Jedes Jahr… September 1, 2014, 9:19
Posted by Lila in Kinder, Land und Leute, Persönliches.trackback
… ein großer Tag. Am 1. September fängt die Schule wieder an. Ich kann mich nicht erinnern, ob das in Deutschland jedes Jahr so zelebriert wird – hier fangen am 1. September alle Nachrichtensendungen mit ausführlichen Berichten an (die Zeitungen auch), und jeder Politiker, der auf sich hält, muß irgendwo mit i-Dötzchen abgelichtet werden. Manchmal gibt es Aufregung, weil die Lehrer streiken. Ich werde nie vergessen, wie enttäuscht mein Secundus war, weil sein erster Schultag durch einen Lehrerstreik immer wieder rausgeschoben wurde. Da Lehrer hier sehr wenig verdienen (ich kann ein Lied davon singen) und immer weniger Lehrer gesicherte Arbeitsplätze haben, ist ihr Protest verständlich, aber er geht natürlich auf Kosten der Schwächsten, d.h., der Kinder.
Dieses Jahr war natürlich die große Frage, ob und wie man die Schule normal anfangen soll, wenn ein Großteil der Schulkinder auf dem Schulweg, aber auch in der Schule selbst der Gefahr von Raketen- und Mörserangriffen ausgesetzt ist. Auch die besten Schutzräume nützen nichts, wenn Hunderte von Kindern nur Sekunden haben, um sie zu erreichen – von der Fahrt im Schulbus ganz zu schweigen.
Man muß dazu wissen, daß die Hamas ihre Raketensalven in den letzten Jahren gern zwischen sieben und acht Uhr morgens abgefeuert hat, wenn sie wußte, daß Schulkinder unterwegs sind. Und die gelben Schulbusse waren schon oft Ziel von Anschlägen.
Nun, die Waffenruhe hat dieses Problem (vorerst?) gelöst. Die Bedeutung des 1. September und Präsenz der Frage „Schule oder nicht? wo und wie?“, die im Juli und August überall zu hören war, war auch für die Regierung groß. Hätte das Schuljahr nicht normal begonnen, wäre das wie ein Eingeständnis der Regierung gewesen, daß sie es nicht schafft, normales Leben in Israel zu ermöglichen. Aber nicht nur für Netanyahu, sondern für alle Israelis ist „Normalität“ ein hohes Gut. (Was ist Normalität? Was wir in Deutschland „normales Leben“ nennen würden, kennt man hier eigentlich nicht – aber israelische Normalität ist im Normalfall normal genug, damit sich Menschen normal entwickeln können…) Nach jedem Anschlag, nach jedem Krieg werden schnell und effizient Spuren beseitigt und Normalität wiederhergestellt.
So also auch jetzt. Der Bildungsminister, selbst Lehrer, Lehrerssohn und in Bildungsfragen kompetent und selbstbewußt, hat für die ersten zwei Wochen weniger Lernen und mehr Verarbeitung des Erlebten angekündigt. Die Lehrer sollen mit den Kindern die traumatischen Wochen des Kriegs, der ja fast ganz Israel betroffen hat, zum Thema machen. (Im Süden wächst ja eine Generation auf, die ein Leben ohne Raketen nicht kennt – DAS wäre doch mal ein Thema für einen Artikel in einer deutschen Zeitung…) Danach wird normal weitergelernt, in der Hoffnung, daß der Konflikt nicht noch einmal aufflammt.
Die enormen Kosten des Kriegs werden durch strike Budget-Kürzungen rausgeholt, und es wird wohl ein paar Jahre dauern, bis sich der Staat davon erholt hat. Der Streit „Steuern erhöhen oder nicht“ tobt in allen Medien – die einen sagen, irgendwoher muß das Geld ja kommen, die anderen sagen, wenn der Verbraucher noch mehr belastet wird, bricht er zusammen und ohne Kaufkraft der Verbraucher macht die Wirtschaft zu. Wenn Steuererhöhungen kommen, wen werden sie treffen? Na, uns natürlich, die ächzende Mittelschicht, die ihren Strom-, Wasser- und Mietkosten hinterherhechelt. Gehaltserhöhungen wird es nicht geben, denn auch die Betriebe sind betroffen – unter anderem sind internationale Kunden aus Empörung abgesprungen, oder internationale Partnerschaften sind auf Eis gelegt. Ich glaube nicht, daß Netanyahu die wirklich Reichen zur Kasse bitten wird.
Es kommen also schwierige Zeiten auf die Familien zu, und für die Kinder bedeutet es: weniger Ausflüge, weniger zusätzliche Aktivitäten, weniger Förderung, weniger Unterstützung für Hort und Betreuung. Der Bildungsminister hat viele Ideen, die meisten davon werden erstmal in die Schublade wandern. Da in den letzten Jahren das Bildungssystem für jeden neuen Minister eine Art Experimentierfeld war, hat es vielleicht sogar gute Seiten, daß einige Ideen noch etwas länger simmern werden, bevor sie umgesetzt werden.
Ich weiß von Kollegen, daß der Minister seine Betonung des Themas „sinnvolles Lernen“ ernst meint. Was für eine Erleichterung nach all den fachfremden, eher aus der Wirtschaft kommenden Bildungsministern, die dem Fetisch Quantifizierung, Tests und dauernde Überprüfung abfragbaren Wissens hinterherliefen, so daß die Schüler praktisch nur noch auf Tests hin lernten. Das hat ein Ende, auch wenn viele Leute nicht verstehen warum und Angst haben, ohne ständige Überprüfung in Form von Multiple-Choice-Tests würden Kinder gar nichts lernen. Je mehr diese Tests eingerissen sind, desto weniger haben die Kinder gelernt, ist mein persönlicher Verdacht. „Sinnvolles Lernen“ bedeutet in erster Linie, daß man versteht, warum man lernt, und dann erst, was man lernt. Und Zusammenhänge kann man sowieso nicht in Tests abfragen, die brauchen auch manchmal Zeit, bis sie einem dämmern.
Quarta fängt heute die Oberstufe an – ihre letzten drei Jahre Schule. Für die Großen ist die Schule längst Vergangenheit. Ich hoffe, sie hat weiterhin Spaß an der Schule, auch wenn ihre Schule in vielem nicht mit der Kibbuz-Schule mithalten kann. Sie lernt gut und leicht und natürlich ist für sie Schule in erster Hinsicht Treffpunkt mit den Freundinnen… so ist das in dem Alter. Aber sie hat mit ihren Freundinnen auch den Sommer über fleißig Hausaufgaben gemacht und ist heute früh ganz vergnügt losgezogen. Die neue Klassenlehrerin ist nach Quartas Eindruck sehr nett, und die Klasse wird neu zusammengesetzt beim Übergang in die Oberstufe, je nach Schwerpunkten. Quarta hat Naturwissenschaften als Schwerpunkt gewählt. Es wird also viel Neues geben.
In Israel gibt es keine Schultüten, obwohl ich für meine natürlich bei der Einschulung welche gebastelt habe. Ich erinnere mich noch gut an die Schultüten für Primus´ ersten Schultag – eine große für ihn, zwei kleine für die kleinen Geschwister. Lang ist´s her. Aber ich bin froh, daß ich noch drei Jahre lang eine Schülerin zuhause habe. Es ist ein schöner Abschnitt im Leben, zumindest für mich als Mutter.
In Deutschland wird Schulanfang wohl schon deshalb nicht so zelebriert, weil er jedes Jahr und in jedem Bundesland an einem anderen Tag stattfindet.
Wenn ich nicht noch dieses Foto davon hätte: http://andreasmoser.wordpress.com/2013/08/05/my-first-day-at-school/ , hätte ich es selbst schon vergessen. (Vorsicht: sehr süß!)
Hallo Lila,
das hat mich auf eine Idee gebracht.
>(Im Süden wächst ja eine Generation auf, die ein Leben ohne Raketen nicht kennt – DAS wäre doch mal ein Thema für einen Artikel in einer deutschen Zeitung…) <
Wie wäre es denn, wenn Du diesen Artikel schreiben würdest? Eventuell gemeinsam mit Ruth, wenn Du es nicht alleine machen möchtest.
Dann schicke es an eine deutsche Tageszeitung, z.B. den Tagesspiegel in Berlin. Kann sein, das sie es veröffentlichen. Wenn nicht, dann biete es der "Achse des Guten" an.
Herzlich, Paul
DAs Wort i-Dötzchen mußte ich googeln-hier lernt man in vielen Beziehungen 😉
Eine konkrete Anfrage – es geht auch um gute Traditionen: Ein befreundeter Komponist interessiert sich für israelische Volksmusik und, zusätzlich, für weitere identitätsstiftende populäre Musik in Israel. Ein paar Hinweise, mit konkreten Youtube Einträgen mit Musikbeispielen, wären prima.
Eine Zusatzfrage: Wer wäre ein konkreter Ansprechpartner hierfür? (Oder, Lila, könntest Du aus der Anfrage nen eigenen Blogbeitrag machen, damit konkret zu dieser Anfrage konkrete Vorschläge und Links gepostet werden können?
Danke!