiger-Momente haben dieses Heiligenbild in der Erinnerung der Kinder angenagt. Hab mir sagen lassen, daß es sich nicht um einen Einzelfall handelt.

Von den vielen Bastelnachmittagen mit Kartoffelstempeln und Gips, Fingerfarben in der Badewanne, täglichen Spaziergängen zu Traktoren, in Schafstall und in den Kinderzoo des Kibbuz, von alldem ist ihnen auch nichts im Gedächtnis geblieben. Y.s Fazit: wir hätten sie bis zum Schulalter in Karnickelkäfigen halten können, sie wüßten es eh nicht mehr und wir hätten uns viel Mühe erspart. Immerhin gibt es viele volle Photo-Alben, die beweisen, was wir für supertolle Eltern waren und wie schön es  für Kinder im Kibbuz ist.

Aber sie sind, tfu tfu tfu, vergnügt und leben ihr eigenes Leben, je älter sie werden, und mehr kann man nicht verlangen.

Kommentare»

1. wollecarlos - Februar 15, 2017, 15:27

es macht Spaß, das zu lesen, in manchen Dingen sehen wir (meine Frau und ich) in einen Spiegel !

2. David - Februar 15, 2017, 15:52

Welch ein schöner Beitrag, vielen Dank! Unwilklürzlich vergleiche ich diese Schilderung (ähnliche kenne ich aus Israel) mit dem, was ich im Lauf der Jahre erlebt habe und in welchen Situationen meine Kinder waren bzw. sind. Ich sehe doch sehr große Unterschiede, zwei davon möchte ich herausgreifen. Da ist zum einen die Begeisterung Ihrer Kinder, ihr Bestreben voranzukommen, ihr fast schon unbändiger Wille, überall im besten Sinn des Wortes dabeizusein. Und zum anderen fallen mir die Änderungen zur Gesellschaft hier ins Auge: Während in Israel vieles konsequent auf Aufbruch und Fortschritt gerichtet ist und dies auch akzeptiert wird, sehe ich hier das, was Deutschland einst ausmachte, immer mehr verschwinden. Das Leben hier, die Einstellung vieler Leute, ja, der realistische, durch Ideologien unverbaute Blick auf Dinge – all das hat sich sehr geändert. Und nicht unbedingt zum Positiven.

Nochmals danke!

3. Georg B. Mrozek - Februar 15, 2017, 16:01

Wenn ich eines mit Gewissheit sagen kann und dies auch durch Erfahrungen meiner sämtlichen Lebensumwelt über ein halbes Jahrhundert lang Bestätigung findet, dann das, dass der Säbelzahntiger sich in wenigen Jahren wieder ins Miozän zurückziehen wird und an seiner Stelle sich die Felis Sivestris Catus Lila Pugare d‘ Miele in die Erinnerung deiner Kinder einnisten wird.

Du hast eine wunderbare Familie und bist zu beneiden dafür.

4. Sonja - Februar 15, 2017, 20:44

Herrlich, dieser Beitrag…ich schmunzle noch immer! Und nun weiss ich auch, was mir so lange Zeit gefehlt hat!…Lila, es ist so schön, dass du wieder da bist!

5. Andrea Lauser - Februar 15, 2017, 21:24

Liebe Lila,

ich finde es sehr schön, dass du wieder in deinem Blog schreibst. Ich habe deine Artikel vermisst und freue mich jetzt wieder aufs Lesen.

Herzliche Grüße aus Freiburg,

Andrea

6. Rika - Februar 15, 2017, 21:57

Oh ja, das kenne ich…
da sorgt man, macht und tut, und dann sind die Kleinen plötzlich groß, erwachsen, stehen auf eigenen Füßen und das große Haus ist sooo leeeer.

Und wie freue ich mich, wenn sie alle einfliegen und das Nest für ein paar Tage oder Stunden wieder mit Lachen und Leben füllen – nicht, dass der Liebste und ich nicht lachen und das Leben genießen, aber diese Gespräche bei den Mahlzeiten… das Kichern ebenso wie die tröstenden Gesten und Worte der Geschwister untereinander… Ja, das alles habe ich, haben wir in vollen Zügen genossen… und manchmal auch durchlitten.
Ich kann Dich so gut verstehen.
Bei uns ist es schon mehr als 10 Jahre her, dass auch das letzte Kind das Haus verließ … Studium, eigene Wohnung, eigene Familie…

Es mag Dich wirklich trösten… es kommen neue und schöne Zeiten.

Wir haben inzwischen drei Enkelkinder und einmal in der Woche ist Oma-und-Opa-Tag… anders als früher mit den Kinder…
doch schön, so schön.

…………………………………..

Aber ist es nicht toll, dass es allen Deinen / Euren Kindern so gut geht? Das ist doch wichtig und das zählt. ♥

7. Paul - Februar 16, 2017, 1:27

Liebe Lila,
Du kannst nicht genug danken. Ich danke dann immer meinem Gott. Du danke wem auch immer Du möchtest.

Ganz besonders dankbar kannst Du sein, dass Eurer Familie die Erfahrung schwerer Krankheit erspart geblieben ist.
Genieße jeden Tag. Genieße die kleinen Freuden, seien es Telefonate oder sonstige Kontakte mit den Jungs. Das schöne an der ganzen Technik ist, dass man räumlich sehr weit entfernt einander doch sehr nahe sein kann.

Vielen Dank für Deinen Bericht. Er bringt Licht in meine „Kammer“.

Herzlich, Paul

8. Kaltmamsell - Februar 17, 2017, 13:02

Großen Dank für dieses Update! Es war immer schön, über dein Blog auf den Weg deiner Kinder mitzuverfolgen.


Hinterlasse einen Kommentar