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Ein Iraki in Israel Februar 7, 2009, 18:39

Posted by Lila in Land und Leute, Presseschau.
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Wir sind heute in den Süden gefahren, Primus besuchen. Dabei sind wir die Straße durch Wadi Ara gefahren, also über die Kreuzung von Megiddo, Umm el Fachm und die anderen arabischen Städtchen, bis wir die Schnellstraße 6 erreicht haben. Ich staune immer, wenn wir durch Wadi Ara fahren – ein ungebrochender Bauboom, große und prächtige Häuser, und im Gegenteil zu den knapp bemessenen, einheitlich gehaltenen jüdischen Städtchen, die mit jedem Quadratmeter geizen, wirken die Häuser individuell und sehr geräumig. Dann im Süden – die Beduinen in ihren Blechhütten mit Satellitenteller auf dem Dach, Kamelen und Autos vor der Tür. Verschiedene Ansichten von Arabern in Israel.

Wir haben uns auf dem Weg dann genau darüber unterhalten: Araber in Israel, was wir versäumt haben, was die Araber versäumt haben, der große Graben, der immer weiter aufbricht, und wie man es noch verhindern könnte. Über Lieberman will ich ein andermal was sagen, aber nicht jetzt, sonst verwickle ich mich. Ich wünschte jedenfalls, die Araber würden nicht mit Wahlboykott reagieren, nicht mit Verweigerung. Wenn sie sich dann nicht repräsentiert fühlen, wird die Entfremdung nur noch stärker empfunden. Ich bin kein Fan von Achmed Tibi, aber wenn die Araber in Israel sich vertreten fühlen wollen, müssen sie vernünftige Politiker in die Knesset schicken, die ihre Interessen durchsetzen. Es besteht ja auf allen Seiten ein Vakuum, bei Arabern und Juden, und ich verstehe den Zorn auf die arabischen Parteien, die mehr mit Profilpflege als mit Alltagsarbeit beschäftigt sind, und auch auf die zionistischen Parteien.

Ich würde mir wünschen, daß die Araber in Israel versuchen zu verstehen, warum die Juden reagieren, wie sie reagieren – oder daß sie eine konstruktive Strategie vorschlagen, zB gegen die Qassams. Leider ist mir nicht erinnerlich, daß sich ein Politiker wie Tibi da für eine Verständigung und Verhinderung weiteren Beschusses aus dem Fenster gelegt hätte. Aber gut, einer versteht den anderen nicht. Für die Araber war die Aktion in Gaza ein einziges Kinder-Schlachtfest ohne Grund und Anlaß, und das nehmen die Juden den Arabern übel. Und so geht es immer weiter. Viele Juden mißtrauen den Arabern grundsätzlich, weil sie sie im Verdacht haben, daß sie den Staat grundsätzlich abschaffen wollen – was viele zB von den fundamentalistischen Moslems auch offen sagen und andere vermutlich denken.

So leben wir zusammen, in diesem Staat, und eigentlich wäre es doch ganz einfach. Die Juden haben die Araber nicht vertrieben, wie die Araber ihre jüdischen Bevölkerungen vertrieben haben. Der jüdische Staat läßt eine Minderheit nicht nur zu, sondern hat ihr von seiner Geburtsstunde an gleiche demokratische Rechte gegeben. Daran ändert auch Diskriminierung nichts – eine Diskriminierung, über die auch Juden aus arabischen Ländern in Israel oft geklagt haben, Stichwort ashkenazische Elite…

Wenn wir nicht begreifen, daß wir dieselben Interessen und Belange haben, weil wir nun mal in diesem Boot sitzen und Sturm und Wellengang gemeinsam mitmachen, dann sind wir irgendwann nur noch damit beschäftigt, die Pumpe zu bemannen. Ich habe die ganze Fahrt darüber nachgedacht, was jetzt vielleicht noch zu retten wäre. Welche unangenehmen Wahrheiten über sich selbst jede Seite mal einsehen müßte.

Und dann habe ich vorhin beim Zeitunglesen diesen Artikel gefunden.

In keinem einzigen arabischen Land lebt ein Palästinenser so gut wie sie [die Palästinenser in Israel]. Ich will nicht sagen, dass alles vollkommen ist. Das ist es natürlich nicht, aber wenn Sie vergleichen, dann muss man es einfach zugeben: In keinem anderem arabischen Staat haben die Palästinensern so viele Rechte wie in Israel. Selbst jetzt in der Gaza-Krise: Es herrscht Meinungsfreiheit; die Palästinenser können wählen. Zwei palästinensische Parteien wurden im Vorfeld der Wahlen verboten. Das israelische oberste Gericht hat diese Verbote aufgehoben. Das gibt es in keinem arabischen Staat – nicht in Ägypten, nicht im Libanon, nirgends.

Wer sagt das? Ein konservativer israelischer Politiker? Ein amerikanischer pro-israelischer Christ? Ein Blogger aus meiner Blogroll? Mitnichten.

Es ist der Iraker Nadjem Wali, der Israel bereist hat und darüber ein Buch geschrieben hat.

Ich schreibe schon seit einiger Zeit regelmäßig Kolumnen für „al-Hayat“, der größten arabische Zeitung. Immer wenn es zu Selbstmordattentaten kam, habe ich diese verurteilt. Das hat mir in bestimmten Kreisen nicht gerade Freunde gemacht. Ich gehöre zu einer kleinen Gruppe von arabischen Schriftstellern, die offen wagt, diese Gewalt zu verdammen. Mit diesem Buch habe ich noch mehr gewagt: Ich bin nach Israel gereist. Dieser Reisebericht ist einmalig in der Geschichte der arabischen Literatur. Denn von Israel, unserem Hauptfeind, haben wir nur ein offizielles Bild und dagegen schreibe ich an.

[…]

Ich gelte als Verräter. Das kann vor allem für meine Familie im Irak gefährlich werden. Übrigens habe ich auch einige deutsche Freunde verloren, die es nicht akzeptieren konnten, dass ich ihren Vorurteilen widerspreche.

Oh ja, das kann ich mir irgendwie total gut vorstellen. Ich hab auch ein paar Freunde verloren!

Weiter. Es liest sich sehr, sehr interessant.

In den arabischen Gesellschaften gibt es einen Kodex. Danach spielt das Individuum keine Rolle. Dieser Kodex gilt natürlich auch in der Politik. Im arabischen Selbstverständnis gibt es einen gemeinsamen Feind; der heißt Israel. Gegen diesen Feind darf man nicht aus der Reihe tanzen. Freilich ist in meinem Fall auch Neid dabei. Ich kenne viele Kollegen, die mir sagen: „Ich wäre auch gern gefahren“. Aber sie haben sich nicht getraut. Individualität ist im arabischen Raum nicht gern gesehen, vor allem, wenn man wie ich das offizielle Feindbild nicht mittrage. Ich habe den Israeli, unseren Feind, als einen Menschen beschrieben. Dieser Feind hat Angst wie wir. Er ist uns in vielem ähnlich. Wir sitzen mit ihm am Tisch der Verzweiflung. All das soll im offiziellen Bild von Israel nicht auftauchen.

Wenn ich das gesagt hätte, würde der wohlmeinend kritische Leser sagen: ach, wie sie generalisiert! wie ihre Vorurteile gegen Araber wieder durchkommen! Aber ich glaube,  Wali ist unverdächtig. Individualität und eigenständiges Kritisieren als wahr akzeptierter Propagandalügen sind tatsächlich in der arabischen Welt unerwünscht, wohl noch unerwünschter als überall sonst. Denn gegen den Strom schwimmen ist überall schwer.

Dann erzählt er Dinge, die ich schlicht nicht wußte, über den Irak.

Die Iraker fühlen sich schon seit Jahren von den arabischen Brüdern im Stich gelassen. Und was die Palästinenser betrifft, so sind die Iraker auf die Palästinenser auch durch deren Zusammenarbeit mit Saddam Hussein nicht gut zu sprechen. Darüber hinaus dürfen Sie nicht die lange jüdische Geschichte im Irak vergessen. Diese gemeinsame Geschichte hat dazu geführt, dass viele Iraker sich fragen: „Warum soll Israel unser Feind sein?“ Es gibt Hass auf Israel bei den alten Saddam-Leuten, bei alten Baathisten, den Islamiten, den al-Sadr-Leuten, den radikalen Schiiten. Doch die Mehrheit der Bevölkerung, besonders im Süden, hat mehr Sympathie für die Israelis als für die Palästinenser. Es gibt beispielsweise einen irakischen Abgeordneter, der kürzlich zum zweiten Mal in Israel war. Daraufhin hat ihn die Mehrheit des irakischen Parlamentes ausgeschlossen. Er hat sich wieder eingeklagt mit Hilfe des obersten Gerichtes. Nun bei den jüngsten Wahlen ist er mit einer größeren Mehrheit als beim letzten Mal wiedergewählt worden.

Daß es im Irak Menschen gibt, denen Israel näher steht als die Palästinenser, das wußte ich wirklich nicht.

Und wenn er über das Palästinenserproblem spricht, dann könnte ich es sein, die das geschrieben hat. Kommt es vielleicht jemandem bekannt vor?

Es ist so schön leicht für die arabischen Regierungen zu sagen: „Tut uns leid, eine Demokratie kann es erst geben, wenn der Palästina-Konflikt gelöst ist. Armut? Ja die gibt es, aber wir brauchen das Geld für die Armeen, die Palästina befreien müssen.“ Und das hört man bei jedem Problem. Wir werden mit Palästina erpresst.

[…]

In den arabischen Ländern löst man das palästinensische Flüchtlingsproblem bewusst nicht, damit – so die offizielle Begründung – die Palästinenser nicht ihre Identität verlieren. Wenn wir sie wie gleichberechtigte Bürger behandeln, dann werden sie ihre Identität vergessen. Deshalb bekommen die meisten von ihnen keinen Pass und kein Ausweis. Sie müssen weiter in Lagern leben, bis Palästina befreit wird. Die Palästinenser in Israel haben viel mehr Freiheiten und Rechte als die Palästinenser in arabischen Staaten. Ich war in Haifa und habe dort lange mit den Palästinensern gesprochen. Sie sind freie Bürger. Sie haben ihre Volksvertreter im israelischen Parlament. In den arabischen Ländern haben die Palästinenser nur eine Rolle: Sie werden als fünfte Kolonne gegen die Einheimischen eingesetzt.

Und so aufmerksam, wie wir Wali zuhören, wenn er die arabische Seite kritisiert, so offen müssen wir auch sein, wenn wir darüber sprechen, warum Araber sich im Staat unerwünscht und fremd fühlen, und warum die Eltern des neulich an der Grenze zu Gaza getöteten beduinischen Soldaten den Namen ihres Sohnes nicht genannt haben wollten – sie hatten Angst vor dem Zorn der Nachbarn. So unbeliebt ist der Dienst in der israelischen Armee bei Beduinen schon geworden. Und das sollen allein die Beduinen Schuld sein? Ganz bestimmt nicht.

Kommentare»

1. aholewik - Februar 7, 2009, 19:09

Da hat der Herr ja offensichtlich mal Hirn vom Himmel geschmissen

2. Marlin - Februar 7, 2009, 19:09

Cooler Typ.

Sehr interessant. Muss nur mehr davon geben.

3. eran - Februar 7, 2009, 19:47

Tat gut zu lesen. Und war gleichzeitig auch traurig.

Weil Menschen wie Nadjem Wali nur eine extreme Ausnahme in der arabische Welt ist.

Ich bete, dass er für diese offene Einstellung nicht noch mehr bezahlen muss, als er es schon tut…

4. oskopia - Februar 7, 2009, 22:49

„Oh ja, das kann ich mir irgendwie total gut vorstellen.“
🙂
Es ist schon irgendwie schade, daß Du das damit so total gut formuliert hast.

Dein Blog hilft vielleicht viel. Mir hat er jedenfalls geholfen.

(Ich hab meinen Browser neu installiert, ich weiß gar nicht, wie ich vorher bei Dir angemeldet war, ich bin die sich zu Weihnachten von Dir inspiriert „Vom Winde verweht“ … – ah, dadurch kann ich ja meine Identität finden – und jetzt weiß ich auch, wie ich mitkriege, wenn Kommentare zu einem Posting eingehen. IT – Schwere Sach.)

Es ist tatsächlich so, daß die Berichterstattung in den deutschen Medien sehr einseitig ist. Ich habe allerdings den Eindruck, daß nach dem Rückzug der Armee aus dem Gazastreifen nun deutlicher davon berichtet wird, wie Raketenangriffe vom Gazastreifen aus den Waffenstillstand brechen. Auf jeden Fall, Zeitungen die KONSERVATIV waren, als ich jung war (FAZ – ich hab mich Mitte zwanzig geniert zuzugeben, daß ich die abonniert hatte) schreiben meistens den gleichen Tenor und oft gleich unjournalistisch wie SpOn. Ich hab nichts dagegen, wenn ein Artikel eine andere Meinung vertritt, als ich habe – aber wenn er manipuliert, das finde ich höchst unprofessionell.

Zurück zu Deinem Blog. Du kannst Dir vielleicht vorstellen, wie schwierig es ist, von der Mainstream Meinung kommend, zu lernen, zu begreifen, daß eine „Befreiungsorganisation“ (Befreiungsorganisationen sind immer gut, wenn man jung ist – und auch wenn man alt ist, ist es ein gutes Wort) ihre eigenen Leute, nein, nicht mal die, sondern einfach irgendwelche Leute ihres eigenen armen geknechteten eingesperrten Volkes als Schachfiguren benutzt. Ich brauchte wirklich lange, bis mir klar wurde, daß das bewußt und standardmäßig gemacht wird, daß das Taktik ist. Das ist für mein Denken ein unbegreiflicher Vorgang.

Und Du informierst darüber im guten Sinne unaufgeregt. Nicht unbeteiligt – wie könntest Du mit den Kindern.

Dafür möchte ich Dir danken.

Liebe Grüße
Monika

5. David Harnasch - Februar 7, 2009, 23:31
6. Netzklempnerin - Februar 8, 2009, 9:47

Menschen wie Nadjem Wali machen Hoffnung.
Hoffentlich kriegt dieser kluge Mann keinen Ärger.

7. Flowerkraut - Februar 8, 2009, 15:04

Nadjem Wali ist in der deutschen Medienwelt spätestens seit dem Irakkrieg kein völlig Unbekannter. Sein Buch möchte er auch auf arabisch verlegen lassen, obwohl es da noch große Problem gibt (mögliche Boykotts der Verleger usw.) zur Not soll es im Internet auf arabisch erscheinen, evtl. als Blog.

8. arabrabenna - Februar 8, 2009, 20:14

Danke für diesen Artikel, habe mir das Interview komplett durchgelesen. Werde mir das Buch zulegen. Vielleicht glauben einem dann gewisse Leute eher.

9. kaltmamsell - Februar 9, 2009, 11:43

Das Auslandsjournal hat gestern Abend in der ARD einen Bericht zu genau diesem Thema gebracht – und mit genau diesem Tenor. Ich nehme in den vergangenen Monaten tatsächlich eine Veränderung der deutschen Berichterstattung wahr.

10. Frau Singsang - Februar 9, 2009, 19:29

Liebe Lila,

gerade gestern Abend kam im Weltspiegel ein Bericht über die Wahlen in Israel und das die arabischen Israelis völlig frustriert sind und mancherorts z.B. in Nazareth eine regelrechte Re-Islamisierung stattfindt.

Ich fand es sehr interessant und musste an Dich denken und was Du wohl dazu sagen würdest ;-).

Falls Interesse bestehtDen Bericht kann man hier anschauen: http://www.daserste.de/weltspiegel/ (Sendung vom 08.02.09).

Viele Grüße
Frau Singsang

11. zimtapfel - Februar 9, 2009, 21:54

Ich glaube, dieses Buch werden dieses Jahr einige meiner Verwandten zu Ostern, zum Geburtstag oder zu Weihnachten bekommen.
Danke für den Tipp! 🙂

(Und ich hoffe wirklich sehr, das es auch auf arabisch erscheint!)

12. grenzgaenge - Februar 10, 2009, 14:04

interessanter beitrag von clemens vergin.

http://www.internationalepolitik.de/archiv/jahrgang-2009/februar2009/der-krieg-in-gaza.html

(…)

„Kein Konflikt beschäftigt Politiker schon so lange, keiner lässt die Emotionen in der Öffentlichkeit so hochkochen, wie die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern. An mehr oder minder guten Ratschlägen fehlt es selten. An dezidierten Meinungen ebenso wenig. Doch sind sie auch begründet?“

(…)

13. Joel - März 15, 2009, 20:40

Klasse Artikel und eine gute Empfehlung !


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