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Walfang in der Schweiz Dezember 28, 2011, 20:18

Posted by Lila in Land und Leute, Uncategorized.
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Was ich zu den Krawallmachern in Bet Shemesh und anderswo denke, muß ich wohl nicht extra sagen. Aber eines macht mich wahnsinnig an den vielen Kommentaren (zB die seitenweisen Leserkommentare nach Gisela Dachs´ sachlichem Artikel in der Zeit): Leute, lernt endlich, daß Ultra-Orthodoxe  nichts mit Siedlungspolitik, Nationalismus und so weiter zu tun haben! Die meisten deutschen Leserbriefschreiber verwechseln schlicht Nationalreligiöse mit Ultra-Orthodoxen. Und wenn es um den religiösen Fanatismus der Ultra-Orthodoxen geht, fangen sie an, von Palästinensern, Rassismus und Apartheid zu faseln. Wie Pavlovsche Hunde, denen zum Thema Israel einfach nichts Palästinenserloses einfällt.

Also noch einmal: die Ultra-Orthodoxen (Haredim), die im Moment gerade die sprichwörtliche von den Medien durchs Dorf getriebene Sau darstellen, sind absolut nicht identisch mit den Siedlern, von denen viele orthodox sind. Orthodoxe Juden und ultra-orthodoxe Juden – das sind zwei vollkommen verschiedene Gruppen. Es ist keinesfalls so, daß die ultra-orthodoxen einfach eine Steigerung der Orthodoxen darstellen.

Ultra-Orthodoxe sind ebenfalls keine homogene Masse. Es gibt viele verschiedene Strömungen. Manche Ultra-Orthodoxen sind gegen den Staat Israel und einige von ihnen sympathisieren offen mit Ahmedinijad. Auch Arafat hatte so ein paar haredische Freunde, die Brüderküsse mit ihm tauschten und ihm wünschten, er würde den gotteslästerlichen Staat Israel schon zerstört haben.

Neturei Karta

Andere Ultra-Orthodoxe sind dem Staat gegenüber positiv eingestellt, oder er ist ihnen egal. Viele von ihnen sind selbst gegen die Extremen und Fanatiker, die sich in Bet Shemesh und manchen anderen Städten unangenehm bemerkbar machen.  Und auch in Bet Shemesh muß man unterscheiden, wie dieser Bewohner mittels Karte klarmacht.

Nachdem letzten Freitagabend eine Reportage über die Stadt Bet Shemesh gesendet wurde,  ging gewissermaßen ein Aufschrei durch Israel.

Die Probleme in Bet Shemesh waren lange bekannt, sehr lange. Ich erinnere mich sogar noch Reportagen aus der Anfangszeit der ultraorthodoxen Übernahme der Stadt. Wir wußten schon lange, daß dort besonders die Schülerinnen einer Grundschule für Mädchen Zielscheibe für ultra-orthodoxen Zorn sind, weil sie eben als „normal fromme“ Mädchen immer noch einen Zacken weniger keusch gekleidet sind, als diesen vorschwebt. Und dagegen protestieren sie, indem sie siebenjährige Mädchen in langen Röcken als Nutte und Shickse beschimpfen. Wie die kleine Naama.

Naama

Wie gesagt, ich habe diese Geschichte schon länger still verfolgt. Freitagabend dann ging ein kollektiver Aufschrei durch Israel, man hörte förmlich die Luft vibrieren. Freitagabend sehen natürlich nur säkulare oder sehr lässig fromme Menschen fern, deswegen wurde die Reportage mehrmals im Laufe der Woche wiederholt, in Ausschnitten natürlich. Sie konzentrierte sich auf eine Familie in Bet Shemesh, fromme, aus den USA eingewanderte Juden, die aber eben nicht ultraorthodox sind. Die Tochter der Familie, Naama, weint vor Angst und klammert sich an ihre Mutter, wenn sie in die Schule muß. Denn auf dem kurzen Schulweg lauern Ultra-Orthodoxe den Mädchen und ihren Müttern auf, bespucken sie, beschimpfen sie aufs Übelste, und machen den Mädchen den Weg zur Hölle.

Viele haben Bet Shemesh schon verlassen, weil sie den Kampf mit den Haredim nicht auf dem Rücken ihrer Kinder ausfechten möchten. Andere passen sich aus Angst an, auch wenn die zunehmende religiöse Radikalisierung ihnen gar nicht recht ist. Und manche finden es richtig gut, was dort abgeht.

Shai Gals Reportage in Ulpan Shishi

So wurde in der Reportage ein Fanatiker interviewt, der in die Kamera zischte: „na klar spuck ich ne Siebenjährige an, wenn sie unkeusch und provozierend gekleidet ist. Die Rabbanim haben uns die Macht gegeben, unsere Maßstäbe auf der Straße durchzusetzen. Die kranke säkulare Bevölkerung hat viel zu viel Einfluß. Wir sind gesund, ihr seid krank. Ihr behandelt eure Frauen wie Schweine, wir behandeln unsere Frauen wie Königinnen. Aber wir bestimmen, wie eine Frau auf der Straße aufzutreten hat. Macht euch drauf gefaßt, wir werden uns durchsetzen“.

Der Gegensatz zwischen dem vor Angst wimmernden Mädchen und dem bösartig zischenden Fanatiker war fernsehmäßig einfach nicht besser auf den Punkt zu bringen. Und damit war das Faß übergelaufen, das sich schon vorher über Jahre hinweg gefüllt hatte. Die nach Geschlechtern getrennten Busse, um die es in Jerusalem und Bet Shemesh schon lange Ärger gibt, die Bestimmungen, daß eine Frau in der Nähe einer Synagoge auf die andere Straßenseite zu wechseln hat, weil sie sonst die Männer beim Gebet stört oder ablenkt -das wußten wir alle schon lange, aber weil es eben nur in bestimmten Orten der Fall ist, haben die meisten Leute das nicht sehr ernstgenommen.

Jetzt war aber  gewissermaßen das Maß voll. Sofort meldeten sich Ultra-Orthodoxe zu Wort, die gegen solchen Fanatismus sind und ihn als unjüdisch brandmarken. Die arme kleine Naama, die sich vor Männern in schwarzen Klamotten fürchtet, muß nun mit einem steten Andrang ultra-orthodoxer Besucher fertigwerden, die mit ihr Chanukka-Kerzen entzünden und ihr Geschenke mitbringen (darunter der Minister der Shas-Partei, der Rabbi Amasalem, der als orientalischer Jude sowieso die Dinge lockerer sieht als die ashkenasischen Haredim).

Ich habe ja schon öfter meine Schwäche für Arie Deri bekannt, den ich seit seiner Zusammenarbeit mit Rabin für einen äußerst intelligenten, undogmatischen und interessanten Politiker halte, trotz Korruptionsaffäre.  Nun, er wehrte sich mit einer Vehemenz gegen die Fanatiker von Bet Shemesh, die ich bei wenigen säkularen Kommentatoren gesehen habe. Als Haredi spricht er ihre Sprache und er sagte ausdrücklich, daß er in dieser gewaltsamen Kampagne der Beschämung und Beschimpfung eine Gotteslästerung sieht, die Gott nicht verzeihen wird. Er sagte, es ist weit schlimmer, einen Menschen zu beschämen, einzuschüchtern oder ihm die Entscheidungsfreiheit zu nehmen, als sich „unzüchtig“ zu kleiden. Er betonte ausdrücklich, daß die meisten Ultra-Orthodoxen nicht mit diesen Leuten in einen Topf zu werfen sind.

Und wer meint, alle Ultra-Orthodoxen sind Parasiten, der sollte sich ebenfalls vor ungerechten Anschuldigungen hüten. Viele Ultra-Orthodoxe arbeiten zwar nicht, aber für Männer wie die von Zaka habe ich höchste Hochachtung, und viele von ihnen engagieren sich in ihren Gemeinden und tun in ihrer Welt und auf ihre Weise Gutes. Aber sie halten sich vom modernen Staat und vom modernen Leben fern. Allerdings schicken sie Abgeordnete in die Knesset, die dort als Zünglein an der Waage ihre Rolle spielen und teilweise auch ausnutzen. Und viele von ihnen verachten den Staat zwar, nehmen aber trotzdem staatliche Unterstützung in vielerlei Form in Anspruch. Das ärgert Säkulare natürlich.

Das muß man also bedenken, wenn Berechnungen angestellt werden, nach denen alle Ultra-Orthodoxen fanatische Standpunkte vertreten und bald ganz Israel eine Spielwiese für Bet-Shemesh-Fanatiker wird. Wohl kaum.

Und damit nun zu den Siedlern und Orthodoxen, denen viele deutsche Leserbriefschreiber den Aufruhr in Bet Shemesh in die Schuhe schieben.

Liebe Leute, viele Siedler sind säkular, viele halten die Traditionen, ohne deswegen orthodox zu sein, und viele sind orthodox. Sie bezeichnen sich als dati-leumi, nationalreligiös, als politische Standortbezeichnung. Religiös sind die meisten von ihnen modern orthodox, sie verbinden also das aktive Leben in der modernen Gesellschaft mit einer orthodoxen Beachtung der religiösen Vorschriften.

Die Männer sind normal gekleidet, also nicht in schwarze Anzüge, Kaftan oder schwarze Hüte, sondern so wie alle anderen israelischen Männer auch. Irgendwo zwischen schlampig, sportlich und leger. Sie tragen aber meist eine gehäkelte Kippa (keine schwarze oder weiße aus Samt), und bei manchen sieht man die Strippen ihres kleinen Tallit rausgucken. Auch hier sind die meisten eben nicht fanatisch, sondern sie haben ihre Überzeugungen, die sie eloquent vertreten. Daß diese Überzeugungen dem Mainstream westlicher Medien nicht entsprechen, nun, das spricht noch nicht gegen sie. Sie arbeiten, dienen in der Armee (oft in besonders anspruchsvollen Einheiten), zahlen Steuern und beteiligen sich aktiv am öffentlichen Leben.

Einem Mann wie Arie Eldad, hervorragender Mediziner, Knesset-Abgeordneter und ein Mann von beißendem Witz,  höre ich ausgesprochen gern zu. Eldar und Yossi Sarid, der nicht weniger beißend witzige Meretz-Politiker, würde ich zu gern mal in einem Streitgespräch hören… das wäre ein Vergnügen.

Die Extremisten dieser Gruppe, die sogenannte hilltop youth, die auch langsam in die Jahre kommt, sind ganz anders als die Schreihälse von Bet Shemesh, und die beunruhigenden Fälle von jüdischem Terrorismus gehen meist auf ihr Konto. Die Polizeit hat sie auf dem Kieker, und sie haben sich dem Staat, den sie als verräterisch betrachten, tief entfremdet. Natürlich sind sie trotzdem gefährlich. Aber ich würde niemals allen Nationalreligiösen die Taten der Fanatiker vorwerfen.

Während sich Ultra-Orthodoxe in die Ghettotracht vergangener Jahrhunderte kleiden und dem modernen Straßenbild nicht entsprechen (was ihr gutes Recht ist), sehen viele nationalreligiöse Juden ein bißchen freakig aus. Ultra-orthodoxe Juden kann man sehr grob in arm und reich unterteilen – manche ultra-orthodoxen Familien, die ich auf dem Flughafen sehe, scheinen aus einer gepflegten Traumwelt zu kommen, von der die gehetzten, mit Einkaufstaschen bepackten Ultra-Orthodoxen in Jerusalem eine Welt trennt. Nationalreligiöse Juden kleiden sich teilweise schick und modisch, die Frauen haben meist Hüte auf… oder sie sind jung, tragen Sandalen, die jungen Frauen haben lange, schön gebundene Tücher auf dem Kopf und tragen lange, weite Röcke.

Ultra-orthodoxe Männer haben immer Bärte und Schläfenlocken, orthodoxe haben manchmal einen Rauschebart, und nicht alle haben Schläfenlocken.

Die Familie Bogner ist eine ganz typische Familie von Anglos, Siedlern, nationalreligiösen modernen Orthodoxen. Die Familie Fogel ist ein weiteres typisches Beispiel. Die traditionelle starke Stellung der jüdischen Frau sieht man bei ihnen nicht nur innerhalb der Familien, sondern auch nach außen hin. Gerade die Siedlerbewegung hat ein paar der bekanntesten öffentlich wirksamen Frauen in Israel hervorgebracht, von denen keine so leicht unterbuttern läßt – von Geula Cohen über Daniella Weiss bis Nadia Matar.

Eine bekannte Autorin wie die orthodoxe Naomi Ragen gehört zu den ersten und lautstärksten Kritikerinnen der ultra-orthodoxen Geschlechtertrennung – lange bevor die Medien das Thema entdeckten.

Es ist unmöglich, die einen mit den anderen zu verwechseln – wenn man denn überhaupt weiß, wovon man redet. Die vielen Kommentatoren, die mit einer Vehemenz ihren gänzlich unangebrachten Zorn über eine angebliche Siedlungspolitik der Ultra-Orthodoxen zum Ausdruck bringen, wirken für Informierte ungefähr so komisch, als würde ein Bericht über eine Sitzung des EKD in Deutschland hier in Israel mit Gift und Galle über Papst und Zölibat begrüßt, oder eine Reportage über die Schweiz mit einer automatischen Verdammung des Schweizer Walfangs. Wirklich, es ist ja nett, daß Leute ihre Meinungen haben, aber wie wäre es mal mit ein bißchen Sachkenntnis?

Kommentare»

1. mibu - Dezember 28, 2011, 21:10

In dem verlinkten Zeit-Artikel konnte ich nun allerdings auch keinen Bezug zwischen Siedlerbewegung und Ultra-Orthodoxen feststellen.

Es gibt in der Schweiz an einem schönen See immerhin einen Ort, der sich Walenstadt nennt. Man kann sich zwar schwer vorstellen, dass darin Wale herumschwimmen. Aber mancher wäre wohl nicht so überrascht, wenn ein Ungeheuer a la Loch Ness seinen Kopf aus dem Wasser heben würde.

2. Jack - Dezember 28, 2011, 21:18

Es gibt schon komische Leute. Und einigen darf man das auch nicht durchgehen lassen.

Ein Kind als Nutte zu bezeichnen usw. – ‚Alter, geht’s noch, hast du ’n Schaden, oder was?‘
Insofern – Presse hin oder her, so etwas geht gar nicht. Und schon gar nicht sollte und darf das so weiter gehen. Weder in Israel noch in Deutschland oder sonst wo auf der Welt.

3. Lila - Dezember 28, 2011, 21:25

Oh, selbstverständlich nicht, Mibu. Gisela Dachs weiß genau, wovon sie redet. Aber die Kommentatoren nicht. Pardon, das muß ich deutlicher machen, ich dachte, es wäre klar, daß ich mich auf die Laberfaxen in den Leserkommentaren bezog… übrigens nicht nur in der ZEIT.

4. Roithamer - Dezember 28, 2011, 21:52

Die Schweizer können keine Walfänger sein?

5. Lila - Dezember 28, 2011, 21:55

Hmmm… das Meer haben sie, die Flotte auch, sie sind für ihre Fischgerichte bekannt…

Mann Mann Mann, am Ende stellt sich tatsächlich raus, daß die Schweizer ganz großen Profit beim Walfang machen 😀 Du machst mich gerade gaaanz schwankend…

6. willow - Dezember 28, 2011, 22:03

nun, ich kenne die Schweizer nur als Wal-Nuß-Fänger …

7. allan - Dezember 28, 2011, 22:14

Das mit der „pritze“ ist ja nicht gerade neu. Das hat man auch schon vor 60 Jahren in Meah shearim Frauen in Hosen oder zu kurzen Ärmeln nachgerufen…

8. Lila - Dezember 28, 2011, 22:16

Es ist aber doch ein Unterschied, ob man es erwachsenen Frauen in Hosen oder kurzen Ärmeln nachruft, oder kleinen Mädchen in züchtiger, aber eben nicht ultraorthodoxer Kleidung… auch die kleine Naama kommt aus einem religiösen Haushalt, ihre Mutter trägt Kopfbedeckung und Rock.

Inakzeptabel ist natürlich beides.

9. mibu - Dezember 28, 2011, 22:32

allen, in ähnlicher Weise haben die Österreicher, nachdem die Schweizer ihnen ein paar Skifahrtitel abgenommen hatten, bemerkt, dass Österreich eben doch eher eine Fussballnation sei …


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