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Neuanfänge im Alten Oktober 28, 2019, 22:26

Posted by Lila in Kunst, Persönliches.
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Ein neues akademisches Jahr hat angefangen, ich habe weniger Arbeitslast als früher, dafür einige neue Projekte und Ideen. Die erste Woche ist immer wunderbar intensiv, und meine Arbeit macht mir nach wie vor riesigen Spaß. Eine Idee kommt immer zuerst – dann muß die Idee entwickelt werden, ich pflüge mich durch Berge von Gedanken anderer, immer froh, wenn ich sehe, daß meine Idee so noch nicht herumschwebt, aber viele andere, an denen ich mich reiben und von denen ich mich inspirieren lassen kann. Daraus einen Vortrag machen, den dann auch irgendwie rüberbringen, so daß andere mitvollziehen können, was ich mir gedacht habe – die Chemie mit dem Publikum ist nie berechenbar, immer überraschend. Inzwischen unterrichte ich seit über 20 Jahren und sitze wie ein sehr zufriedener Drache auf einer Schatzkiste von gespeicherten Vorträgen zu allen möglichen Themen.

Seit ich mich aus dem akademischen Gewächshaus in die freie Landschaft hinausbegeben habe, fröne ich meiner Lust am Fachübergreifenden, Epochenübergreifenden, und mache mehr oder weniger, was ich will. Ich habe meine Schwerpunkte, aber ich scheue mich nicht, über die Venus von Milo genauso selbstbewußt zu reden wie über Antonis Lick and Lather. Daß ich so verrückt kreuz und quer studiert habe, hilft mir heute. Daß ich geologische Schichten von Obsessionen zu den verschiedensten Themen im Gedächtnis trage, von römischen Familienstrukturen über den niederländischen Befreiungskrieg bis zum viktorianischen Umgang mit dem Tod, hilft mir noch viel mehr.

Ich arbeite immer aus dem Vollen, koche immer den ganzen Topf, auch wenn ich nur einen Löffel Suppe serviere, anders geht es nicht. Manchmal bedaure ich, wenn ich mal gerade eine meiner Meinung nach glääänzende Idee habe, daß die nur in meinen Unterricht, meine Vorträge einfließen wird, aber ich nicht das Zeug dazu habe, daraus etwas Bleibenderes zu bauen. Ich bin gewissermaßen eine Textilwerkerin, die aus vergänglichem Stoff etwas erschafft, das beim Erschaffen glücklicher macht als beim Ansehen, und daß längst zerfallen sein wird, wenn anderleuts Urenkel noch deren steinerne Arbeiten bewundern werden.

Die besten Einfälle kommen mir beim Sprechen, nie am Schreibtisch. Ich plane auch nie genau, was ich sagen werde. Ich habe den Kopf voll mit Ideen, meine Vorträge bestehen ganz klassisch nur aus Bildern, und ich verlasse mich ganz darauf, daß mir schon einfallen wird, was ich sagen will. Der Vortrag muß visuell stimmen, die Bilder müssen am rechten Platz sein, und ich muß meine Ideen dazu schön ordentlich im Kopf haben bzw in Stichpunkten unter den Dias (ich benutze immer noch Powerpoint, ohne Schnörkel, einfacher schwarzer Bildhintergrund, so wenig Text wie nur möglich, eigentlich so wie die klassischen Diavorträge, die ich als Studentin noch erlebt habe).

Erst habe ich viel zu viele Dias, und dann sortiere ich sie langsam aus, bis ich am Ende genau  habe, was ich brauche.

Am Ende dann – archivieren und zum nächsten Thema übergehen. Aber vorher gebe ich mir immer selbst ein Feedback und schreibe mir unter das erste Dia genau, was an dem Vortrag gut war, was nicht, wie das Publikum reagiert hat, wo ich kürzen muß, wo Fragen kamen, wo ich nicht gut genug vorbereitet war usw. Wenn ich dann das nächste Mal das Thema beackere, habe ich einen Ausgangspunkt und kann die Fehler ausbessern.

Da man als Lehrperson selten gründliches Feedback im Anschluß an einen Vortrag erhält („kommt das in der Prüfung vor?“ „und zu welcher Kunstrichtung gehört das nun?“ „wie du das alles im Kopf behältst!“ „was für ein Akzent ist das denn – bist du Holländerin?“ waren über die Jahre weg die häufigsten Reaktionen), muß ich es mir eben selbst geben. Das ist eine der besten Früchte aus meinem Lehramtsstudium, da haben wir das nämlich gelernt – Instrumente zur beruflichen Weiterentwicklung. Dazu dann noch das Feedback am Ende des Semesters, und eigentlich müßte man längst perfekt sein, ist es natürlich trotzdem nicht. Manchmal funktioniert es nicht mit einem Publikum, obwohl ich das Thema liebe und in meinen Vortrag gelockt habe wie einen scheuen Paradiesvogel, an dem mein Herz hängt.

Es ist nicht einfach, sich als frei arbeitende Kunsthistorikerin durchzuschlagen, aber trotzdem bin ich froh, daß sich mein Leben dahin entwickelt hat. Im Moment interessiert mich nichts anderes, als meine neuen Kurse in Gang zu kriegen und ein paar neue Ideen und die Stapel von Büchern um mich herum und die JStor-Artikel auf dem Computer gründlich zu lesen und zu verwursten, was verwurstbar ist. Bilder, Bilder, Bilder in meinem Kopf. Ich träume oft von den Sachen, die ich gerade bearbeite, doch leider vergesse ich beim Aufstehen wieder die genialen Theorien, die mir im Schlaf so unvergesslich vorkamen.

Die Welt um mich herum ist unruhig, und wenn ich in die Zeitungen gucke, graust mir. Der Iran kann uns möglicherweise jederzeit angreifen, eine Regierung haben wir immer noch nicht, und Bibi scheint nicht willig oder fähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich aus dem politischen Leben zu verabschieden, bis er seine Prozesse  hinter sich hat. Welche Auswirkungen al Baghdadis Tod haben wird, wissen wir noch nicht, und die Wahlergebnisse aus Thüringen klingen für meine weit entfernten Ohren nicht gut – AfD und Linke als stärkste Parteien… ich möchte nicht aus der Ferne analysieren, und beide Parteien sind zugelassen. Wenn ich Vertrauen in die deutsche Demokratie habe, dann muß ich mich auch darauf verlassen können, daß die Zulassung dieser Parteien den Nachweis ihrer Demokratiefähigkeit bedeutet. Ich möchte sehr hoffen, daß deutsche Parlamente nicht von Anti-Demokraten besetzt werden. Aber daß ich solche Nachrichten mit heiterem Lächeln lese, kann ich nicht behaupten.

Trotzdem habe ich im Moment den Kopf woanders, und bis sich meine Woche ein bißchen „setzt“, wird das auch so bleiben.

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