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Ein Nachruf Januar 6, 2012, 0:48

Posted by Lila in Persönliches.
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Während ich heute in der Bahn saß, von Tel Aviv zurück in den Norden, bekam ich zwei Anrufe. Y. und meine treue Freundin I. teilten mir mit, daß ein Mann, den ich sehr geschätzt habe, gestorben ist.

Erst gestern war in den Nachrichten ein Bericht über ihn, einen der beliebtesten, umstrittensten und brillantesten Professoren der Uni Haifa, Erziehungsphilosoph und Autor. Er hat vor zwei Wochen erfahren, daß er Krebs hat – in einem so weit fortgeschrittenen Stadium, daß ihm nur noch Tage zu leben blieben. Daraufhin hat er Kollegen und Studenten eingeladen, um sich von ihnen zu verabschieden und die Zukunft der humanistischen Erziehung als Pfand in ihre Hände zu legen. Er wurde von Sanitätern begleitet und konnte nicht mehr laufen.

Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu Ilan, und wir sind auch nicht im Guten auseinandergegangen. Ich habe ihn enttäuscht, als ich die Pädagogik zugunsten der Kunstgeschichte verlassen habe. Als ich ihm das mitteilte, zuckte er die Schultern und meinte, „schade, ich hatte Pläne mit dir – aber viel Vergnügen in der Kunstgeschichte“. Ich habe mich höflich für alles bedankt, was ich von ihm gelernt habe, und habe die Tür hinter mir zugemacht. Da lag ein Jahr hinter uns, in dem er mein Mentor und Lehrer war, und wir uns oft gesehen hatten. Als Theoretiker in einem Fachbereich der Pragmatiker, als Philosoph unter Sozialwissenschaftlern (und die Pädagogik wird in Israel gänzlich sozialwissenschaftlich-empirisch aufgefaßt), als Prinz unter Handwerkern der Erziehungsarbeit, so habe ich ihn kennengelernt.

Ich schwankte in meinem MA-Studium zwischen den Fachbereichen – Interdisziplinarität ist nur theoretisch schön, im Uni-Alltag ist sie eher unbequem. Da hört ich, wie sich im Aufzug zwei Studentinnen über Ilan unterhielten. Sie waren sich einig, daß er unmöglich hohe Ansprüche hat, daß er ein Klugscheißer und Theoretiker ist, und daß normale Themen (zB eine Untersuchung über die Qualität der Matheleistungen einer Klasse vor und nach Einführung einer neuen Methode) ihn gar nicht interessieren. Oh, das klang wie gebacken für mein Projekt. Ich fragte die Studentinnen nach dem Stockwerk von Ilans Büro, stieg gleich dort aus und marschierte gleich zu ihm.

Er fand mein Thema recht vielversprechend, auch wenn er es natürlich von der anderen Seite aufzäumte (von der Idee her, nicht von den Bildern her). Es amüsierte ihn auch sehr, wie ich ihn gefunden hatte. Es schmeichelte ihm vermutlich. Noch war ich nicht ganz sicher, in welche Richtung ich mein Thema überhaupt weiterführe, genoß es aber, endlich jemanden gefunden zu haben, der meine Abneigung gegen die rein sozialwissenschaftliche Vorgehensweise teilte. Wir fingen an zu reden, über alles mögliche.

Er meinte, er muß leider runter ins Erdgeschoß, aber ich soll doch mitkommen, es ist so interessant. Wir peesten aus seinem Büro und sahen, daß eine riesige Menschentraube sich vor dem Aufzug drängelte. Ohne Worte hielt er die Tür zum Treppenhaus auf, und wir fegten fast 30 Stockwerke zu Fuß runter, den ganzen Turm, und redeten die ganze Zeit. Das war vielleicht in meiner ganzen mühsamen Zeit an der Uni der schönste und anregendste Moment, wie wir so durch das Treppenhaus sprangen und uns freuten, wie viel wir miteinander anfangen können.

Es sollte dann doch nicht sein. Ich habe eines seiner Seminare besucht, unendlich viele Anregungen von ihm bekommen, eine Arbeit für ihn geschrieben, die er wiederum sehr interessant fand, ich habe ihm bei ein paar Übersetzungen geholfen und von ihm ziemlich viel Insider-Informationen über universitäre Auseinandersetzungen bekommen. Nach einem Jahr war mir klar, daß außer Ilan und der genialen, warmherzigen, unvergleichlichen Ofra (die für Ilan im Video die Rede hält,  herzlich wie nur sie es kann) niemand im Fachbereich Pädagogik tickt wie ich, und daß ich mit einer reinrassig kunsthistorischen Themenstellung besser aufgehoben bin. (Trotzdem war mein M.A. den Kunsthistorikern immer noch zu sozialhistorisch-pädagogisch…water under the bridge…)

Seit meinem Abschied von Ilan habe ich nur noch einmal von ihm gehört, als er heiratete und an alle Welt ein liebenswert-verliebtes Bild mit Mütze und Braut schickte. Das hat mich sehr gefreut. Meine Chance an der Uni, die ich nicht sehr gut genutzt habe, hat mir dann Ofra gegeben, nicht Ilan. Er hatte mich aus der Liste der Hoffnungsträger gestrichen, vollkommen zu Recht.

Aber als Y. gestern in den Nachrichten hörte, wie schlecht es ihm geht, waren wir beide erschüttert. Y. weiß, wie viel Denkanstöße und Unterstützung ich Ilan verdanke. Ilan war ein Prinz, schlank, elegant, eloquent, anspruchsvoll und kämpferisch, wenn es sein mußte. Ich war keineswegs immer seiner Ansicht und habe ihm auch Kontra gegeben. Politisch waren wir nicht auf einer Linie. Aber ich habe immer anerkannt, daß er ein Mensch ist, wie man ihn nur einmal im Leben trifft.

Als Y. mir also gestern von Ilans schweren Erkrankung erzählte, sagte ich sofort: ich muß ihm eine Mail schreiben. Aber ich habe es nicht getan, ich bin auf Exkursion gefahren, die den ganzen Tag gedauert hat. Auf dem Rückweg habe ich dann gehört, daß er bereits tot ist. Wer weiß, ob er in dem Meer von Mails, das er bekommen haben muß, meine gelesen hätte.

Ich habe gar nicht erwartet, daß der Tod eines Menschen, mit dem mich kein persönliches Band, sondern nur ein intellektuelles, verband, mich so treffen könnte. Ich saß in der Bahn, zog mir die Haare vors Gesicht und trauerte um einen ganz, ganz besonderen Mann. In meiner Erinnerung bleibt er der hochgewachsene, schmale Intellektuelle, der endlose Treppen herunterläuft und dabei Ideen durch die Luft wirft. Ilan Gur Zeev wird fehlen.

Kommentare»

1. Uri D. - Januar 6, 2012, 1:52

Liebe Lila,
oh, was für ein schöner, berührender, offenherziger Nachruf! Und was für eine angemessene Art Du gefunden hast, diesen mir unbekannten Erziehungswissenschaftler zu beschreiben. Danke!

2. A.mOr - Januar 6, 2012, 2:13

Liebe Lila, mein herzliches Beileid.
Deinen Nachruf lese ich, muß ich, weil einer „Deiner Menschen“ gestorben ist, so lebendig, und mir kommen bald die Tränen. Dann lange ich beim Photo an, Traurigkeit im Bauch und Hals, Deine Worte widerhallen und ich sehe das lächelnde Gesicht dieses sehr sympathisch wirkenden Mannes, wünsche ihm eine gute Reise, und ich lächle, Dank Dir und Dank seines schönen Ausdrucks.
E M R

3. Carina - Januar 6, 2012, 4:11

Liebe Lila,
ich kann mich Uri D. nur anschliessen.

4. Marlin - Januar 6, 2012, 22:50

Wenn Du ihn so gut fandest, muss er ein großartiger Mensch gewesen sein.

5. jim - Januar 6, 2012, 22:55

Klicke, um auf diaspora11.pdf zuzugreifen

Ilan Gur-Ze’ev

„[…]Gegen-Erziehung im Licht diasporischer Philosophie darf sich nicht darauf beschränken, die selbstgewählte Auswanderung der Israelis aus Israel vorzubereiten. Im weitesten und tiefsten Sinne ergeht der Anruf nicht nur an Juden. Es sollte zur universalen Alternative werden für Einzelne, immer und ausschließlich Einzelne.

Gegen-Erziehung muß im israelisch-palästinensischen Kontext stattfinden, unter dem Auge des Konflikts und der tödlichen Bedrohung. So wie Israel heute ist, kann eine solche Gegen-Erziehung zu einer Brücke zwischen Juden und Palästinensern werden.
Sie können als lebensbejahende Partner, die ihr Leid als gleichwertig anerkennen, einen Dialog beginnen. Dieses Projekt ist universal, aber ich stelle mich ihr als Jude. Ich hoffe, daß die palästinensischen Gesprächspartner auf diese Herausforderung reagieren unter der Vorgabe ihrer eigenen Tradition und verborgenen Potentiale. Israelis und Palästinenser sind gefordert, diese andere Art der Existenz zuzulassen. Beide Seiten müssen die brutale Welt der Machtspiele hinter sich lassen. Beide Seiten müssen erkennen, daß die normierende Erziehung unter dem bleiernen Diktat des eigenen Narrativs in den letzten hundert Jahre nur zu Gewalt und Lüge geführt hat. Beide Seiten müssen aufhören, dem jeweils Anderen das Existenzrecht abzusprechen. Was bisher unsere Identität konstituiert hat, nationale Identität, instutionalisierte Religion und kollektivistische Erziehung, müssen überwunden werden. Eine Alternative gibt es nicht.“

6. Lila - Januar 6, 2012, 23:21

Das hab ich übersetzt, wo hast Du den Text gefunden?

Ilan hat eine ganz interessante Wandlung durchgemacht. Vom Kollegen Ilan Pappes, mit dem er gemeinsam publiziert hat, bis zum Warner vor neuem Boykott-Antisemitismus. Die Auseinandersetzung mit Pappe war sehr frisch, als wir uns kannten, und er hat auch im Unterricht, nicht nur mir, davon erzählt.

7. jim - Januar 6, 2012, 23:25

Auf meinen Bookmarks.

8. jim - Januar 23, 2012, 19:11

So schließen sich Kreise, hier eine ausgezeichnete Rezension von Roland Kaufhold, es geht um den kürzlich verstorbenen Horst-Eberhard Richter, sein Werk, hier insbesondere „Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik”:

http://buecher.hagalil.com/2012/01/psychoanalyse-und-politik/


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